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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 13.09.2006
Aktenzeichen: 12 BV 06.808
Rechtsgebiete: GVG, SGB VIII, SGB IX, SGB XII


Vorschriften:

GVG § 17 a Abs. 3 Satz 2
GVG § 17 a Abs. 5
SGB VIII § 10 Abs. 4 Satz 2
SGB VIII § 35 a Abs. 1
SGB VIII § 35 a Abs. 3
SGB IX § 2 Abs. 1
SGB IX § 4
SGB IX § 5 Nr. 4
SGB IX § 6 Abs. 1 Nr. 6
SGB IX § 6 Abs. 1 Nr. 7
SGB IX § 14 Abs. 1
SGB IX § 14 Abs. 2
SGB IX § 14 Abs. 4
SGB XII § 53
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

12 BV 06.808

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Sozialhilfe (Kostenerstattung);

hier: Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 11. Januar 2006,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat,

durch den Richter am Verwaltungsgerichtshof Traxler als Vorsitzenden, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Grau, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Boese

aufgrund mündlicher Verhandlung vom 13. September 2006

am 13. September 2006

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger verfolgt mit der Klage die Verpflichtung des Beklagten zur Erstattung der Kosten für die Unterbringung von Robert S. (künftig: Hilfeempfänger) in der Einrichtung Regens Wagner Hohenwart (künftig: Förderzentrum) in der Zeit vom 13. September 2004 bis 11. Januar 2006.

1. Der am 25. August 1990 geborene Hilfeempfänger leidet seit seinem zweiten Lebensjahr an einer hochgradigen Hörbehinderung und u.a. an einer expressiven Sprachstörung, einer kombinierten Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten und an Störungen im Sozialverhalten. Nach Frühförderungen in den Jahren 1993 und 1994 besuchte er den Förderkindergarten St. Z. in B.R. (Schuljahr 1995/1996) und anschließend den Kindergarten am Landesinstitut für Hörbehinderte in S. (Schuljahr 1996/1997). Im Zeitraum vom Herbst 1997 bis Sommer 2002 besuchte der Hilfeempfänger die Volksschule am Landesinstitut für Hörbehinderte in S.. Im Schuljahr 2002/2003 erfolgte ein Wechsel auf die Hauptschule des Landesinstituts für Hörbehinderte (J.-R.-Schule). Im September 2003 sei der Hilfeempfänger dort durch störendes und aggressives Verhalten aufgefallen, das zu seiner Aufnahme in die Heilstättenschule an der Landesklinik S. in der Zeit vom 8. September 2003 bis 22. Oktober 2003 zur Abklärung seiner weiteren Perspektiven führte. Ab 22. Oktober 2003 war er krankgeschrieben und besuchte zunächst keine Schule mehr.

Am 26. April 2004 wurde der Hilfeempfänger im Förderzentrum vorgestellt und absolvierte dort ein 14-tägiges Probewohnen. Eine Aufnahme war jedoch erst am 13. September 2004 möglich.

Mit Schreiben vom 9. Juni 2004 bat das Förderzentrum den Beklagten um Übernahme der Kosten der ab 14. September 2004 vorgesehenen Aufnahme des Hilfeempfängers. Mit Schreiben vom 15. Juni 2004 leitete der Beklagte dieses Schreiben nebst Anlagen mit der Bitte um Hilfeleistung in eigener Zuständigkeit an den Kläger weiter. Ebenso leitete der Beklagte einen bei ihm am 17. Juni 2004 eingegangenen Sozialhilfeantrag an den Kläger weiter.

In der Folgezeit konnte keine Einigkeit zwischen den Beteiligten über die Zuständigkeit zur fraglichen Hilfeleistung erzielt werden. Nachdem die Notwendigkeit der Unterbringung des Hilfeempfängers im Förderzentrum von keinem der Beteiligten in Zweifel gezogen wurde, übernahm der Kläger mit Bescheid vom 21. September 2004 nach § 5 Nr. 4 SGB IX die Kosten der Unterbringung des Hilfeempfängers ab 13. September 2004 als zweitangegangener Träger gemäß § 14 Abs. 2 SGB IX. Anträgen des Klägers, den Fall zum nächstmöglichen Zeitpunkt in eigener Zuständigkeit zu übernehmen, entsprach der Beklagte nicht.

2. Am 9. Mai 2005 erhob der Kläger beim Verwaltungsgericht München Klage, mit der er sinngemäß beantragte, den Beklagten zu verpflichten, ihm die für die Unterbringung des Hilfeempfängers im Förderzentrum in der Zeit vom 13. September 2004 bis 11. Januar 2006 aufgewendeten Kosten zu erstatten. Anlässlich der Überprüfung des Hilfefalls habe am 19. April 2005 ein Gespräch in der Einrichtung stattgefunden. Dabei sei deutlich geworden, dass die Unterbringung erforderlich sei, weil dem Hilfeempfänger wegen seiner Hörbehinderung keine angemessene Schulbildung vor Ort habe angeboten werden können.

In der mündlichen Verhandlung am 11. Januar 2006 wurde der Internatsleiter und Leiter der Tagesstätte des Förderzentrums, Herr V., als Zeuge zur Art des Hilfebedarfs des Hilfeempfängers angehört. Wegen des Ergebnisses der Zeugeneinvernahme wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

3. Mit Urteil vom 11. Januar 2006 verpflichtete das Verwaltungsgericht den Beklagten dazu, dem Kläger die von ihm aufgewendeten Kosten der Unterbringung des Hilfeempfängers im Förderzentrum im Zeitraum vom 13. September 2004 bis 11. Januar 2006 zu erstatten. Die Klage sei als Leistungsklage zulässig. Für sie sei auch der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO gegeben.

Der Kläger habe gegen den Beklagten einen Kostenerstattungsanspruch aus § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX hinsichtlich der stationären Unterbringung des Hilfeempfängers im Förderzentrum in der Zeit vom 13. September 2004 bis 11. Januar 2006. Da der Beklagte den am 17. (richtig: 14.) Juni 2004 bei ihm eingegangenen Antrag mit Begleitschreiben vom gleichen Tag an den Kläger weitergeleitet habe, bei dem er am 24. Juni 2004 eingegangen sei, sei der Kläger zweitangegangener Träger, an den der Antrag gemäß § 14 Abs. 2 Satz 3 SGB IX innerhalb der Frist des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX weitergeleitet worden sei. Gleiches gelte, wenn man bereits im Schreiben des Förderzentrums vom 9. Juni 2004 den antragsgemäß an den Beklagten herangetragenen Bedarf erblicke. Dass der Kläger seinerseits den Antrag an den Beklagten zurückgegeben habe, ehe dieser wiederum mit Schreiben vom 1. Juli 2004 den Vorgang an den Kläger zurückreichte, sei im Rahmen der Anwendung des § 14 SGB IX ohne Bedeutung. Der Kläger habe, wie dem Bescheid vom 21. September 2004 eindeutig zu entnehmen sei, auch als zweitangegangener Rehabilitationsträger die beantragte Hilfeleistung erbracht und sogleich Kostenerstattung für die bis zur Hilfeübernahme durch den Beklagten entstandenen Aufwendungen begehrt. Kläger und Beklagter seien für die zugrunde liegende Leistungsgewährung an den Hilfeempfänger zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft Rehabilitationsträger gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 6 und 7 SGB IX i.V.m. § 5 Nr. 4 SGB IX. Der Beklagte sei als sachlich für die fragliche Hilfeleistung zuständiger Rehabilitationsträger zur Kostenerstattung verpflichtet. Die Hilfeleistung stelle sich als stationäre Eingliederungshilfe gemäß §§ 39 ff. BSHG bzw. §§ 53 ff. SGB XII dar, für deren Erbringung der Beklagte sachlich zuständig sei.

Betrachte man die beim Hilfeempfänger vorliegenden Beeinträchtigungen und sein auffälliges Sozialverhalten, insbesondere den Umstand, dass er im Oktober 2003 nach aufgetretenen Wutausbrüchen und Aggressionen den Klassenverband der J.-R.-Schule habe verlassen müssen, so liege es vordergründig zwar nahe, dass die anschließende Unterbringung im Förderzentrum wegen einer seelischen Störung erforderlich gewesen sein könnte.

Dies treffe jedoch nicht zu. Der in der mündlichen Verhandlung angehörte Zeuge V. habe sehr klar und nachvollziehbar ausgeführt, dass der Hilfeempfänger in der bisher von ihm besuchten Schule nicht gut aufgehoben gewesen sei. Er habe dort immer versagt, sei mit dem Rücken zur Wand gestanden und gehänselt worden. Die im Förderzentrum eingetretene Verbesserung in seinem Verhalten habe der Zeuge V. auf die geänderte Schul- und Lebenssituation zurückgeführt. Diese Einschätzung decke sich mit derjenigen von Frau Dr. D. in ihrer Stellungnahme vom 13. Juli 2004, die ausgeführt habe, dass sie die vom Landeskrankenhaus S. und der J.-R.-Schule beschriebenen Auffälligkeiten eher als reaktiv auf chronische Missverständnisse und die damit verbundene Isolation im sozialen Bereich werte. Die fehlende Beschulung und der Mangel an therapeutischen Angeboten seit Oktober 2003 sei ebenfalls nicht hilfreich gewesen. Hieraus werde deutlich, dass Auslöser für die Schwierigkeiten des Hilfeempfängers, mit seiner Umgebung angemessene soziale Kontakte zu unterhalten, seine Hörbehinderung, die damit einhergehende sprachliche Behinderung sowie motorische Auffälligkeiten seien. Das Bewusstsein dieser Unzulänglichkeiten habe den Hilfeempfänger bei den geschilderten Hänseleien verletzbar und aggressiv gemacht. Im Förderzentrum habe er nach Aussage des Zeugen V. einen beschützenden Rahmen gefunden, in dem er wisse, wie seine Stellung sei und wo er hingehöre. Vor diesem Hintergrund seien die schon nach wenigen Monaten eingetretenen Verbesserungen im Sozialverhalten verständlich und nachvollziehbar, sie ließen den Hilfebedarf jedoch keineswegs entfallen.

Der Einwand des Beklagten, dass auch die vormals vom Hilfeempfänger besuchte Schule G- und L-Klassen gehabt habe, stehe nicht im Widerspruch zur Einschätzung, dass der Hilfeempfänger dort in der von ihm besuchten Klasse nicht seiner Behinderung entsprechend untergebracht gewesen sei. Letztlich decke sich der durch seine körperliche Beeinträchtigung hervorgerufene Bedarf an einer stationären Unterbringung auch mit dem Förderschwerpunkt Hören des Förderzentrums, bei dem nach Angaben des Zeugen V. zwar auch Verhaltensauffälligkeiten auftreten würden, jedoch nicht Gegenstand einer eigenen Förderrichtung seien.

Selbst wenn man jedoch davon ausgehen wolle, dass ein Unterbringungsbedarf auch wegen einer seelischen Behinderung bestünde, lägen zumindest zwei gleichgerichtete Unterbringungsbedarfe vor, die gemäß § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII a.F. ebenfalls zur Zuständigkeit des Beklagten führten.

4. Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung des Beklagten. Er trägt vor, das Verwaltungsgericht gehe zu Unrecht davon aus, dass für den Erstattungsanspruch des Klägers der Verwaltungsrechtsweg gegeben sei.

Das Verwaltungsgericht habe des weiteren zu Unrecht entschieden, dass der Beklagte für die Kosten der Unterbringung vorrangig zuständig sei. Seine Annahme, dass die Unterbringung in der vollstationären Einrichtung aufgrund der Hörbehinderung erforderlich geworden sei, weil der Hilfeempfänger zuvor nicht seiner Behinderung entsprechend beschult worden sei, stütze es zum einen auf die Stellungnahme von Frau Dr. D. vom 13. Juli 2004 und zum anderen auf die Aussage des als Zeugen gehörten Internatsleiters des Förderzentrums. Die subjektive Einschätzung des als Zeugen gehörten Internatsleiters, dass die als Hörbehindertenschule ausgewiesene J.-R.-Schule nicht in der Lage gewesen sei, eine im Hinblick auf die Hörbehinderung adäquate Beschulung des Hilfeempfängers zu gewährleisten, werde durch keinerlei objektive Unterlagen belegt. Auf Nachfrage habe er sogar angegeben, dass er nicht einmal wisse, ob der Hilfeempfänger in der J.-R.-Schule in einer regulären, einer G- oder einer L-Klasse beschult worden sei. Der vom Kläger in Auftrag gegebenen Stellungnahme von Frau Dr. D. sei ebenfalls nicht zu entnehmen, dass ihr irgendwelche objektiven Unterlagen hinsichtlich der Beschulung zur Verfügung gestanden hätten. Die Stellungnahme beinhalte auch keinerlei Aussage zur Frage der Geeignetheit der Beschulung. Das Verwaltungsgericht habe keine Unterlagen angefordert, die eine Klärung der Frage erlaubt hätten, ob die subjektive Einschätzung des Internatsleiters des Förderzentrums zutreffend sein könnte. Die J.-R.-Schule sei eine Volks- und Hauptschule für schwerhörige und gehörlose Kinder. Nach telefonischer Auskunft gegenüber dem Beklagten verfüge sie auch über Klassen für gehörlose bzw. schwerhörige Kinder und Jugendliche, die zudem geistig oder lernbehindert seien. Damit sei im Hinblick auf die Hör- und Lernbehinderung an der J.-R.-Schule eine adäquate Beschulung des Hilfeempfängers gewährleistet gewesen, so dass es wegen der Wohnortnähe der Schule keiner vollstationären Unterbringung bedurft hätte. Die Unterbringung im Förderzentrum sei vielmehr ausschließlich wegen der Verhaltensauffälligkeiten des Hilfeempfängers erforderlich geworden, die ihn für die J.-R.-Schule untragbar gemacht hätten. Aus der Stellungnahme von Frau Dr. D. sei zu ersehen, dass der Hilfeempfänger ein unsicherer und beziehungshaft denkender Jugendlicher sei, der auch im häuslichen Umfeld Verhaltensauffälligkeiten zeige. Die fehlenden Sozialkontakte des Hilfeempfängers verbunden mit der häuslichen Situation und der von ihm abgelehnten Hörgeräteversorgung dürften ursächlich für die Verhaltensproblematik gewesen sein.

Vollkommen unberücksichtigt bleibe in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts die Stellungnahme der Pädagogisch-Audiologischen Beratungsstelle vom 12. Januar 2004, die zu dem Ergebnis komme, dass der Förderbedarf im Förderschwerpunkt Hören nicht so hoch sei, dass er ausschließlich an einer Einrichtung mit diesem Förderschwerpunkt erfüllt werden könne. Die Verhaltensauffälligkeiten seien bereits früh aufgetreten und nicht Folge einer inadäquaten Förderung und Beschulung, sie stellten ein unabhängiges Störungsbild dar. Wenn die vollstationäre Unterbringung im Förderzentrum nur wegen der Hörbehinderung jedoch nicht erforderlich gewesen sei, fehle es auch an der notwendigen Kongruenz von Sozialhilfe- und Jugendhilfeleistungen, die allein eine vorrangige Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII begründen könne. Selbst wenn die Verhaltensauffälligkeiten ihre Ursache ausschließlich in der Hörbehinderung hätten, ergäbe sich keine Leistungskongruenz und damit keine vorrangige Zuständigkeit des Beklagten, da die vollstationäre Unterbringung auch dann ihre Ursache allein in der Verhaltensauffälligkeit hätte. Ohne diese bestünde die Notwendigkeit einer vollstationären Unterbringung wegen der adäquaten wohnortnahen Beschulungsmöglichkeit nicht. Damit bestehe keine Kostenerstattungspflicht des Beklagten.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 11. Januar 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5. Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt vor, dass für die Klage der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet sei.

Die Zuständigkeit des Beklagten zur Tragung der Kosten der Unterbringung sei gegeben, da beim Hilfeempfänger ein primärer Hilfebedarf wegen körperlicher oder geistiger Behinderung bestehe, der durch die Beschulung und Unterbringung im Förderzentrum gedeckt werden könne. Eine adäquate Beschulung in Wohnortnähe sei nicht möglich. Das Verwaltungsgericht gehe zu Recht davon aus, dass der Hilfeempfänger zuvor in der J.-R.-Schule in S. nicht seiner Behinderung entsprechend beschult worden sei und sein auffälliges Verhalten im Wesentlichen aus einer Situation der permanenten Überforderung resultiere. Dies gehe sowohl aus der Stellungnahme von Frau Dr. D. vom 13. Juli 2004 als auch aus der Aussage des als Zeugen gehörten Internatsleiters hervor. Dem pädagogischen Bericht der J.-R.-Schule sei eindeutig zu entnehmen, dass der Hilfeempfänger nach den Vorgaben der Hauptschule unterrichtet worden sei, dem Anforderungsprofil aber nicht habe gerecht werden können. Im Übrigen gehöre die J.-R.-Schule nicht zum Versorgungsbereich des Klägers, sondern befinde sich im benachbarten Ausland, so dass sie nicht verpflichtet werden könne, den Hilfeempfänger weiterhin zu unterrichten. Eine andere Art der adäquaten Beschulung in erreichbarer Nähe des Elternhauses sei nicht vorhanden.

Die Stellungnahme der Pädagogisch-Audiologischen Beratungsstelle, auf die der Beklagte sich berufe, sei nicht schlüssig. In ihr werde zu Unrecht unterstellt, dass es sich beim Hilfeempfänger um ein normal begabtes, hörbehindertes Kind handele. Bei dem Bild, das er in der Testsituation geboten habe und den bekannten Leistungsproblemen hätte eine Begabungsabklärung durchgeführt werden müssen. Wegen dieses gravierenden Mangels sei die Stellungnahme keine geeignete Grundlage für eine zuverlässige Empfehlung des geeigneten Schultyps für den Hilfeempfänger. Erst durch eine im Anschluss durchgeführte Testung am 14. Januar 2004 im Förderzentrum W.-R. sei die beim Hilfeempfänger vorliegende Minderbegabung diagnostiziert worden, die mit einem Gesamt-IQ von 67 im Bereich einer leichten geistigen Behinderung liege. Dieses Testergebnis erkläre die geringe Leistungsfähigkeit des Hilfeempfängers, bedeute aber auch, dass er in der J.-R.-Schule in der Hauptschulklasse nicht seinem Begabungsniveau entsprechend unterrichtet worden sei.

Es werde nicht bestritten, dass der Hilfeempfänger auch Schwierigkeiten im Sozialverhalten zeige. Auslöser für diese Schwierigkeiten, mit seiner Umgebung angemessene soziale Kontakte zu halten, sei aber seine Hörbehinderung verbunden mit einer Lernbehinderung, die es ihm einerseits unmöglich machten, Lern- und Entwicklungsreize akustisch aufzunehmen und andererseits dieses Defizit anderweitig zu kompensieren. Hörbehinderung und Minderbegabung wie im vorliegenden Fall bildeten einen Gesamtkomplex einer spezifischen Behinderungsart, der sich nicht auf seine Teile reduzieren lasse, sondern sie akkumulierten sich zu einem Gefüge sich gegenseitig verstärkender Bedingungen mit erheblichen Auswirkungen auf Wahrnehmen, Bewerten, Lernen und Verhalten. Die Lern- und Entwicklungsfortschritte, die sich aus den Berichten der Einrichtung und der Zeugenaussage des Internatsleiters entnehmen ließen, zeigten, dass der Hilfeempfänger unter adäquaten Unterrichtsbedingungen schulische und persönliche Erfolge verzeichnen könne. Der Hilfebedarf bestehe daher zu einem wesentlichen Teil wegen der körperlichen und geistigen Behinderung des Hilfeempfängers, so dass nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII den Leistungen der Jugendhilfe vorgingen.

6. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichts- und der vorgelegten Behördenakten verwiesen (§ 125 Abs. 1, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).

Entscheidungsgründe:

1. Für die Berufung ist von der Zulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs (§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO) auszugehen. Nach § 17 a Abs. 5 GVG prüft das Gericht, dass über ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung in der Hauptsache entscheidet, nicht, ob der beschrittene Rechtsweg zulässig ist. Der Verwaltungsgerichtshof entscheidet über die Berufung des Beklagten gegen das in der Hauptsache ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts, so dass er nach § 17 a Abs. 5 an die Bejahung des Verwaltungsrechtswegs durch das Verwaltungsgericht gebunden ist. Eine Ausnahme von der Bindung des Rechtsmittelgerichts gilt zwar in den Fällen, in denen das Verwaltungsgericht den beschrittenen Rechtsweg für zulässig erachtet und der Klage in der Hauptsache stattgegeben hat, entgegen § 17 a Abs. 3 Satz 2 GVG aber über die Zulässigkeit des Rechtswegs nicht vorab durch Beschluss entschieden hat, obwohl ein Beteiligter die Zulässigkeit des Rechtswegs gerügt hatte (BVerwG NJW 1994, 956; Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2006, § 41 RdNr. 36).

Im vorliegenden Fall hatte der Beklagte jedoch nicht die Zulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs gegenüber dem Verwaltungsgericht gerügt. Rüge ist das ausdrückliche Bestreiten des Rechtswegs, nicht lediglich das Anzweifeln (Eyermann/Rennert, VwGO, 12. Aufl. 2006, § 41 RdNr. 29). Der Beklagte hatte in seinem Schriftsatz vom 1. September 2005 gegenüber dem Verwaltungsgericht lediglich "die Frage nach der Zulässigkeit des Verwaltungsrechtsweges" gestellt, was für die Annahme einer Rüge im Sinn des § 17 a Abs. 3 Satz 2 GVG nicht ausreicht.

2. Die zulässige Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten zu Recht verpflichtet, dem Kläger die von ihm aufgewendeten Kosten für die Unterbringung des Hilfeempfängers in der Einrichtung R.-W.-H. in der Zeit vom 13. September 2004 bis 11. Januar 2006 zu erstatten.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch ist § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX. Nach dieser Vorschrift werden dann, wenn nach Bewilligung der Leistung durch einen Rehabilitationsträger nach § 14 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB IX festgestellt wird, dass ein anderer Rehabilitationsträger für die Leistung zuständig ist, von diesem dem Rehabilitationsträger, der die Leistung erbracht hat, dessen Aufwendungen nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften erstattet. Die Voraussetzungen dieser Erstattungsvorschrift liegen hier vor.

Der Kläger hat mit Bescheid vom 21. September 2004 als zweitangegangener Rehabilitationsträger die beantragte Hilfeleistung erbracht, nachdem der Beklagte den am 14. Juni 2004 bei ihm eingegangenen Leistungsantrag des Förderzentrums vom 9. Juni 2006 bereits mit Schreiben vom 15. Juni 2004 - und damit innerhalb der Zweiwochenfrist des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX - an den Kläger weitergeleitet hatte. Auch die weitere Voraussetzung für die Anwendung des § 14 SGB IX, dass es sich bei der dem Hilfeempfänger gewährten Hilfeleistung um eine Leistung zur Teilhabe gemäß § 4 SGB IX durch einen Rehabilitationsträger (§ 6 SGB IX) gehandelt hat, ist gegeben. Als Leistungen zur Teilhabe werden für einen Behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen im Sinn des § 2 Abs. 1 SGB IX u.a. Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gemäß § 5 Nr. 4 SGB IX erbracht. Dass der Hilfeempfänger aufgrund seiner hochgradigen Hörbehinderung zumindest körperlich behindert, mutmaßlich aber auch seelisch behindert im Sinn des § 2 Abs. 1 SGB IX ist, ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Die ihm durch Übernahme der Kosten für seine Unterbringung in der Hörbehindertenschule und dem Internat des Förderzentrums gewährte Hilfe war eine Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, weil hierzu alle Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen in speziellen Fördereinrichtungen gehören.

Schließlich sind sowohl der Kläger in seiner Eigenschaft als Träger der öffentlichen Jugendhilfe als auch der Beklagte in seiner Eigenschaft als überörtlicher Träger der Sozialhilfe für Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 5 Nr. 4 SGB IX Rehabilitationsträger gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 6 und 7 SGB IX.

Für die vom Kläger bewilligte Leistung war auch ein anderer Rehabilitationsträger, nämlich der Beklagte, zuständig. Dessen Zuständigkeit ergibt sich aus § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII (§ 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII a.F.). Danach gehen Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilferecht vor. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 23.9.1999 BVerwGE 109, 325) setzt die Anwendung der gegenüber § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII spezielleren Regelung in Satz 2 nicht mehr voraus, als dass dessen Tatbestandsmerkmale vorliegen, dass also Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialhilferecht für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, geleistet werden oder zu leisten sind. Die Abgrenzung zwischen Satz 1 und 2 hängt demnach allein von der Art der mit einer Jugendhilfeleistung konkurrierenden Sozialhilfeleistung ab; ist diese eine Maßnahme der in Satz 2 bezeichneten Art, gilt nach Satz 2 der Vorrang der Sozialhilfe, ist diese eine andere Sozialhilfeleistung, gilt nach Satz 1 der Vorrang der Jugendhilfe.

Die Regelung eines Vor- bzw. Nachrangs zwischen Leistungen der Jugendhilfe und der Sozialhilfe nach § 10 Abs. 4 SGB VIII setzt notwendig voraus, dass sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind. Nur dann besteht ein Bedürfnis für eine Vor- bzw. Nachrangregelung. Dafür stellt das Gesetz nicht auf einen Schwerpunkt in Bezug auf eine der beiden Hilfeleistungen ab, sondern allein auf die Art der miteinander konkurrierenden Leistungen (BVerwG a.a.O.).

Der Verwaltungsgerichtshof geht mit beiden Beteiligten davon aus, dass der Hilfeempfänger wegen seiner hochgradigen Hörbehinderung einen Anspruch auf Eingliederungshilfe in Form von Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft für den Besuch einer Hörbehindertenschule besitzt, der sich sowohl aus Sozialhilferecht nach § 53 SGB XII als auch, wenn man mit dem Beklagten eine seelische Behinderung im Sinn des § 35 a Abs. 1 SGB VIII unterstellt, aus Jugendhilferecht nach § 35 a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 53 SGB XII ergibt. Streitig ist zwischen den Beteiligten nur die Frage, ob der Hilfeempfänger auch einen sozialhilferechtlichen Anspruch auf Übernahme der Kosten für seine vollstationäre Unterbringung im Schülerinternat des Förderzentrums besitzt.

Das ist entgegen der Auffassung des Beklagten zu bejahen. Dieser Anspruch besteht schon deshalb, weil der Hilfeempfänger nur auf der Hörbehindertenschule des R.-W.-H. Förderzentrums beschult werden konnte, nachdem er wegen seiner massiven Verhaltensproblematik die J.-R.-Schule in S. nicht mehr länger besuchen durfte. Im Bereich des Klägers gab es zu Beginn des Schuljahres 2004/2005 wie auch heute noch keine Hörbehindertenschule, auf die der Hilfeempfänger hätte gehen können. Das hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof nochmals ausdrücklich bestätigt. Dies ist vom Beklagten auch nicht in Abrede gestellt worden.

Die in der Stellungnahme des Pädagogisch-Audiologischen Beratungsstelle vom 12. Januar 2004 genannte Paracelsus-Schule in S. hatte für den Hilfeempfänger im Schuljahr 2004/2005 ebenfalls keinen Platz frei, wie bereits das Sonderpädagogische Förderzentrum St.Z. mit Schreiben vom 9. Juli 2004 gegenüber dem Kläger bestätigt hat. Da die Hörgeschädigtenschule des privaten Förderzentrums aber vom Wohnort des Hilfeempfängers und seiner Eltern im Bereich des Klägers soweit entfernt liegt, dass sie vom Hilfeempfänger nur im Wege einer Internatsunterbringung besucht werden kann, umfasst der sozialhilferechtliche Anspruch des Hilfeempfängers auf Gewährung von Eingliederungshilfe auch die Übernahme der Kosten einer vollstationären Unterbringung. Die vom Bundesverwaltungsgericht für eine Anwendung der Vorrangregelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII geforderte Leistungskongruenz liegt somit bezüglich einer Kostenübernahme für die vollstationäre Unterbringung vor. Auf den vom Beklagten hervorgehobenen Umstand, dass der Hilfeempfänger ohne seine - mutmaßlich auf einer seelischen Behinderung beruhende - Verhaltensauffälligkeit weiterhin die Hörbehindertenschule in S. hätte ambulant besuchen können, kommt es angesichts des konkreten, tatsächlichen Hilfebedarfs des Hilfeempfängers für eine vollstationäre Beschulung nicht an.

Nach alledem ist die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 2. Halbsatz VwGO. Der Verwaltungsgerichtshof hat auf eine Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung verzichtet, weil er davon ausgeht, dass der Kläger nicht beabsichtigt, seine ohnehin nur in geringer Höhe angefallenen außergerichtlichen Kosten vor Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung zu vollstrecken.

4. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Beschluss:

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 50.000 Euro festgesetzt (§§ 47, 52 Abs. 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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