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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 31.03.2004
Aktenzeichen: 12 CE 03.3431
Rechtsgebiete: SGB VIII, SGB IX


Vorschriften:

SGB VIII § 35 a Abs. 1
SGB VIII § 36
SGB IX § 15 Abs. 1 Satz 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
12 CE 03.3431

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

In der Verwaltungsstreitsache

wegen

Kinder- und Jugendhilferechts

(Antrag nach § 123 VwGO);

hier: Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 10. September 2003,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Werner, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dhom, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Traxler

ohne mündliche Verhandlung am 31. März 2004

folgenden

Beschluss:

Tenor:

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, das Schulgeld für den Besuch einer Privatschule zu übernehmen.

Die am 22. Juni 1995 als jüngste von vier Geschwistern geborene Antragstellerin besucht seit September 2001 die W.-Schule in I.. Derzeit befindet sie sich in der 3. Klasse. Am 30. September 2002 beantragte ihre allein erziehende Mutter die Gewährung von Eingliederungshilfe unter Vorlage eines Gutachtens eines Kinder- und Jugendpsychiaters. Nach dem Gutachten vom 22. September 2002 leide die Antragstellerin an Dyskalkulie und Konzentrationsschwächen, was ihr Selbstwertgefühl beeinträchtige. Wegen ihrer Dyskalkulie und ihrer Konzentrationsdefizite sei eine Beschulung in der W.-Schule sehr notwendig. Die festgestellte Konzentrationsschwäche deute auf ein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) hin. Dazu sei eine weitere Abklärung erforderlich. Nach einem Test vom 14. Oktober 2002 wurde bei der Antragstellerin eine mittelschwere Dyskalkulie festgestellt. Am 29. April 2003 beschlossen die Fachkräfte des Antragsgegners eine ambulante Dyskalkulie-Therapie. Der Besuch der W.-Schule sei nicht notwendig, da die Antragstellerin in der Schule nicht ausreichend gefördert werden könne. Bezüglich der Konzentrationsdefizite bedürfe es einer weiteren Abklärung. Mit Bescheid vom 6. Mai 2003, gegen den rechtzeitig Widerspruch eingelegt wurde, wurde die Kostenübernahme für den Besuch der Privatschule abgelehnt.

Mit Beschluss vom 10. September 2003 hat das Verwaltungsgericht den Antrag, die Kosten für den Besuch der W.-Schule abgelehnt, weil die Notwendigkeit des Besuchs der Privatschule neben der zwischenzeitlich gewährten Dyskalkulie-Therapie nicht glaubhaft gemacht worden sei. Angesichts der hohen Klassenstärke in der Privatschule sei die Möglichkeit der Einzelförderung sehr begrenzt. Zusammen mit der Dyskalkulie-Therapie und einer begleitenden sozialpädagogischen Familienhilfe komme möglicherweise auch der Besuch einer Regelschule in Betracht.

Mit ihrer Beschwerde begehrt die Antragstellerin weiterhin die Übernahme der Kosten für den Besuch der Privatschule. Zur Begründung hat sie ein weiteres Gutachten des Kinder- und Jugendpsychiaters Dr. A. vom 19. Januar 2004 vorgelegt, in dem festgestellt wird, dass die Antragstellerin an einem ADS leidet. Gleichzeitig hat sie eine Stellungnahme der Privatschule vom 10. Februar 2004 über die Therapiemöglichkeiten für Kinder mit ADS übermittelt.

Sie beantragt,

unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 10. September 2003 dem Antragsgegner aufzugeben, das Schulgeld der Antragstellerin für den Besuch der W.-Schule in I. einstweilen bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache zu übernehmen.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Wegen weitere Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg.

1. Es bestehen bereits Zweifel an der Dringlichkeit der begehrten Anordnung, weil die Mutter der Antragstellerin offenbar in der Lage ist, den Schulbesuch ihrer Tochter zu finanzieren, und dies auch tut, so dass die Antragstellerin den Eintritt unzumutbarer Nachteile ohne den Erlass der begehrten Anordnung wohl nicht zu befürchten hat.

2. Ungeachtet der Zweifel am Vorliegen eines Anordnungsgrundes scheitert der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung aber, weil die Antragstellerin keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO, § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB X).

Die Parteien stimmen überein, dass die Antragstellerin zum anspruchsberechtigten Personenkreis nach § 35 a Abs. 1 SGB VIII gehört und ihr Eingliederungshilfe in Form einer ambulanten Dyskalkulie-Therapie zu gewähren ist. Streitig ist allein, ob der Antragstellerin zusätzlich die Fortsetzung des Besuchs der Privatschule zu ermöglichen ist.

Die Antragstellerin leidet, wie im Gutachten des Kinder- und Jugendpsychiaters Dr. A. vom 19. Januar 2004 festgestellt ist, an einem sogenannten Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS). Daher hat sie grundsätzlich Anspruch auf therapeutische Maßnahmen, um sie zu befähigen, sich über einen längeren Zeitraum zu konzentrieren und Ziele planmäßig anzustreben. Über die im Einzelfall geeigneten und notwendigen Hilfemaßnahmen haben nach § 36 Abs. 2 und 3 SGB VIII die Fachkräfte des Antragsgegners unter Mitwirkung der Antragstellerin, ihrer Mutter und eines in der Hilfe für Behinderte erfahrenen Arztes zu entscheiden. Weil es sich bei dieser Entscheidung um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses handelt, der nicht den Anspruch auf objektive Richtigkeit erhebt, sondern der eine angemessene Lösung zur Bewältigung der Belastungssituation enthalten muss, steht dem Antragsgegner bei seiner Entscheidung ein Beurteilungsspielraum zu, der nur einer eingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt (vgl. BVerwGE 109, 155). Ein Anspruch auf den von der Antragstellerin begehrten Besuch der Privatschule kommt daher nur in Betracht, wenn sich der Beurteilungsspielraum bei der Festlegung der Hilfe auf eine oder mehrere gleichermaßen geeignete und notwendige Maßnahmen verengt hat - wobei das Wahlrecht des Hilfeempfängers nach § 36 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB VIII begrenzt sein kann - oder wenn die Antragstellerin sich die begehrte Maßnahme zulässigerweise selbst beschaffen darf. Beides ist vorliegend nicht der Fall.

Zwar hält der Facharzt Dr. A. die bisher besuchte Privatschule für die geeignete und notwendige Beschulung, weil der Besuch einer Regelschule angesichts der Rechen- und Konzentrationsschwäche die daraus resultierende Schulversagensangst der Antragstellerin verstärken würde. Das Gutachten klärt aber nicht, ob und in welchem Umfang die in der Privatschule angebotenen Unterrichtsformen geeignet sind, die Defizite der Antragstellerin nachhaltig zu verbessern. Auch die allgemeinen Darstellungen des Schulträgers bedürfen noch einer Konkretisierung auf die Situation der Antragstellerin. In Betracht kommt im vorliegenden Fall auch der Besuch einer Förderschule, wo die Antragstellerin in kleinen Gruppen intensiv betreut und gefördert werden kann. Gegebenenfalls müssen die Hilfemaßnahmen auch durch eine Familientherapie ergänzt werden (vgl. zu den unterschiedlichen Therapieformen die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin zur Diagnostik und Therapie bei ADHS vom 14.2.2001). Müssen aber im vorliegenden Fall die geeigneten Therapiemaßnahmen im Rahmen des pädagogischen Entscheidungsprozesses noch untersucht und bewertet werden, so steht der Antragstellerin derzeit ein Anspruch auf die gewünschte Leistung nicht zu.

Ein Anspruch kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt in Betracht, dass die Antragstellerin nach § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX berechtigt ist, sich die für erforderlich gehaltene Eingliederungshilfe selbst zu beschaffen. Auf die Selbstbeschaffung zur effektiven Durchsetzung eines bestehenden Hilfeanspruchs ist die Antragstellerin nur angewiesen, wenn der öffentliche Jugendhilfeträger die begehrte Leistung nicht rechtzeitig erbracht oder zu Unrecht abgelehnt hat (vgl. OVG NRW vom 14.3.2003 FEVS 55, 16). Ein solches "Systemversagen" liegt im vorliegenden Fall allerdings nicht vor.

Nach dem Gutachten des Facharztes Dr. A. vom 22. September 2002 und dem Rechentest vom 14. Oktober 2002 wurde bei der Antragstellerin zunächst eine Dyskalkulie diagnostiziert, der durch die inzwischen gewährte Therapie begegnet worden ist. Weitere Maßnahmen waren zunächst nicht angezeigt, da der Verdacht auf das Vorliegen von ADS noch weiterer Abklärung bedurfte. Nachdem nunmehr mit dem Gutachten vom 19. Januar 2004 bei der Antragstellerin ein ADS festgestellt worden ist, wird der Antragsgegner über die geeigneten und notwendigen Therapiemaßnahmen zu entscheiden haben. Anhaltspunkte dafür, dass er die Leistungen nicht rechtzeitig erbracht oder zu Unrecht abgelehnt hat, sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erkennbar.

3. Die Beschwerde ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.

4. Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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