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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 09.06.2005
Aktenzeichen: 12 BV 03.1971
Rechtsgebiete: SGB VIII


Vorschriften:

SGB VIII § 42 Abs. 2
SGB VIII § 86 Abs. 1
SGB VIII § 86 Abs. 4
SGB VIII § 89
SGB VIII § 89 b Abs. 1
SGB VIII § 89 b Abs. 2
SGB VIII § 89 e Abs. 1
SGB VIII § 89 e Abs. 2
SGB VIII § 89 f Abs. 1
Der überörtliche Träger der Jugendhilfe ist zur Erstattung der Kosten verpflichtet, die einem örtlichen Jugendhilfeträger durch die Inobhutnahme eines neugeborenen Kindes im Anschluss an eine "anonyme Geburt" entstehen
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

12 BV 03.1971

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Kinder- und Jugendhilferechts;

hier: Berufung der Beteiligten gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 26. Juni 2003,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Werner, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dhom, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Grau

aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 8. Juni 2005

am 9. Juni 2005

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Der Vertreter des öffentlichen Interesses trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Verurteilung des Beklagten, Kosten in Höhe von 1.529,40 Euro zu erstatten, die ihm durch die Inobhutnahme des am 7. April 2001 im Krankenhaus St. A. in S.-R. anonym geborenen Kindes und die für dieses Kind geleistete Hilfe zur Erziehung entstanden sind.

1. Der Kläger ist Träger des St. A.-Krankenhauses in S.-R., in dem die Möglichkeit der anonymen Entbindung angeboten wird. Die Wahrnehmung damit in Zusammenhang stehender Aufgaben des Jugendamtes, insbesondere die Inobhutnahme der anonym geborenen oder übergebenen Kinder, hat der Kläger durch Vertrag vom 25. Juli 1999 dem Sozialdienst katholischer Frauen e.V. in A. (Sozialdienst) im Rahmen des Modellprojekts "Moses" übertragen.

Mit Schreiben vom 9. April 2001 teilte das Krankenhaus dem Kreisjugendamt mit, dass am 7. April 2001 eine anonyme Entbindung stattgefunden habe. Die Patientin habe an diesem Tag um 12.00 Uhr das Krankenhaus aufgesucht und die Angabe ihrer Personalien verweigert. Das um 17.00 Uhr geborene Kind sei in die Obhut des Projekts Moses gegeben worden. Die Mutter habe das Krankenhaus bereits wieder verlassen.

Am 9. April 2001 wurde der Sozialdienst zum Vormund des Kindes bestellt. Am 12. April 2001 wurde das Kind aus dem Krankenhaus entlassen und in einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht.

Der Sozialdienst führte in seiner Stellungnahme vom 13. Juni 2001 an das Jugendamt des Klägers aus, die Identität der jungen Mutter sei bei den vor und nach der Entbindung geführten Gesprächen nicht festzustellen gewesen. Sie habe angegeben, aus Enttäuschung über das Verhalten des Kindsvaters an Selbstmord gedacht zu haben, weil dieser nach Eintritt der Schwangerschaft nichts mehr von ihr habe wissen wollen. Ihre Eltern hätten von der Schwangerschaft nichts gewusst und dürften davon auch nichts erfahren. Nachdem ihr durch eine Fernsehsendung die Möglichkeit der anonymen Entbindung bekannt geworden sei, habe sie sich zu diesem Schritt entschlossen. Sie habe bereits am 8. April 2001 das Krankenhaus wieder verlassen und sich geweigert, Unterlagen über die Geburt mitzunehmen.

Mit Schreiben vom 19. April 2001 bat der Kläger den Beklagten, gemäß § 89 b StGB VIII die Kosten der Jugendhilfe zu übernehmen. Der Beklagte lehnte die Übernahme der Kosten mit Schreiben vom 17. Mai 2001 ab. Die Voraussetzungen des § 89 b Abs. 2 SGB VIII für eine Kostenerstattung durch den überörtlichen Träger seien nicht erfüllt, weil bei der anonymen Entbindung von der Möglichkeit, den gewöhnlichen Aufenthalt der Mutter festzustellen, kein Gebrauch gemacht worden sei. Diese Feststellung hätte auch unter Wahrung der Anonymität getroffen werden können.

2. Am 28. Juni 2001 erhob der Kläger beim Verwaltungsgericht Regensburg Klage mit dem Antrag, den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger die durch die Inobhutnahme des am 7. April 2001 im Krankenhaus St. A. in S.-R. anonym geborenen Kindes entstandenen Kosten in Höhe von 1.529,40 Euro zu erstatten. Es laufe den Zielsetzungen des Projekts Moses zuwider und sei auch praktisch nicht möglich gewesen, den gewöhnlichen Aufenthalt der Mutter festzustellen. Da somit ein kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger nicht vorhanden sei, habe letztlich der Beklagte als überörtlicher Träger gemäß § 89 b Abs. 2 SGB VIII die Kosten zu tragen. Diese setzten sich aus 436,31 Euro Krankenhauskosten nach der Geburt, 51,82 Euro für die am 9. April 2001 durchgeführte Vorsorgeuntersuchung, 89,76 Euro für ambulante Behandlungen in der Zeit vom 15. bis zum 23. April 2001 und 951,51 Euro Pflegegeld für die Zeit vom 12. April bis zum 5. Mai 2001 zusammen.

Der Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen. Nachdem der Kläger im Fall der anonymen Geburt den gewöhnlichen Aufenthalt der Mutter bewusst nicht feststelle, entspreche die Hilfeleistung insoweit nicht den Vorschriften des Sozialgesetzbuches Achtes Buch, weshalb gemäß § 89 f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII eine Kostenerstattung des Beklagten ausscheide. Die Leistungen des Klägers, zu denen er sich als Krankenhaus- und auch als Jugendhilfeträger im Rahmen des Projekts Moses verpflichtet habe, seien als freiwillige Leistungen anzusehen, für die es keine Kostenerstattung geben könne.

3. Mit Urteil vom 26. Juni 2003 verurteilte das Verwaltungsgericht Regensburg den Beklagten, dem Kläger die durch die Inobhutnahme des am 7. April 2001 im Krankenhaus St. A. in S.-R. anonym geborenen Kindes entstandenen Kosten in Höhe von 1.529,40 Euro zu erstatten. § 89 b Abs. 2 SGB VIII gelte auch für die Fälle, in denen ein anzunehmender gewöhnlicher Aufenthalt der Bezugsperson, hier der Mutter, trotz zumutbarer Anstrengungen des leistenden örtlichen Trägers nicht zu ermitteln sei. Dabei gingen unterlassene oder unzureichende Nachforschungen grundsätzlich zulasten des hilfegewährenden Trägers, führten also zur Ablehnung des Kostenerstattungsanspruchs. Dieser Grundsatz erfahre jedoch hier aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Ausnahme. Das Grundgesetz verpflichte in Art. 1 Abs. 1 den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. Die Rechtsordnung müsse die rechtlichen Voraussetzungen seiner Entfaltung im Sinne eines eigenen Lebensrechts des Ungeborenen gewährleisten. Dies erfordere Rahmenbedingungen, die positive Voraussetzungen für ein Handeln der Frau zugunsten des ungeborenen Lebens schaffen (vgl. BVerfGE 88, 203 f.). Dieser Zielsetzung entspreche das Angebot des Klägers zur anonymen Entbindung. Aufgrund verfassungskonformer Auslegung komme daher die sonst als Folge unzureichender Ermittlungen vorgesehene Sanktion hier nicht zur Anwendung.

Dem könne nicht entgegengehalten werden, der Schutzauftrag zugunsten des ungeborenen Lebens sei mit der Geburt des Kindes erfüllt, weshalb er einer Ermittlung der Identität der Mutter nach ihrer Entbindung nicht mehr entgegenstehen könne. Denn der Verfassungsauftrag beziehe sich sowohl auf das einzelne Leben wie auch auf das ungeborene Leben als abstraktes Rechtsgut. Das Angebot der anonymen Geburt könne für hilfesuchende schwangere Frauen nur dann Wirkung zeigen, wenn sie sich auf die Zusage der Anonymität wirklich verlassen könnten. Der gewöhnliche Aufenthalt lasse sich bei geheimer Identität nicht erfragen. Bereits eine derart beschränkte Preisgabe der Anonymität könne zu einer Verunsicherung der betreffenden Frauen führen und damit den Erfolg des Angebots in Frage stellen. Auch wäre aufgrund dieser Angabe allein eine den betreffenden örtlichen Träger bindende Feststellung nicht möglich.

Der Erstattungsanspruch scheitere nicht gemäß § 89 f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII daran, dass die Leistung "anonymer Hilfen" im Gesetz nicht vorgesehen sei. Dass nach derzeitiger Rechtslage die anonyme Geburt einen Verstoß gegen das Personenstandsgesetz darstelle, habe keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der anschließend erforderlichen Inobhutnahme des Kindes durch den Träger der Jugendhilfe. Insofern sei ein qualitativer Unterschied zur Inobhutnahme eines rechtswidrig ausgesetzten Findelkindes oder eines rechtmäßig in einer "Babyklappe" abgelegten Säuglings nicht zu sehen. In dem Angebot der anonymen Geburt durch den Kläger sei auch kein Verstoß gegen den aus § 89 f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII abgeleiteten "Interessenwahrungsgrundsatz" zu sehen. Zwar halte sich ein aufgrund dieses Angebots geborenes Kind nicht "zufällig" im Zuständigkeitsbereich des Klägers auf. Das könne indes bei Berücksichtigung der dargelegten verfassungsrechtlichen Erwägungen nicht zum Ausschluss des Erstattungsanspruchs führen. Dass sich der Kläger in dem mit dem Sozialdienst geschlossenen Vertrag zur Übernahme der Kosten der Inobhutnahme verpflichtet habe, bedeute keinen Verzicht auf den gesetzlichen Erstattungsanspruch gegen den Beklagten. Auch der Höhe nach sei die Erstattungsforderung des Klägers berechtigt.

4. Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung des Vertreters des öffentlichen Interesses. Er trägt vor, dass es nicht angängig sei, Art. 1 Abs. 1 GG heranzuziehen, um faktisch einen Vertrag zulasten eines Dritten schließen zu können. Der Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens werde nicht dadurch beeinträchtigt, dass angefallene Kosten anstelle vom Beklagten vom Kläger getragen würden. Nach dem geltenden Kinder- und Jugendhilferecht gingen unterlassene und unzureichende Nachforschungen grundsätzlich zulasten des hilfegewährenden Trägers.

Es bestehe auch wegen Verletzung einer gesetzlichen Anzeigepflicht kein Kostenerstattungsanspruch des Klägers, der seiner Rechtspflicht zur Ermittlung der Identität der Mutter nach den personenstandsrechtlichen Vorschriften nicht genügt habe. Nach § 18 Abs. 1 PStG sei der Leiter des Krankenhauses St. A. in S.-R. bzw. der von ihm ermächtigte Beamte oder Angestellte anzeigepflichtig gewesen. Zu den für die Beurkundung des Personenstandsfalles erforderlichen Angaben hätten unter anderem die persönlichen Daten der Mutter, auch ihr Wohn- bzw. Aufenthaltsort gehört. Bei einem Verstoß gegen die Anzeigepflicht liege eine Ordnungswidrigkeit nach § 68 PStG vor. Die Mitarbeiter des Sozialdienstes könnten sich nicht auf ihre Schweigepflicht im Rahmen der Schwangerenberatung berufen, die mit der Niederkunft ende. Die personenstandsrechtlichen Vorschriften sähen für diese Fälle keine Ausnahme vor.

Ein Kostenerstattungsanspruch bestehe auch deshalb nicht, weil die vorgenommene Inobhutnahme nicht den Vorschriften des Sozialgesetzbuches entsprochen habe (§ 89 f SGB VIII). Eine dringende Gefahr für das Wohl eines Kindes liege während eines Krankenhausaufenthalts nicht vor. Sie sei erst dann gegeben, wenn ein Krankenhausaufenthalt nicht mehr indiziert und die weitere Betreuung und Versorgung des Kindes durch einen Dritten sichergestellt werden müsse.

Der Vertreter des öffentlichen Interesses beantragt,

die Klage unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 26. Juni 2003 abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil.

Der Beklagte hat im Berufungsverfahren keinen Antrag gestellt.

5. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichts- und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

1. Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten jedenfalls im Ergebnis zu Recht verurteilt, die für das am 7. April 2001 im Krankenhaus St. A. in S.-R. anonym geborene Kind angefallenen Jugendhilfekosten in Höhe von 1.529,40 Euro dem Kläger zu erstatten.

1.1 Anspruchsgrundlage für die vom Kläger begehrte Kostenerstattung ist § 89 b Abs. 2 SGB VIII insoweit, als die durch die Inobhutnahme des anonym geborenen Kindes entstandenen Kosten geltend gemacht werden. Die Inobhutnahme der im Kreiskrankenhaus St. A. anonym geborenen Kinder hat der Kläger dem Sozialdienst durch den nach § 76 Abs. 1 SGB VIII geschlossenen Vertrag vom 25. Juli 1999 übertragen. Die Inobhutnahme begann im vorliegenden Fall damit, dass der Sozialdienst das anonym geborene Kind auf die Bitte seiner personensorgeberechtigten Mutter, die sich um die weitere Betreuung des Kindes nicht kümmern wollte, übernahm und im Kreiskrankenhaus vorläufig unterbrachte (§ 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII). Die Inobhutnahme endete spätestens mit der Entlassung des Kindes aus dem Krankenhaus am 12. April 2001, weil der am 9. April 2001 zum Vormund des Kindes bestellte Sozialdienst den mit der Inobhutnahme verbundenen Schutzauftrag durch die von ihm vorbereitete Unterbringung und Betreuung des Kindes in einer geeigneten Pflegefamilie erfüllte. Insofern ist der hier vorliegende Fall mit dem der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. August 2004 Az. 5 C 64/03 zugrunde liegenden Sachverhalt nicht vergleichbar.

Die Voraussetzungen des § 89 b Abs. 2 SGB VIII für einen Anspruch des Klägers gegen den Beklagten auf Erstattung der Kosten, die er nach § 4 des mit dem Sozialdienst geschlossenen Vertrages bis zum 12. April 2001 aufgewendet hat, liegen vor. Nach dieser Bestimmung sind die im Rahmen der Inobhutnahme von Kinder und Jugendlichen aufgewendeten Kosten, wenn ein kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger nicht vorhanden ist, von dem überörtlichen Träger zu erstatten, zu dessen Bereich der örtliche Träger gehört. Wer kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger im Sinn dieser Vorschrift ist, beurteilt sich nach § 89 b Abs. 1 SGB VIII. Danach sind im Rahmen der Inobhutnahme aufgewendete Kosten von dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach § 86 SGB VIII begründet wird. Damit knüpft § 89 b Abs. 1 SGB VIII an die die örtliche Zuständigkeit für Leistungen an Kinder, Jugendliche und ihre Eltern regelnde Vorschrift des § 86 SGB VIII nur insofern an, als diese die örtliche Zuständigkeit aufgrund eines gewöhnlichen Aufenthalts begründen würde. Das ist hier nicht der Fall. In Betracht kommt insoweit zunächst eine örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 SGB VIII, der den örtlichen Träger für zuständig erklärt, in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben bzw. die Mutter des Kindes, wenn und solange die Vaterschaft nicht anerkannt oder gerichtlich festgestellt ist. Der gewöhnliche Aufenthalt der Kindsmutter ist im vorliegenden Fall aber nicht bekannt, weil sie sich bei den mit ihr vor und nach der Geburt geführten Gesprächen strikt geweigert hat, ihre Identität preiszugeben. Für den somit vorliegenden Fall, dass ein gewöhnlicher Aufenthalt des maßgeblichen Elternteils im Inland nicht feststellbar ist, enthält § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII eine spezielle Regelung. Sie bestimmt, dass sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes und der Jugendlichen vor Beginn der Leistung richtet. Das anonym geborene Kind hatte vor Beginn der Inobhutnahme jedoch keinen gewöhnlichen Aufenthalt, weil nach den Umständen klar war, dass es sich in seinem Geburtskrankenhaus nur vorübergehend aufhalten würde (vgl. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I). Anwendbar wäre deshalb die Vorschrift des § 86 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII, die für den Fall, dass das Kind oder der Jugendliche während der letzten sechs Monate vor Beginn der Leistung keinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, die Zuständigkeit des örtlichen Trägers bestimmt, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Leistung tatsächlich aufhielt. Da diese Regelung die örtliche Zuständigkeit in Anknüpfung an den tatsächlichen Aufenthalt begründet, legt sie keinen kostenerstattungspflichtigen örtlichen Träger i.S. des § 89 b Abs. 1 und 2 SGB VIII fest.

Ein kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger ist daher auch dann i.S. des § 89 b Abs. 2 SGB VIII "nicht vorhanden", wenn er nicht ermittelbar ist. Das entspricht auch der Systematik der Kostenerstattungsvorschriften der §§ 89 ff. SGB VIII (vgl. Heilemann/Kunkel, LPK-SGB VIII, § 89b RdNr. 2). So bestimmt die Ausgangsvorschrift des § 89 SGB VIII, dass in den Fällen, in denen für die örtliche Zuständigkeit nach den §§ 86, 86 a oder 86 b SGB VIII der tatsächliche Aufenthalt maßgeblich ist, die Erstattungsverpflichtung den überörtlichen Träger trifft. Auch aus den Kostenerstattungsvorschriften der §§ 89 b Abs. 1, 89 c Abs. 1 Satz 2 und 89 e Abs. 1 SGB VIII geht hervor, dass die Kostenerstattungspflicht des örtlichen Trägers an die durch einen gewöhnlichen Aufenthalt begründete Zuständigkeit anknüpft. Daraus muss geschlossen werden, dass der überörtliche Träger immer dann zur Kostenerstattung verpflichtet ist, wenn für die Zuständigkeit nicht der gewöhnliche Aufenthalt, sondern der tatsächliche Aufenthalt maßgeblich ist. Das ist aber auch dann der Fall, wenn ein gewöhnlicher Aufenthalt zwar objektiv vorhanden, aber nicht konkret feststellbar ist, wie im vorliegenden Fall (vgl. § 86 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII). Schließlich ist es auch nicht einsichtig, bei einer einheitlichen Gesamtmaßnahme die Erstattungspflicht bezüglich der Teilmaßnahme "Inobhutnahme" anders zu regeln als bei der sich anschließenden Hilfe zur Erziehung (siehe nachstehend 1.2).

Der Kostenerstattungsanspruch des Klägers scheitert nicht daran, dass die Inobhutnahme des anonym geborenen Kindes nicht rechtmäßig gewesen wäre, weil sie nicht den Vorschriften des Achten Buches Sozialgesetzbuch entsprochen hätte (§ 89 f Abs. 1 SGB VIII). Die Inobhutnahme ist hier bereits nach § 42 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII rechtmäßig. Danach ist das Jugendamt verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet. An die Stelle des Jugendamts tritt im vorliegenden Fall der vom Kläger mit der Aufgabe der Inobhutnahme anonym geborener Kinder im Kreiskrankenhaus St. A. nach § 76 Abs. 1 SGB VIII beauftragte Sozialdienst. Die Bitte um Obhut hat das anonym geborene Kind hier durch seine Mutter an den Sozialdienst gerichtet. Die Mutter hat diese Bitte damit begründet, dass sie aufgrund ihrer Familiensituation auf keinen Fall mit dem Kind leben könne. Das genügt für eine Inobhutnahme nach § 42 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII, weil im Hinblick auf Sinn und Zweck der Vorschrift, einen möglichst effektiven und unkomplizierten Schutz des Kindes oder Jugendlichen in Konfliktsituationen herbeizuführen, die Zugangschwellen niedrig sein müssen (Wiesner, SGB VIII, 2. Aufl. 2000, § 42 RdNr. 21). Darüber hinaus liegen auch die Voraussetzungen des § 42 Abs. 3 SGB VIII für eine Inobhutnahme vor, weil die personensorgeberechtigte Mutter ihre Aufgaben gegenüber dem neugeborenen Kind nicht mehr wahrnahm.

Der Umstand, dass der Leiter des Kreiskrankenhauses St. A. bzw. die Krankenhausmitarbeiter gegen ihre sich aus §§ 16 ff. PStG ergebende Pflicht zur Anzeige der Geburt gegenüber dem Standesbeamten innerhalb einer Woche verstoßen haben, zieht nicht die Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme nach sich. Deren Rechtmäßigkeit beurteilt sich allein nach § 42 SGB VIII, der nicht verletzt wurde.

Der Kostenerstattungsforderung des Klägers gegen den Beklagten steht auch nicht das aus § 242 BGB abgeleitete Verbot unzulässiger Rechtsausübung entgegen (hierzu Palandt, BGB, 33. Aufl. 2004, § 242 RdNr. 38 ff.). Dass ein Landkreis die anonyme Geburt ermöglicht und deshalb kein kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger ermittelbar ist, macht das Kostenerstattungsverlangen nicht unzulässig. Die Möglichkeit der anonymen Geburt im Kreiskrankenhaus St. A. wurde vom Kläger nicht in seiner Eigenschaft als örtlicher Träger der Kinder- und Jugendhilfe, sondern als Krankenhausträger geschaffen und von den Aufsichtsbehörden bisher nicht beanstandet. Das Angebot der anonymen Geburt ist keine Jugendhilfemaßnahme des Klägers. Darüber hinaus spricht gegen diesen Einwand der in § 89 e Abs. 1 SGB VIII zum Ausdruck kommende Rechtsgedanke des sog. "Schutzes der Einrichtungsorte". Bezweckt wird damit, den örtlichen Träger der Jugendhilfe, in dessen Bereich sich eine der Erziehung, Pflege, Betreuung, Behandlung oder dem Strafvollzug dienende Einrichtung befindet, vor einer übermäßigen Kostenbelastung zu schützen, die aus der Anknüpfung seiner örtlichen Zuständigkeit aufgrund des Aufenthalts in dieser Einrichtung folgt (vgl. Wiesner, a.a.O., § 89 e RdNr. 1). Mittelbar schützt die Vorschrift damit auch potentielle Betreiber von Einrichtungen. Sie will verhindern, dass Errichtung und Betrieb einer Einrichtung wegen der Besorgnis unterbleiben, dass sie zu zusätzlichen finanziellen Belastungen des örtlichen Trägers durch ortsfremde Leistungsberechtigte führen könnten (Wiesner, a.a.O.).

Dieser Schutzzweck ist auch im vorliegenden Fall von Bedeutung, obwohl das anonym geborene Kind im Kreiskrankenhaus St. A. keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat und deshalb § 89 e Abs. 1 SGB VIII nicht erfüllt ist. Das Kreiskrankenhaus stellt nach der Inobhutnahme eine der Pflege, Betreuung und Behandlung des Kindes dienende Einrichtung dar, die insoweit überregionalen Charakter hat. Es entspricht deshalb dem in § 89 e SGB VIII zum Ausdruck kommenden Schutzgedanken, den überörtlichen Träger zur Kostenerstattung heranzuziehen.

1.2 Für die in der Zeit nach dem Ende der Inobhutnahme, d.h. vom 13. April 2001 bis 5. April 2001 vom Kläger aufgewendeten Kosten hat er gegen den Beklagten einen Kostenerstattungsanspruch nach § 89 SGB VIII. Dabei handelt es sich um die Kosten der in der Zeit vom 15. bis 23. April 2001 durchgeführten ambulanten Behandlungen des Kindes und das für die Zeit bis zum 5. Mai 2001 gezahlte Pflegegeld, die jeweils als Hilfe zur Pflege nach §§ 27, 33, 39 bzw. 40 SGB VIII an den zum Vormund bestellten und damit personensorgeberechtigten Sozialdienst geleistet wurden. Dass die Voraussetzungen des § 89 SGB VIII erfüllt sind, weil für die örtliche Zuständigkeit des Klägers nach § 86 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII der tatsächliche Aufenthalt des Kindes vor Beginn der Leistung maßgeblich ist, ist bereits oben unter 1.1 dargelegt worden. Nach alledem war die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 Halbsatz 1, § 194 Abs. 5 VwGO. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Entscheidung im Kostenpunkt nicht für vorläufig vollstreckbar erklärt, weil er davon ausgeht, dass der Kläger seine ohnehin nicht in nennenswerter Höhe angefallenen außergerichtlichen Kosten nicht vor Rechtskraft des Urteils zu vollstrecken beabsichtigt.

3. Die Revision war mangels Vorliegens der Voraussetzungen nicht zuzulassen (§ 132 Abs. 2 VwGO).

Ende der Entscheidung

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