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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 09.10.2003
Aktenzeichen: 25 CS 03.897
Rechtsgebiete: VwGO, BauGB, BayBO, BayVwVfG


Vorschriften:

VwGO § 71
VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 80 a Abs. 3
BauGB § 31 Abs. 2
BayBO Art. 6 Abs. 3 Satz 7
BayBO Art. 70
BayBO Art. 71
BayBO Art. 72
BayBO Art. 73
BayVwVfG Art. 45 Abs. 2
1. Eine vom Nachbarn angefochtene Baugenehmigung darf auch von der Widerspruchsbehörde mit einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB ergänzt werden.

2. Der Widerspruchsführer ist vor dieser Ergänzung zu hören. Ein Anhörungsmangel wird regelmäßig im verwaltungsgerichtlichen Verfahren geheilt.


Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

25 CS 03.897

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Nachbarklage (Kindertagesstätte; Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO);

hier: Beschwerde der Beteiligten gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 20. März 2003,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 25. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schechinger, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Holz, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dachlauer

ohne mündliche Verhandlung am 9. Oktober 2003

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. Unter Aufhebung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 20. März 2003 wird der Antrag abgelehnt.

II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Der Streitwert wird für beide Rechtszüge auf je 2.000 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Gegenstand des Rechtsstreits ist die sofortige Vollziehbarkeit einer Baugenehmigung, die sich die Antragsgegnerin für die Nutzungsänderung und den Umbau einer ehemaligen Jugendherberge in eine Kindertagesstätte auf dem Grundstück FlNr. 8834/1, Gemarkung W*******, erteilt hat. Die Antragstellerin ist Eigentümerin des Nachbargrundstücks FlNr. 8861/4, auf dem sich zwei Wohngebäude und ein Nebengebäude befinden.

Das Gebäude der Antragsgegnerin wurde mit Bescheid vom 8. Februar 1938 als "H***************" genehmigt und im gleichen Jahr errichtet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde es als Jugendherberge weiter betrieben. Während dieser Zeit wurden verschiedene - jeweils baurechtlich genehmigte - Umbauten und Renovierungsmaßnahmen durchgeführt. Seit 1992 wird das Gebäude von einem gemeinnützigen Verein zur Kinderbetreuung genutzt, der dort eine altersgemischte Kindergruppe und eine Krabbelstube eingerichtet hat. Im Zusammenhang mit vorgesehenen baulichen Änderungen zur Verbesserung des Brandschutzes beantragte das Sozialreferat der Antragsgegnerin im November 2001 auch die Genehmigung dieser geänderten Nutzung.

Mit Bescheid vom 17. Juli 2002 genehmigte die Antragsgegnerin die eingereichten Pläne zur Nutzungsänderung für eine Kindertagesstätte im ersten Dachgeschoss mit zwei Tagesräumen, für eine Hausmeisterwohnung im Erdgeschoss mit einem weiteren Tagesraum, für Büro- und Lagerzwecke im zweiten Dachgeschoss und für den Neubau einer Außentreppe als zweitem Fluchtweg. Auf den von der Antragstellerin hiergegen erhobenen Widerspruch hin ergänzte die Regierung von Unterfranken die Baugenehmigung unter Zurückweisung des Widerspruchs im Übrigen durch Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 2003 um folgende Bestimmungen:

a) Von der Einhaltung der im Bebauungsplan festgesetzten Art der baulichen Nutzung (reines Wohngebiet) wird eine Befreiung erteilt (§ 31 Abs. 2 BauGB).

b) Folgende weitere Auflage ist zu beachten:

"Sowohl die Außentreppenanlage wie auch der durch Blaueintrag in den Bauplänen in der Baugenehmigung enthaltene zweite Rettungsweg für den Tagesraum im Erdgeschoss dürfen nur im Notfall (d.h. bei Vorliegen einer konkreten Gefahr) genutzt werden. Dies ist durch entsprechende technische Vorkehrungen (z.B. nur von innen zu öffnender Panikriegel) an den Ausgängen sicherzustellen."

In den Gründen des Widerspruchsbescheids wird u.a. ausgeführt, der für den fraglichen Bereich geltende Bebauungsplan aus dem Jahr 1974 setze ein reines Wohngebiet fest und lasse wegen der damals geltenden Fassung der Baunutzungsverordnung im Gegensatz zur heutigen Rechtslage eine Anlage für soziale Zwecke auch nicht ausnahmsweise zu. Die Regierung habe aber aus städtebaulichen Gründen auch unter Würdigung der nachbarlichen Interessen eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans erteilen können. Das Vorhaben sei auch bauordnungsrechtlich zulässig und verstoße insbesondere nicht gegen das Abstandsflächenrecht. Das gelte auch für die neue, zum Grundstück der Antragstellerin hin vortretende Außentreppe, die als untergeordneter Bauteil abstandsflächenrechtlich außer Betracht bleibe. Aber selbst wenn man die Auffassung der Antragstellerin teilen würde, die Baumaßnahme sei abstandsflächenpflichtig, sei festzustellen, dass dann aufgrund der planungsrechtlichen Zulässigkeit des Bauvorhabens und insbesondere im Hinblick auf das bestehende, bestandsgeschützte Gebäude die Voraussetzungen für eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften vorlägen.

Die Antragstellerin ließ hiergegen Klage erheben, über die noch nicht entschieden wurde. Ihrem außerdem gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gab das Verwaltungsgericht statt. Seine Entscheidung beruht im wesentlichen auf drei Erwägungen: Die Widerspruchsbehörde habe die - materiell-rechtlich nicht zu beanstandende - Befreiung nicht selbst aussprechen können, weil sie der angefochtenen Ausgangsentscheidung keine neue Entscheidung hinzufügen dürfe. Sie habe auch zu Unrecht eine Anhörung der Antragstellerin hierzu im Widerspruchsverfahren analog § 71 VwGO unterlassen. Das bestandsgeschützte Gebäude halte die heutigen Abstandsflächenvorschriften nicht ein, wovon wegen der Nutzungsänderung nur aufgrund einer Abweichung abgesehen werden dürfe; eine solche sei aber von der Beklagten nicht erteilt worden.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Vertreters des öffentlichen Interesses. Er hält die Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde zur nachträglichen Erteilung einer erforderlichen Befreiung für gegeben, weil der Verfahrensgegenstand des Widerspruchsverfahrens durch das konkrete Bauvorhaben bestimmt werde und nicht durch einzelne Regelungen des Verwaltungsakts. Einer Anhörung nach § 71 VwGO habe es nicht bedurft, weil die Erteilung einer Befreiung keine zusätzliche Beschwer enthalte. Das Bauvorhaben verstoße auch nicht gegen Abstandsflächenrecht, da das bestehende Gebäude keine die Antragstellerin belastende Veränderung erfahren habe. Für den Fall, dass dennoch eine Abweichung erforderlich gewesen wäre, habe die Widerspruchsbehörde diese hilfsweise in den Gründen ihres Bescheides erteilt; eine ausdrücklich im Tenor formulierte Abweichung sei in Anbetracht dieser Umstände nicht erforderlich gewesen.

Die Antragstellerin wendet sich gegen die Beschwerde. Sie beruft sich im Wesentlichen auf die Gründe des Verwaltungsgerichts und meint, es könne nicht Aufgabe der Widerspruchsbehörde sein, einen rechtswidrigen Verwaltungsakt durch Ergänzung oder Abänderung zu einem rechtmäßigen umzugestalten.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen, insbesondere auf die Begründung der Baugenehmigung, des Widerspruchsbescheids und des angefochtenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts. Folgende Akten haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidung: Verwaltungsgericht Würzburg Az. W 5 S 03.238 und W 5 K 03.168; Regierung von Unterfranken Az. 4160.12-40/02; Stadt W*******, Bauantragsmappen Nr. BA 11028, VP 848/93, VP 642/95; Bauakten B 602 (2 Bände), Bebauungsplanakten B 610/3 (4 Bände).

II.

Die nach § 146 Abs. 1, § 63 Nr. 4, § 147 VwGO zulässige Beschwerde ist begründet. Nach Überzeugung des Senats wird die Antragstellerin mit ihrer Klage gegen die Baugenehmigung letztlich keinen Erfolg haben, weshalb auch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 a Abs. 3, § 80 Abs. 5 VwGO, § 212 a BauGB) nicht gerechtfertigt ist.

1. Die für die Nutzung des Gebäudes als Kindertagesstätte der Antragsgegnerin erteilte Baugenehmigung (Art. 62, 72 Abs. 1 Satz 1 BayBO) begegnet keinen Bedenken.

a) Mit Recht haben sowohl die Widerspruchsbehörde als auch das Verwaltungsgericht angenommen, dass der für den fraglichen Bereich geltende Bebauungsplan aus dem Jahr 1974 mit seiner Festsetzung als reines Wohngebiet der beantragten Nutzung entgegensteht, weil nach der damals geltenden Regelung des § 3 BauNVO (i.d.F. der Bek. vom 26.11.1968, BGBl I S. 1237) Anlagen für soziale Zwecke dort auch nicht ausnahmsweise zugelassen waren. Ebenso zutreffend hat schon das Verwaltungsgericht erkannt, dass die von der Regierung von Unterfranken für das Vorhaben erteilte Befreiung von dieser Festsetzung gemäß § 31 Abs. 2 BauBG in materiell-rechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden ist. Die Behörde weist mit Recht darauf hin, dass das Gebäude bei Erlass des Bebauungsplans schon seit langem als Jugendherberge, also als Einrichtung für soziale Zwecke, verwendet wurde, und dass aus den Normaufstellungsmaterialien nichts zu entnehmen ist, was für eine bewusste Abkehr von dieser Nutzung sprechen könnte. Es drängt sich vielmehr der Eindruck auf, dass es sich hier um ein Versehen des Normgebers handelt. Wegen der Prägung des Gebiets durch diesen vorhandenen Bestand, aber auch wegen des in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen kirchlichen Gemeindezentrums, hat die Regierung von Unterfranken auch zutreffend angenommen, dass die Genehmigung einer weiteren Nutzung des Gebäudes als soziale Einrichtung gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB städtebaulich vertretbar ist. Die Abweichung berührt auch nicht die Grundzüge der Planung. Das Nebeneinander von sozialer Einrichtung und Wohnbebauung hatte bei Erlass des Bebauungsplans bereits seit langem bestanden. Der Plangeber selbst muss von einem Fortbestand dieser Situation ausgegangen sein. Unter diesen Umständen kann der Wechsel von einer sozialen Nutzung zu einer anderen die Grundkonzeption des Bebauungsplans nicht berühren.

Der Regierung von Unterfranken ist auch darin zuzustimmen, dass die Befreiung mit den nachbarlichen Interessen der Antragstellerin vereinbar ist. Das Grundstück der Antragstellerin ist von der Nachbarschaft der Jugendherberge von Anfang an geprägt. Nach heutiger Rechtslage wäre dieses Nebeneinander auch in reinen Wohngebieten jedenfalls ausnahmsweise auch ohne ausdrückliche Festsetzung zulässig (vgl. § 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO). Der Senat teilt auch die Auffassung der Regierung, dass die nunmehr genehmigte Nutzung als Kindertagesstätte tendenziell in einem Wohngebiet weniger Spannungen hervorruft als die einer Jugendherberge. Der von der Antragstellerin vor allem kritisierte Zufahrtsverkehr wäre bei einer Jugendherberge unter den heutigen Lebensverhältnissen keinesfalls geringer.

b) Die vom Verwaltungsgericht im Anschluss an die Rechtsprechung des 2. Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH vom 7.7.1998 Az. 2 B 95.3824) erhobenen formell-rechtlichen Bedenken gegen die Erteilung der Befreiung durch die Widerspruchsbehörde selbst teilt der erkennende Senat nicht. Nach § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO sind vor Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Der Devolutiveffekt führt zu einer umfassenden Kontrollkompetenz der Widerspruchsbehörde. Sie hat die gleichen Prüfungs- und Entscheidungsbefugnisse wie die Ausgangsbehörde. Sie ist zur Änderung, Aufhebung und Ersetzung des Ausgangsbescheids einschließlich seiner Begründung und aller Ermessenserwägungen befugt. Ausgangsverfahren und Widerspruchsverfahren sind eine Einheit (allgemeine Meinung, vgl. z.B. Dolde in Schoch/Schmidt/Aßmann/Pietzner, VwGO, RdNr. 36 zu § 68; Kopp/Schenke, VwGO, 13. Auflage 2003, RdNr. 9 zu § 68; Rennert in Eyermann, VwGO, 11. Auflage 2000, RdNr. 12 zu § 68). Diese Entscheidungskompetenz ist allerdings durch den Rahmen beschränkt, den der Widerspruch eröffnet hat. Auch das ist im Grundsatz unstreitig. Fraglich kann im vorliegenden Fall somit nur sein, ob sich die von der Widerspruchsbehörde vorgenommene Ergänzung der angefochtenen Baugenehmigung um eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauBG in diesem Rahmen hält. Das ist nach Überzeugung des Senats der Fall (vgl. ebenso Jäde in Jäde/Dirnberger/Bauer/Weiß, BayBO, RdNr. 8 a zu Art. 70). Gegenstand des Widerspruchsverfahrens ist nämlich nicht nur ein bestimmter Baugenehmigungsbescheid, sondern auch das vom Bauherrn zur Genehmigung gestellte Vorhaben. Die Widerspruchsbehörde hat deshalb bei Nachbarwidersprüchen nicht nur zu prüfen, ob die erteilte Baugenehmigung Nachbarrechte verletzt, sondern auch, ob das beantragte Vorhaben unter Vermeidung dieser Rechtsverletzungen genehmigt werden kann. Wenn das, wie im vorliegenden Fall, durch Erteilung einer Befreiung geschehen kann, kann die Widerspruchsbehörde aufgrund des Devolutiveffekts selbst handeln und muss nicht die Sache an die Ausgangsbehörde zurückgeben.

Dagegen spricht auch nicht der Umstand, dass § 31 Abs. 2 BauGB die Befreiung getrennt von der Baugenehmigung (Art. 72 f. BayBO) regelt. Die bauplanungsrechtlichen Anforderungen sind nach Art. 72 Abs. 1, Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 BayBO im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen, eine etwa erforderliche Befreiung ist konkludent als im Bauantrag mitbeantragt anzusehen. Ist die Entscheidung über die Befreiung somit integraler Bestandteil des Baugenehmigungsverfahrens, so kann es für den Umfang des Devolutiveffekts auch nicht darauf ankommen, ob die Ausgangsbehörde sich damit noch nicht befasst hatte, weil sie fehlerhaft die Notwendigkeit dazu verkannte. Der Vertreter des öffentlichen Interesses weist zutreffend darauf hin, dass die Interessenlage bei nachträglicher Erteilung einer erforderlichen Befreiung nicht anders ist, als wenn beispielsweise eine unzulängliche Ermessensbetätigung der Ausgangsbehörde nachgebessert wird und dadurch der Rechtsfehler des angefochtenen Bescheides im Widerspruchsverfahren geheilt wird.

c) Die vor Erteilung der Befreiung durch die Widerspruchsbehörde unterbliebene Anhörung der Antragstellerin wird voraussichtlich ebenfalls nicht zu einer Aufhebung der angefochtenen Baugenehmigung führen. Nach § 71 VwGO soll dann, wenn die Aufhebung oder Änderung eines Verwaltungsaktes im Widerspruchsverfahren erstmalig mit einer Beschwer verbunden ist, der Betroffene vor Erlass des Abhilfebescheids oder des Widerspruchsbescheids gehört werden. Die Vorschrift ist hier zwar nicht unmittelbar anwendbar, weil Gegenstand und Umfang des genehmigten Vorhabens durch den Widerspruchsbescheid nicht geändert wurden. Sie ist aber entsprechend heranzuziehen, weil mit der durch eine Ermessensentscheidung der Regierung nachgeschobenen Befreiung die Baugenehmigung auf eine neue Rechtsgrundlage gestützt werden soll (vgl. Geis in Sodan/Ziekow, VwGO, RdNr. 4 zu § 71; Rennert a.a.O. RdNr. 2 zu § 71; Funke-Kaiser in Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, VwGO, RdNr. 4 zu § 71). Dagegen spricht auch nicht, dass § 71 VwGO die Anhörungspflicht von einer erstmaligen Beschwer eines Betroffenen abhängig macht. Eine solche liegt zwar hier nicht in der neuerteilten Befreiung, denn diese ändert am Umfang und an der Auswirkung des genehmigten Vorhabens im Verhältnis zur Antragstellerin nichts. Die Beschwer liegt auch nicht darin, dass die Befreiung nun die zunächst rechtswidrige Baugenehmigung heilt, denn für einen Anspruch der Antragstellerin auf Aufrechterhaltung der Rechtswidrigkeit der sie belastenden Genehmigung gibt es keine Rechtsgrundlage. Die Beschwer im Sinne des § 71 VwGO kann wohl auch nicht unmittelbar aus § 79 Abs. 2 Satz 2 VwGO gefolgert werden, wonach als zusätzliche Beschwer auch die Verletzung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift gilt. Sie würde nämlich dem Gesetzeswortlaut den Zirkelschluss unterstellen, dass die Pflicht zur Anhörung durch Verletzung der Anhörungspflicht entsteht. Der Senat stimmt dennoch der oben zitierten Auffassung im Ergebnis zu (ebenso wohl Jäde a.a.O. RdNr. 31 zu Art. 71; Dirnberger in Simon/Busse, BayBO, RdNr. 16 zu Art. 71) und hält insoweit eine analoge Anwendung des § 71 VwGO für geboten. Das Nachschieben einer Befreiung kann für das Interesse des Widerspruchsführers am Weiterbetreiben seines Verfahrens von ebenso großer Bedeutung sein, wie eine materielle reformatio in peius. Zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung trifft die Widerspruchsbehörde daher grundsätzlich die Pflicht zu einem entsprechenden Hinweis.

An dieser Pflicht ändert es auch nichts - wie der Vertreter des öffentlichen Interesses meint -, dass in Bayern im Baugenehmigungsverfahren die Anhörung des Nachbarn auf die Vorlage von Lageplan und Bauzeichnungen beschränkt ist (Art. 71 Abs. 1 Satz 1 BayBO) und die allgemeine Anhörungsvorschrift des Art. 28 BayVwVfG nach Art. 71 Abs. 2 Satz 2 BayBO keine Anwendung finden soll. Es mag sein, dass damit - wie der Vertreter des öffentlichen Interesses vorträgt - das bayerische Bauordnungsrecht bewusst eine gesonderte Anhörung des Nachbarn zu beabsichtigten Abweichungen und Befreiungen ausschließen wollte. Es kann auch offen bleiben, wie sich eine solche Einschränkung der Anhörung des Nachbarn vor beabsichtigten Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB zu der Subsidiaritätsklausel des § 1 Abs. 3 VwVfG verhält, nach der für die Ausführung von Bundesrecht durch die Länder das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes nur insoweit nicht gilt, als die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden landesrechtlich durch ein Verwaltungsverfahrensgesetz geregelt ist. Auch wenn man nämlich annähme, dass dies eine Unterschreitung des in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder einheitlich gefundenen rechtsstaatlichen Standards für den Bereich der Baugenehmigungen nicht hindere, so könnte das jedenfalls das in § 68 ff. VwGO bundesrechtlich geregelte Widerspruchsverfahren nicht beeinflussen.

Der Verstoß gegen die Anhörungspflicht des § 71 VwGO ist aber entsprechend Art. 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BayVwVfG unbeachtlich, weil die Anhörung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nachgeholt wurde. Die Vorschrift, die unmittelbar nur für das Verwaltungsverfahren gilt, ist entsprechend auch im Widerspruchsverfahren anwendbar (vgl. Rennert a.a.O. RdNr. 5). Nach Auffassung des Senats reicht es als nachgeholte Anhörung aus, dass die Antragsgegnerin sich zu den in der Klageschrift enthaltenen Einwänden gegen die Befreiung geäußert hat. Dass im vorliegenden Fall die einer anderen Körperschaft angehörende Regierung von Unterfranken als Widerspruchsbehörde zur Anhörung nach § 71 VwGO berufen war, schadet nicht. Weil das Widerspruchsverfahren und damit auch der Devolutiveffekt beendet war, ist die Zuständigkeit für den Verwaltungsakt, in dessen "Gestalt" der Widerspruchsbescheid aufgeht (vgl. § 79 VwGO), nunmehr wieder auf die Ausgangsbehörde zurückgefallen. Dass eine Nachholung im Hinblick auf die entfallene Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde gänzlich ausscheiden sollte, erschiene mit dem Zweck des Art. 45 Abs. 2 BayVwVfG, der die Heilung derartiger Mängel bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ermöglichen möchte, als nicht vereinbar. Im Übrigen hat im vorliegenden Fall auch die Regierung von Unterfranken - in der Funktion als Vertreter des öffentlichen Interesses - am Klageverfahren teilgenommen und auf das Klagevorbringen reagiert (vgl. Schreiben der Regierung von Unterfranken vom 24.2.2003 in der Akte des Verwaltungsgerichts Az. W 5 K 03.168). Der Senat verkennt nicht, dass bei dieser Rechtslage die gesetzliche Anhörungspflicht des § 71 VwGO weitestgehend ohne Sanktion bleibt, hält dieses Ergebnis aber für vom Gesetzgeber gewollt.

2. Die vom Verwaltungsgericht geäußerten und von der Antragstellerin unterstützten Bedenken gegen die Vereinbarkeit des Vorhabens mit Abstandsflächenvorschriften werden ebenfalls nicht geteilt.

a) Die Genehmigung der Nutzungsänderung von dem formell und materiell rechtmäßigen Betrieb einer Jugendherberge zu dem - faktisch bereits seit geraumer Zeit bestehenden, aber noch nicht genehmigten - Betrieb einer Kindertagesstätte, konnte ohne Rücksicht auf die derzeit geltenden Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO erteilt werden. Die Nutzungsänderung eines Gebäudes ist abstandsflächenrechtlich nur dann relevant, wenn durch sie auch die Frage der Genehmigung des Gebäudebestandes selbst neu aufgeworfen wird. Das wäre dann der Fall, wenn durch die Änderung der bisherige Interessenausgleich unter den Grundstückseigentümern in Frage gestellt würde (vgl. BayVGH - 14. Senat - vom 20.2.1990 BayVBl 1990, 500). Denkbar wäre das insbesondere dann, wenn für die bisherige Nutzung eine abstandsflächenrechtliche Privilegierung bestand (vgl. Dirnberger in Jäde/Dirnberger/Bauer/Weiß, BayBO, RdNr. 28 zu Art. 6) und wenn der nach bayerischem Abstandsflächenrecht geschützte Belang des nachbarlichen Wohnfriedens erheblich betroffen wäre (vgl. BayVGH a.a.O.). Beides scheidet hier offensichtlich aus. Die Befürchtung, eine Kindertagesstätte könnte für die Nachbarschaft störender sein als eine Jugendherberge, ist weder belegt noch nachvollziehbar. Soweit die Antragstellerin wegen der schon längere Zeit zurückliegenden Beendigung der Nutzung als Jugendherberge auch eine solche heute für nicht mehr zulässig erachtet, verkennt sie die Reichweite der bisherigen Baugenehmigungen (vgl. hierzu BayVGH - 15. Senat - vom 20.2.2003 BauR 2003, 1551).

b) Schließlich ist auch die Genehmigung zur Errichtung der Außentreppe nicht zu beanstanden. Der Senat teilt dabei die Auffassung der Regierung von Unterfranken, dass die Treppe wegen ihrer geringen Ausmaße als untergeordneter Bauteil im Sinne von Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO anzusehen ist. Der abstandsflächenrechtliche Belang des Wohnfriedens, den die Antragstellerin bedroht sieht, wird durch die allein genehmigte Nutzbarkeit als Fluchtweg nicht betroffen. Bei natürlicher Betrachtungsweise ist durch die Neuerrichtung dieses Bauteils auch nicht von der Neuerrichtung einer einheitlichen Außenwand auszugehen (vgl. Dhom in Simon/Busse, a.a.O., RdNr. 15 f. zu Art. 6). Nach der Rechtsprechung des Senats (BayVGH vom 10.10.2001 Az. 25 ZS/CS 01.2529) ist daher die Abstandsfläche nach dem jetzt geltenden Recht isoliert nur für den neuen Bauteil zu überprüfen. Ob dabei Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO in der Weise angewandt werden kann, dass die Außentreppe als untergeordneter Bauteil abstandsflächenrechtlich außer Betracht bleibt, wie die Regierung von Unterfranken meint, kann hier offen bleiben. Zweifel an dieser Auffassung könnten sich daraus ergeben, dass die Treppe selbst zwar nicht mehr als 1,50 m vor die Außenwand vortritt, die Außenwand selbst aber bereits die heute zulässige Abstandsfläche um mehr als diesen Abstand verkürzt. Auch wenn man deshalb aber für die Außentreppe die Einhaltung einer eigenen Abstandsfläche forderte, käme diese wohl noch auf dem Baugrundstück zu liegen. Die Höhe der Außentreppe entspricht nach den genehmigten Plänen wohl dem Abstand zur Grundstücksgrenze der Antragstellerin, und hält damit das Maß von 1 H gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1, Abs. 3 BayBO ein. Sollte sich die in den Bauvorlagen aufgeführte Höhenkote +/- 0,00 nicht auf die Geländeoberfläche beziehen, wäre jedenfalls die von der Regierung von Unterfranken hilfsweise in den Gründen des Widerspruchsbescheids ausgesprochene Abweichung nach Art. 70 Abs. 1 BayBO aus der Sicht des Senats nicht zu beanstanden.

3. Kostenentscheidung: § 154 Abs. 1 VwGO; Streitwert: § 25 Abs. 2 Satz 2, § 20 Abs. 3, § 14 Abs. 1, 2, § 13 Abs. 1 Satz 1, 2 analog GKG.

Ende der Entscheidung

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