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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 05.06.2007
Aktenzeichen: 12 BV 05.218
Rechtsgebiete: SGB VIII, BSHG


Vorschriften:

SGB VIII a.F. § 10 Abs. 2 Satz 2
SGB VIII a.F. § 35 a
BSHG § 39 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

12 BV 05.218

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Sozialhilferecht;

hier: Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 29. September 2004,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat,

durch den Richter am Verwaltungsgerichtshof Grau als Vorsitzenden, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dhom, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Traxler

ohne mündliche Verhandlung am 5. Juni 2007

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 29. September 2004 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger, ein überörtlicher Träger der Sozialhilfe, verlangt vom Beklagten, einem örtlichen Jugendhilfeträger, die Erstattung der Kosten, die für die Heimunterbringung von Tim G. in der Zeit vom 3. Juli 2002 bis 31. Juli 2003 angefallen sind.

Der am 3. November 1989 geborene Tim, der nach der Scheidung seiner Eltern zunächst bei seiner alleinerziehenden Mutter lebte, erhielt wegen Sprach- und Verhaltensauffälligkeiten bis August 1995 eine heilpädagogische Frühförderung. Im September 1996 besuchte Tim die Schule zur individuellen Lernförderung im Förderzentrum der Lebenshilfe in B., von November 1997 bis Juli 2001 war er zugleich in der Tagesstätte des Förderzentrums untergebracht. Im Rahmen eines Tests zur Messung der intellektuellen Fähigkeiten (Kaufmann Assessment Battery for Children) am 17. Juli 2000 im Förderzentrum wurde ein Gesamt-IQ von 57 ermittelt. Nachdem Tim sich den Erziehungsversuchen seiner Mutter weitgehend entzogen hatte und auch die Tagesstätte keinen erzieherischen Einfluss mehr ausüben konnte, brachte der Beklagte Tim im Rahmen der Hilfe zur Erziehung ab August 2001 bei einer Pflegefamilie unter. Wegen der erheblichen Belastungen in der Pflegefamilie wurde diese Maßnahme im Sommer 2002 beendet.

Da die Pflegefamilie den Eindruck hatte, dass Tim, der den Zahlenraum bis 10 nicht sicher beherrschte und extreme Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben hatte, in der 5. Klasse der Förderschule leistungsmäßig überfordert sei, wurde er wegen seiner geringen Frustrationstoleranz, seinem Hang zur übermäßigen Unordnung und einem übersteigerten Konkurrenzverhalten zu den leiblichen Kindern der Pflegefamilie im Dezember 2001 der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Bezirkskrankenhauses L. vorgestellt. Die behandelnden Ärzte stellten bei Tim bei einem Gesamt-IQ von 67 (Kaufmann-ABC) eine leichte Intelligenzminderung (ICD-10 F70) fest. Mit Schreiben vom 2. April 2002 an den Beklagten und vom 2. Oktober 2002 an den Kläger wurde der Besuch einer Schule zur individuellen Lebensbewältigung empfohlen, da Tim mit dem Besuch der Schule zur individuellen Lernförderung überfordert sei, was seine Verhaltensauffälligkeiten verstärke. Bei Tim handele es sich um einen sehr bedürftigen und erziehungsaufwendigen Jungen, der aufgrund seiner intellektuellen Beeinträchtigung den Rahmen einer normalen Pflegefamilie sprenge. Er brauche besondere Strukturen in einem heilpädagogischen Rahmen, die seiner geringen Auffassungsgabe und seinen Bedürfnissen entsprächen. Es werde ein Wechsel in eine Einrichtung für geistig behinderte Kinder vorgeschlagen, weil Tim in einer Gruppe von Kindern mit ähnlichen kognitiven Fähigkeiten weniger konkurrierende Verhaltensweisen zeigen müsse und eine gezielt auf lebenspraktische Fähigkeiten ausgerichtete Förderung erhalten könne.

Wegen der bevorstehenden Beendigung der Vollzeitpflege beantragte seine leibliche Mutter beim Beklagten am 5. April 2002 weitere Jugendhilfemaßnahmen für Tim. Mit Schreiben vom 15. April 2002 gab der Beklagte unter Hinweis auf die Zuständigkeit des Klägers nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII und auf § 14 SGB IX den Hilfefall an den Kläger ab, der im Rahmen der Vorleistungspflicht nach § 44 BSHG mit Bescheid vom 13. März 2003 Eingliederungshilfe durch die Kostenübernahme für das Kinderheim Haus M. gewährte, in dem Tim ab 3. Juli 2002 aufgenommen wurde. Von dieser Einrichtung für geistig behinderte Kinder aus besuchte er im Schuljahr 2002/03 die externe Förderschule zur individuellen Lernförderung in W. Da er mit den Anforderungen dieser Schule nicht zurechtkam, war beabsichtigt, ihn ab dem folgenden Schuljahr die dem Kinderheim angeschlossene Förderschule zur individuellen Lebensbewältigung besuchen zu lassen. Dazu kam es jedoch nicht, weil der Vater Tim Ende Juli 2003 aus dem Heim nahm.

Entsprechend der am 14. Januar 2004 eingegangenen Klage hat das Verwaltungsgericht den Beklagten zur Erstattung der Aufwendungen in Höhe von 58.815,38 Euro zuzüglich der Zinsen verurteilt. Der Kläger könne sich auf § 102 SGB X i.V.m. § 44 BSHG stützen. Das seelisch behinderte Kind, das nach der Aussage der vom Verwaltungsgericht als Zeugin gehörten Mitarbeiterin des Kinderheims in seiner sozialen Integration gefährdet gewesen sei, habe nach § 35 a SGB VIII untergebracht werden müssen. Die Konkurrenzregelung des § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII greife nicht ein, weil Tim kein Anspruch auf sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe zugestanden habe. Er habe lediglich an einer leichten geistigen Behinderung in Form einer Lernbehinderung gelitten, die den Besuch der Förderschule, nicht aber die Heimunterbringung erforderlich gemacht habe.

Die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung hat der Beklagte im wesentlichen damit begründet, dass Tim wegen seiner geistigen Behinderung, auf die die Verhaltensauffälligkeiten zurückzuführen seien, einen Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 39 und § 40 BSHG gehabt habe. Dabei komme es nicht darauf an, ob die geistige Behinderung wesentlich im Sinn von § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG gewesen sei, da der Vorrang der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII auch dann eingreife, wenn nur eine einfache geistige oder körperliche Behinderung vorliege.

Er beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 29. September 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Trotz seiner leichten Intelligenzminderung verfüge Tim über ausreichend lebenspraktische Fähigkeiten. Da keine erheblichen Einschränkungen seiner Teilhabefähigkeit vorlägen, sei nicht von einer wesentlichen geistigen Behinderung auszugehen. Darüber hinaus würde selbst eine wesentliche geistige Behinderung im vorliegenden Fall keinen Anspruch auf eine sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe begründen. Denn die Heimbetreuung von Tim sei nicht wegen dessen geistiger Behinderung, sondern wegen der Störungen seines Sozialverhaltens erforderlich gewesen. Da wegen der geistigen Behinderung nicht die gleichen Maßnahmen erforderlich würden wie wegen der seelischen Behinderung, finde die Konkurrenznorm des § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII keine Anwendung.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Behörden- und Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die zulässige Berufung, über die der Verwaltungsgerichtshof mit Einverständnis der Parteien ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (§ 125 Abs. 1 Satz 1, § 101 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg, weil dem Kläger kein Erstattungsanspruch gegen den Beklagten zusteht.

1.1 Ein Anspruch des vorläufig leistenden Trägers aus § 102 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 44 Abs. 1 BSHG scheidet aus, weil der Kläger, dem der Beklagte den Antrag auf Gewährung einer Rehabilitationsleistung rechtzeitig nach § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX zugeleitet hatte, dem leistungsberechtigten Kind gegenüber nach § 14 Abs. 2 Satz 3 SGB IX endgültig für die Leistungserbringung zuständig geworden ist. Durch die rechtzeitige Weiterleitung des Antrags auf Rehabilitationsleistung ist der negative Kompetenzkonflikt, den § 44 Abs. 1 BSHG voraussetzt, beendet, ohne dass es auf die Einschätzung des Klägers ankommt, er sei lediglich vorläufig zur Leistung verpflichtet (vgl. BayVGH vom 6.12.2006 Az. 12 CE 06.2732).

1.2 Der Kläger kann sich auch nicht auf den Anspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X i.V.m. § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX berufen, weil er nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII (in der für den Leistungszeitraum geltenden Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch vom 16. Februar 1993, BGBl I S. 239) vorrangig zur Leistung verpflichtet war.

Während § 10 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII a.F. den Leistungen der Jugendhilfe den Vorrang einräumt, bestimmt Satz 2 der Vorschrift den Vorrang der Sozialhilfe, wenn Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz für junge Menschen zu leisten sind, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind. Die Vor- und Nachrangregelung kann damit nur eingreifen, wenn sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht und wenn beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent einander überschneidend oder deckungsgleich sind (vgl. BVerwGE 109, 325). Die Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII a.F. sind vorliegend gegeben.

Dass Tim wegen einer durch Verhaltensauffälligkeiten manifestierten psychischen Störung in einem Heim unterzubringen war und daher ein Anspruch auf Jugendhilfe nach § 35 a SGB VIII bestand, ist zwischen den Parteien nicht strittig. Entgegen der Auffassung des Klägers stand dem leistungsberechtigten Kind aber auch wegen dessen geistiger Behinderung im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 39 Abs. 1 Satz 1 und § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 BSHG der Anspruch zu, in einem Heim betreut zu werden.

Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Bezirkskrankenhauses L. stellte bei Tim aufgrund seiner in mehreren Testverfahren ermittelten IQ-Werte von 59 und 67 eine leichte Intelligenzminderung (ICD-10 F70) fest. Diese Stufe der Intelligenzminderung (IQ-Wert zwischen 69 und 50), die entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts unterhalb der Stufe der Lernbehinderung (IQ-Wert zwischen 84 und 70) liegt (vgl. Leitlinien zur Intelligenzminderung der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin vom Oktober 2002 in AWMF online; Brühl in LPK-BSHG, 6. Auflage, § 39 RdNr. 17), lässt sich dadurch beschreiben, dass die betroffenen Personen als Erwachsene das intellektuelle Niveau eines 9- bis 12-jährigen Kindes erreichen. Aufgrund seiner eingeschränkten kognitiven Leistungsfähigkeit war Tim wesentlich in seiner Fähigkeit beschränkt, am Leben in der Gemeinschaft teilzuhaben (§ 39 Abs.1 Satz 1 BSHG). Zwar verfügte er durchaus über lebenspraktische Fähigkeiten, die es ihm erlaubten, mit seinem Umfeld zurechtzukommen. Jedoch gehört zur Fähigkeit, am Leben in der Gesellschaft teilzuhaben, auch die Beherrschung von Grundfertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen. Diese Fähigkeiten konnte Tim wegen seiner Intelligenzminderung nur in erheblich eingeschränktem Umfang erlangen mit der Folge, dass er - wie von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie bereits 2002 prognostiziert - in einer Schule für individuelle Lernförderung überfordert war. Das bestätigte sich, als Tim im Schuljahr 2002/03 in der 6. Klasse der Schule für individuelle Lernförderung gescheitert war. Diese geistige Behinderung machte allerdings nicht nur den Besuch spezieller Förderschulen erforderlich. Vielmehr benötigte Tim - wie die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie hervorhob - wegen seiner intellektuellen Beeinträchtigung auch außerhalb der Schule eine heilpädagogische Betreuung mit klaren, ereignisnahen Rückmeldungen und für ihn einschätzbaren Rahmenbedingungen, die seiner geringen Auffassungsgabe und seinen Bedürfnissen entsprachen. Darüber hinaus bestand in einer Einrichtung für geistig behinderte Kinder die Möglichkeit, die Konkurrenzsituationen abzubauen, denen Tim sich wegen seiner Minderbegabung mit stärker begabten Kindern ausgesetzt fühlte, um auf diese Weise sein beeinträchtigtes Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Diese Einschätzung wird auch durch die Aussage der Mitarbeiterin des psychologischen Fachdienstes im Kinderheim Haus M. vor dem Verwaltungsgericht bestätigt, die die Störungen des Sozialverhaltens von Tim auch der schulischen Überforderung und damit seiner intellektuellen Beeinträchtigung zuschrieb.

Hatte Tim damit sowohl nach Jugendhilfe- wie auch nach Sozialhilferecht einen deckungsgleichen Anspruch auf Betreuung in einer heilpädagogischen Einrichtung, so war nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII der Kläger vorrangig zur Leistung verpflichtet mit der Folge, dass ein Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X i.V.m. § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX nicht in Betracht kommt.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 188 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO.

3. Einer Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung nach § 167 VwGO bedarf es nicht, weil der Verwaltungsgerichtshof davon ausgeht, dass der Beklagte nicht beabsichtigt, seine außergerichtlichen Kosten vor Eintritt der Rechtskraft des Urteils zu vollstrecken.

4. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Beschluss:

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 58.215,28 Euro festgesetzt (§ 52 Abs. 3, § 47 Abs. 1 GKG).

Ende der Entscheidung

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