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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 10.11.2005
Aktenzeichen: 12 BV 04.1638
Rechtsgebiete: SGB VIII, SGB XI


Vorschriften:

SGB VIII § 27
SGB VIII § 33
SGB VIII § 39 Abs. 1
SGB VIII § 39 Abs. 4
SGB XI § 37 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

12 BV 04.1638

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Kinder - und Jugendhilfe;

hier: Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 13. Mai 2004,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Werner, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dhom, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Grau

aufgrund mündlicher Verhandlung vom 9. November 2005

am 10. November 2005

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 13. Mai 2004 wird die Klage in vollem Umfang abgewiesen.

II. Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen trägt der Kläger. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Frage, ob dem Vater der am 18. Februar 1993 geborenen Stephanie (St.) D. für die Zeit vom 1. Januar 2003 bis 18. September 2003 ein erhöhtes Pflegegeld zuzuerkennen ist.

1. St. ist schwer behindert mit einem Grad von 100 und den Merkzeichen "G", "H" und "B". Sie unterfällt der Pflegestufe I. Seit 24. März 1997 leistet der Beklagte ihrem personensorgeberechtigten Vater, dem Kläger, Hilfe zur Erziehung gemäß § 33 SGB VIII in Form der Unterbringung in Vollzeitpflege bei den Eheleuten Z. Bis 31. Juli 2000 erhielten die Eheleute Z. pauschaliertes Pflegegeld in der jeweils geltenden Höhe. Mit Bescheid vom 30. November 2000 erkannte der Beklagte nach Würdigung des Pflegeaufwands ab 1. August 2000 einen Mehraufwand in Höhe von 30 % des pauschalierten Pflegegelds an.

Nachdem die Pflegeeltern im Januar 2003 einen erhöhten Mehraufwand geltend gemacht hatten, führte der Beklagte am 23. Januar 2003 einen Hausbesuch in der Pflegefamilie durch und schrieb den Hilfeplan fort. Aus ihm ergibt sich, dass St. nach Angaben der Pflegemutter von Geburt an schwer krank ist. Seit 8 Jahren lebe sie in der Pflegefamilie. Ihre Lebensgeschichte sei von ständigen und schweren Operationen begleitet. Im August 2002 sei ihr an der Universität I. die Milz entfernt und teilweise rücktransplantiert worden. St.'s gesundheitlicher Zustand sei immer noch labil. Im letzten Schuljahr habe sie von Juli bis Oktober 2002 gefehlt, sie besuche jetzt das P.-R.-M.-Zentrum, wo es ihr gut gefalle. Ihre schulischen Leistungen seien gut. St. sei in den Unikliniken jeweils psychotherapeutisch begleitet worden. Ein entsprechendes aktuelles Therapieangebot der AOK werde angenommen werden. Aus der Herkunftsfamilie stehe nur eine 25 Jahre alte Schwester der Pflegefamilie zur Seite. Die Geschwister hätten den Tod der Mutter nicht verwunden. Der Vater sei für die Pflegeeltern meist eine zusätzliche Belastung gewesen, es fänden fast nie Kontakte mit ihm statt.

Aufgrund des Hausbesuchs kam die Sozialpädagogin B. in der Stellungnahme vom 24. Januar 2003 zu dem Ergebnis, dass St. den Pflegeeltern in keiner Weise erzieherische Probleme bereite. Die gesundheitliche Situation fordere die Pflegeeltern in erhöhtem Maße, was durch die Pflegekasse abgedeckt sei. Durch ihre Krankheit sei St. extrem sensibel, durch die psychische Belastung seien die Pflegeeltern stärker gefordert als andere Pflegeeltern. In dem von B. erstellten Diagnostikbogen zur Bestimmung des Mehraufwands wurde ein Mehraufwand von 27 Punkten (richtig: 29) erreicht.

2. Am 11. Februar 2003 beantragten die Pflegeeltern für St. Leistungen für eine sonderpädagogische Vollzeitpflege mit besonderem Betreuungsaufwand in Höhe von 100 % des pauschalierten Pflegegeldes ab Januar 2003. Seit dem längeren Klinikaufenthalt im Herbst 2002 hätten sich die bereits bestehenden Phobien von St. deutlich verstärkt. Sie leide unter Schlafstörungen, Schlaflosigkeit, Angstzuständen, Albträumen und Enuresis nocturna. Der sonderpädagogische Pflegebedarf sei deutlich erhöht, so dass im Moment auch eine kinderpsychologische Betreuung habe beantragt werden müssen und ein Schulwechsel erforderlich geworden sei.

Seit 27. Februar 2003 befinde sich St. in psychotherapeutischer Behandlung.

Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 8. Mai 2003 den Antrag auf Leistungen für eine sonderpädagogische Vollzeitpflege mit besonderem Betreuungsaufwand um 100 % gemäß § 33 SGB VIII für St. ab 1. Januar 2003 ab. Gründe für den erzieherischen Betreuungsaufwand seien nicht dargelegt worden. Die Pflegeeltern könnten weder durch eine Fachausbildung noch in sonstiger geeigneter Weise die für eine sonderpädagogische Pflegestelle erforderliche Befähigung nachweisen. Die Problematik bei St. liege überwiegend im gesundheitlichen Bereich. Besondere Erziehungsschwierigkeiten seien nicht festgestellt worden. Die seelische Befindlichkeit von St., die sich aus der gesundheitlichen Situation ergebe, sei mit der Gewährung eines Mehraufwands von 30 % des maßgeblichen pauschalierten Pflegegelds angemessen berücksichtigt worden.

Hiergegen legten die Pflegeeltern Widerspruch ein, den die Regierung von O. mit Widerspruchsbescheid vom 18. September 2003 mangels Widerspruchsbefugnis als unzulässig zurückwies. Aus dem Widerspruch sei nicht ersichtlich, dass er im Namen des Vaters von St. erhoben worden sei.

3. Am 15. Oktober 2003 erhoben die Pflegeeltern auch im Namen des personensorgeberechtigten Vaters des Kindes Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg mit dem Antrag, den Bescheid des Beklagten vom 18. Mai 2003 und den Widerspruchsbescheid der Regierung der O. vom 18. September 2003 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger Leistungen für die Betreuung von St. in Vollzeitpflege mit besonderem Betreuungsaufwand in Höhe von 100 % des pauschalierten Pflegegeldes vom 1. Januar 2003 bis 18. September 2003 zu gewähren.

Das Verwaltungsgericht verpflichtete mit Urteil vom 13. Mai 2004 den Beklagten, dem Kläger für die Betreuung seiner Tochter St. Leistungen für eine Vollzeitpflege mit besonderem Betreuungsaufwand in Höhe von 60 % des pauschalierten Pflegegeldes für die Zeit vom 1. Januar 2003 bis 18. September 2003 zu bewilligen. Der Bescheid des Beklagten vom 18. Mai 2003 und der Widerspruchsbescheid der Regierung der O. vom 18. September 2003 wurden aufgehoben, soweit sie dieser Verpflichtung widersprechen. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen.

Die Klageerhebung durch Frau Z. sei von den ihr erteilten Vollmachten des Klägers gedeckt. So habe der Kläger am 13. Oktober 2003 in der "Ergänzung zur Vollmacht vom März 1997" klargestellt, dass diese frühere Vollmacht sich selbstverständlich auch auf den Antrag auf eine sonderpädagogische Zulage beziehe.

Die Klage sei jedoch nur hinsichtlich einer Pflegezulage von 60 % des pauschalierten Pflegegeldes für die Zeit vom 1. Januar 2003 bis 18. September 2003 begründet. Der gerichtlichen Prüfung unterliege nur der Zeitraum von der Beantragung der höheren Leistung im Januar 2003 bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids vom 18. September 2003. Die von den Pflegeeltern zu bewältigenden Anforderungen insbesondere hinsichtlich der Betreuung des Kindes seien mit dem seit November 2000 gewährten Mehrbedarf von 30 % wegen besonderer Unterstützung im psychosozialen Bereich nicht hinreichend gewürdigt worden. Obwohl es sich nicht um eine sonderpädagogische Vollzeitpflege im Sinn des § 33 Satz 2 SGB VIII handele, da St. weder entwicklungsbeeinträchtigt sei noch einen besonderen Erziehungsbedarf habe, gebiete § 39 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII, den Besonderheiten des Einzelfalles durch ein vom monatlichen Pauschbetrag abweichendes Pflegegeld gerecht zu werden. Dass die Form der Pflege über das übliche, mit dem Pauschbetrag abgegoltene Maß hinausgehe, habe der Beklagte bereits durch die Zuerkennung des Mehraufwands von 30 % bestätigt. Das Gericht müsse eine anhand der Situation des konkreten Pflegeverhältnisses angemessene Bewertung der Erschwernisse treffen. Hierbei könne der vom Beklagten verwendete Diagnostikbogen als Grundlage dienen, in dem zahlreiche Problembereiche aufgeführt seien, die das Ausmaß des Gefordertseins der Pflegeeltern beeinflussten.

Nach den Angaben der Pflegeeltern liege die Besonderheit des Pflegeverhältnisses in der erforderlichen intensiven zeitlichen und emotionalen Unterstützung des Kindes. Dass sich der Betreuungsbedarf nach der im August 2002 durchgeführten schweren Operation gesteigert habe und das Kind mit zunehmendem Alter seine persönliche Situation verstärkt hinterfrage und insoweit vermehrter Unterstützung bedürfe, sei nachvollziehbar. Die festgestellten Sterbensängste des Kindes sowie die erforderliche Verfügbarkeit der Pflegemutter 24 Stunden täglich für das Kind stellten eine außergewöhnliche Belastung der Pflegeeltern dar. Gleiches gelte für die in Frage 30 attestierten depressiven Verstimmungen anlässlich des Themas, warum die Mutter des Kindes verstorben sei. Gerade die Unterstützung des Kindes in seinen Selbstzweifeln und Ängsten bürde den Pflegeeltern eine Belastung auf, die glaubhaft auch ihre eigene Befindlichkeit nicht unberührt lasse. Nach dem Schreiben der Universität R. vom 11. Mai 2004 sei in der derzeitigen lebensbedrohlichen Phase des Kindes von ärztlicher Seite eine ständige Präsenz der Pflegemutter erwünscht. Auch hinsichtlich des Verarbeitens der bisherigen Krankengeschichte werde der zuständigen Zuwendung der Pflegemutter eine große Bedeutung zugesprochen. Der Fürsorge der Pflegemutter im streitgegenständlichen Zeitraum sei eine vergleichbare Bedeutung zuzumessen gewesen. Nicht unberücksichtigt bleiben dürfe, dass die gesamte Planung des Familienlebens der Pflegeeltern auf die Bedürfnisse von St. ausgerichtet sein müsse. Angesichts dieser hohen Belastung der Pflegeeltern spiegele der Diagnostikbogen die spezielle Situation des Hilfefalles nicht wieder.

Es treffe nicht zu, dass alle diese Belastungen der Pflegeeltern auf die Erkrankung des Kindes zurückzuführen und deshalb im Rahmen der Pflegeversicherung abzugelten seien. Für die Zuerkennung einer Pflegestufe maßgeblich seien die pflegerischen Verrichtungen, die für den Betroffenen geleistet werden müssten. Keinen Eingang in die Bewertungskriterien fänden jedoch die Belastungen, die sich in Einfühlungsvermögen, Fürsorge, psychischer Unterstützung sowie dem bloßen In-der-Nähe-Sein ausdrückten. Bei den vorliegenden Gegebenheiten sei eine weitere Erhöhung des Pflegegeldes auf 60 % des pauschalierten Pflegegeldes angemessen und ausreichend. Eine weitere Erhöhung komme nicht in Betracht, da Pflegefälle denkbar seien, in denen z.B. schwere Erziehungsdefizite zusätzliche besondere Anforderungen an die Pflegepersonen stellten oder weitere persönliche Erschwernisse die Belastung der Pflegeperson erhöhten.

4. Mit seiner vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung wendet sich der Beklagte gegen dieses Urteil. Er trägt vor, dass die Voraussetzungen für die Gewährung eines Mehrbedarfs in Höhe von mehr als 30 % des pauschalierten Pflegegeldes für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht gegeben gewesen seien. Nach den Feststellungen des pädagogischen Fachdienstes bestehe bei St. kein erzieherischer sonderpädagogischer Bedarf. Besondere Erziehungsschwierigkeiten, die einen erzieherischen Mehrbedarf im Sinne des § 33 Satz 2 SGB VIII in Höhe von 100 % erkennen ließen, seien nicht festgestellt worden. Die Schwierigkeiten von St. lägen im gesundheitlich/pflegerischen Bereich und damit im Leistungsbereich der Pflegekassen. Zum pädagogischen Bereich sei lediglich auf Schlafstörungen und Angstzustände verwiesen worden. Das Verwaltungsgericht habe bei seiner Entscheidung zu Unrecht die jeweiligen Zuständigkeiten zur Bedarfsdeckung (insbesondere die Zuständigkeit der Pflegekasse) nicht berücksichtigt. Es werde nicht verkannt, dass die Besonderheit dieses Pflegeverhältnisses in der erforderlichen intensiven emotionalen Unterstützung des Kindes liege. Aus diesem Grunde sei auch der Mehrbedarf bewilligt worden.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 13. Mai 2004 insoweit aufzuheben, als darin der Beklagte unter Aufhebung entgegenstehender Bescheide verpflichtet wurde, dem Kläger für die Betreuung seiner Tochter St. Leistungen für eine Vollzeitpflege mit besonderem Betreuungsaufwand in Höhe von 60 % des pauschalierten Pflegegeldes für die Zeit vom 1. Januar bis 18. September 2003 zu bewilligen und die Klage auch insoweit abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt vor, dass für St. ein erzieherischer sonderpädagogischer Bedarf bestehe. Der 2003 erstellte Diagnostikbogen sei zu keinem Zeitpunkt mit der Pflegemutter besprochen worden. Die Punkte dieses Diagnostikbogens seien falsch addiert worden. Die Entwicklungsauffälligkeiten im Zeitpunkt der Erstellung des Diagnostikbogens seien vom Beklagten unzureichend und unvollständig aufgenommen worden. Damals habe St. unter Gleichgewichtsstörungen gelitten, ihr Bewegungsablauf sei verlangsamt gewesen und es seien Probleme bezüglich der Feinmotorik aufgetreten. Darüber hinaus sei sie selbst bei geringster körperlicher Anstrengung sehr schnell ermüdet. Sie habe Probleme beim Treppensteigen gehabt und aufgrund der vorhandenen Gleichgewichtsstörungen nicht Fahrrad fahren können. Weitere Probleme seien Albträume und Schlafstörungen gewesen, wobei darauf hinzuweisen sei, dass St. auch im Jahre 2003 jede Nacht den Körperkontakt zur Pflegemutter zum Einschlafen gebraucht habe. Schuldgefühle am Tod der Mutter, das Vermissen von Kontakten zum leiblichen Vater und den Geschwistern seien ebenfalls nicht berücksichtigt worden. Gerade diese Probleme sowie die Depressionen von St. hätten einen ganz erheblichen erzieherischen sonderpädagogischen Bedarf zur Folge. Die Pflegeeltern hätten ihr Leben rund um die Uhr auf die Bedürfnisse von St. zugeschnitten. Sogar während eines Krankenhausaufenthalts von St. sei die fortwährende Anwesenheit ihrer Pflegemutter im Krankenhaus erforderlich. Der Beklagte könne auch nicht mit Erfolg einwenden, dass die zu berücksichtigenden Belastungen der Pflegeeltern auf die Erkrankung des Kindes zurückzuführen und deshalb im Rahmen der Pflegeversicherung abzugelten seien. Für die Zuerkennung einer Pflegestufe maßgeblich seien die pflegerischen Verrichtungen, die für den Betroffenen geleistet werden müssten. In die Bewertungskriterien der Pflegeversicherung fänden jedoch die Belastungen der Pflegeeltern, die sich in Einfühlungsvermögen, Fürsorge, psychischer Unterstützung sowie dem bloßen Nahesein ausdrückten, keinen Eingang. Nicht nachvollziehbar sei der Vortrag des Beklagten, bei St. träten keine erzieherischen Probleme auf. Gegenstand ihrer psychologischen Betreuung in dem P.-R.-M.-Zentrum in R. seien auch erzieherische Probleme gewesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichts- und der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die zulässige Berufung ist begründet. Der Kläger hat für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Januar 2003 bis 18. September 2003 keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form von Leistungen zum Unterhalt seiner sich in Vollzeitpflege befindenden Tochter St., die über eine Erhöhung des pauschalierten Pflegegeldes um 30 % hinausgehen.

Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. § 27 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII bestimmt, dass Hilfe zur Erziehung insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 SGB VIII gewährt wird. Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten (§ 33 Satz 1 SGB VIII). Wird Hilfe nach den §§ 32 bis 35 oder nach § 35 a Abs. 2 Nrn. 2 bis 4 SGB VIII gewährt, so ist gemäß § 39 Abs. 1 SGB VIII auch der notwendige Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen (Satz 1), der auch die Kosten der Erziehung umfasst (Satz 2) - sog. Pfllegegeld -. Dass der die Personensorge für seine Tochter St. besitzende Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum berechtigt war, Hilfe zur Erziehung seiner Tochter in Form von Leistungen zu ihrem Unterhalt in Anspruch zu nehmen, ist zwischen den Beteiligten nicht streitig, die nur über die Höhe des dem Kläger zustehenden Pflegegeldes unterschiedlicher Auffassung sind.

Nach § 39 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII sollen die laufenden Leistungen zum Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen in einem monatlichen Pauschalbetrag gewährt werden, soweit nicht nach der Besonderheit des Einzelfalls abweichende Leistungen geboten sind. Der besondere Bedarf muss dabei in der Person des Kindes oder Jugendlichen begründet sein; die finanzielle Situation der Pflegeeltern kann keine abweichende Pflegegeldfestsetzung auslösen (BVerwG vom 26.3.1999 FEVS 51,10; Jans/Happe/Saurbier, KJHG, 3. Aufl., § 39 KJHG, RdNr. 50). Ein derartiger Sonderbedarf ist z.B. anzunehmen, wenn höhere Kosten durch eine Erkrankung oder zur Einhaltung einer kostenintensiven Diät anfallen oder die Anforderungen an Betreuung und Erziehung z.B. wegen Verhaltensauffälligkeiten besonders hoch sind (Jans/Happe/Saurbier, a.a.O.; Wiesner in SGB VIII, 2. Aufl. 2000, § 39 RdNr. 34). Dagegen ist die Zahlung eines erhöhten Pflegegelds nicht davon abhängig, dass das Kind oder der Jugendliche in einer hier nicht vorliegenden Pflegestelle i.S. des § 33 Satz 2 SGB VIII betreut wird, die die fachlichen Anforderungen an eine sozialpädagogische Pflegestelle erfüllt (vgl. Wiesner, a.a.O.). Eine entsprechende Voraussetzung ergibt sich weder aus dem Wortlaut des § 39 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII noch aus der Systematik des Vierten Abschnitts des Sozialgesetzbuches Achtes Buch.

Bei der Tochter des Klägers besteht zwar ein Sonderbedarf für die Zahlung eines den monatlichen Pauschalbetrag übersteigenden Pflegegelds. Zum einen ist für sie ein ganz erheblicher Betreuungsaufwand erforderlich, der nicht nur aus ihrem gesundheitlichen Zustand, sondern auch aus ihren Depressionen, Ängsten und Selbstzweifeln resultiert, die eine intensive zeitliche und emotionale Unterstützung erfordern. Hierzu kann auf die insoweit zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Urteil des Verwaltungsgerichts verwiesen werden. Zum anderen fallen bei der Tochter des Klägers auch höhere Kosten zur Einhaltung einer krankheitsbedingten Diät an, die von der Klagepartei in der mündlichen Verhandlung des Senats allerdings nicht näher quantifiziert worden sind. Diesem Sonderbedarf für die Tochter des Klägers hat der Beklagte dadurch Rechnung getragen, dass er das pauschalierte Pflegegeld ab 1. August 2000 um 30 % erhöht hat.

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts liegen die Voraussetzungen für eine weitere Erhöhung des Pflegegelds um mehr als 30 % des monatlichen Pauschalbetrags jedoch nicht vor. Der Verwaltungsgerichtshof ist zunächst mit dem Verwaltungsgericht der Auffassung, dass im vorliegenden Fall keine Erhöhung des Pflegegelds um 100 % des Pauschalbetrags in Betracht kommt, weil Pflegefälle denkbar sind, in denen z.B. schwere Erziehungsdefizite zusätzliche besondere Anforderungen an die Pflegepersonen stellen oder wegen des gesundheitlichen Zustandes des Kindes oder Jugendlichen noch höhere Belastungen der Pflegepersonen gegeben sind. Bei der Tochter des Klägers sind keine besonderen Erziehungsschwierigkeiten festgestellt worden, die der Kläger auch nicht substantiiert behauptet hat. Die Tochter des Klägers ist trotz ihrer zahlreichen Krankenhausaufenthalte auch nicht ständig an das Bett gefesselt und konnte während des streitgegenständlichen Zeitraums sogar die private Schule im P.-R.-M.-Zentrum besuchen, auf der sie gute schulische Leistungen erzielte.

Allerdings wäre die vom Verwaltungsgericht zuerkannte Erhöhung des Pflegegelds um 60 % des Pauschalbetrages rechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Tochter des Klägers nicht in die Stufe I der sozialen Pflegeversicherung eingestuft wäre und ihre Pflegemutter deshalb Pflegegeld nach § 37 SGB XI beziehen würde. Das Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen beträgt nach § 37 Abs. 1 Satz 3 SGB XI je nach Kalendermonat für Pflegebedürftige der Pflegestufe I 205 Euro. Die Pflegeeltern haben dieses Pflegegeld nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung des Senats während des streitgegenständlichen Zeitraums nicht für selbst beschaffte Pflegehilfen verwendet, sondern die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung ihrer Pflegetochter ohne solche Hilfen sicher gestellt.

Der Bezug von Pflegegeld nach § 37 SGB XI schließt zwar die Gewährung von Pflegegeld nach § 39 Abs. 1 und 4 SGB VIII nicht aus, weil die Leistungen der Pflegeversicherung keinen abschließenden Charakter haben (BVerwG vom 15.6.2000 FEVS 51, 529). Mit ihnen wird eine Vollversorgung der Pflegebedürftigen weder angestrebt noch erreicht, da die Pflegeversicherung (nur) eine soziale Grundsicherung in Form von unterstützenden Hilfeleistungen darstellt (vgl. die Amtliche Begründung des ursprünglichen Entwurfs eines "Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit [PflegeVG]" - BT-Drs. 12/5262 S. 90/91). Andererseits sind die Leistungen der Pflegeversicherung in vollem Umfang auf die Pflegegelderhöhung nach § 39 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII anzurechnen, wenn sie wegen eines Sonderbedarfs, für den die Pflegegelderhöhung beantragt wird, gewährt werden (Jans/Happe/Saurbier, a.a.O.). Das folgt bereits aus dem im Sozialleistungsrecht geltenden Grundsatz, dass Doppelleistungen ausgeschlossen werden sollen (vgl. BVerwG vom 15.6.2000, a.a.O.).

Im vorliegenden Fall wird das Pflegegeld nach § 37 SGB XI auch wegen des Sonderbedarfs gewährt, mit dem die Erhöhung des pauschalierten Pflegegeldes nach § 39 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII begründet wird. Denn dieser Sonderbedarf besteht bei der Tochter des Klägers vor allem in dem erheblichen Betreuungsaufwand, der auch die von der Pflegeversicherung bezweckte Hilfe für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens (vgl. § 14 Abs. 1 SGB XI) umfasst. Dass sich der Betreuungsbedarf auch auf nicht von der Pflegeversicherung erfasste Unterstützungsleistungen erstreckt, vor allem auf die erforderliche emotionale Unterstützung des Pflegekindes wegen seiner depressiven Verstimmungen, Selbstzweifel und Ängste, steht der Anrechenbarkeit der Pflegeversicherungsleistungen auf die begehrte Pflegegelderhöhung nach § 39 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII nicht entgegen.

Nachdem das vom Beklagten dem Kläger für seine Tochter ab 1. Januar 2003 gewährte pauschalierte Pflegegeld 598 Euro monatlich betrug, wozu ein Sonderpflegegeld in Höhe von 202,50 Euro (ca. 30 %) kam, entspricht das der Tochter nach § 37 SGB XI gewährte Pflegegeld der Pflegestufe I in Höhe von 205 Euro einer weiteren Erhöhung des Pauschalbetrags um ca. 30 %. Das bedeutet, dass für St. insgesamt 160 % des pauschalierten Pflegegeldes vom Beklagten und der Pflegekasse zusammen bezahlt werden. Da ein über 160 % hinausgehender Sonderbedarf von St. nicht ersichtlich ist, hat das Verwaltungsgericht den Beklagten zu Unrecht verpflichtet, dem Kläger insgesamt 160 % des pauschalierten Pflegegeldes für seine Tochter zu bewilligen. Der Berufung des Beklagten war deshalb in vollem Umfang stattzugeben und die Klage abzuweisen.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO. Der Verwaltungsgerichtshof hat keine Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt getroffen, weil er davon ausgeht, dass der Beklagte seine außergerichtlichen Kosten nicht vor Rechtskraft des Urteils zu vollstrecken beabsichtigt.

3. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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