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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 23.05.2005
Aktenzeichen: 25 ZB 03.881
Rechtsgebiete: VwGO, BayBO


Vorschriften:

VwGO § 124 a Abs. 4 Satz 4
VwGO § 124 a Abs. 4 Satz 5 a. F.
VwGO § 60 Abs. 1
BayBO Art. 6
BayBO Art. 70
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

25 ZB 03.881

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Nachbarklage (Dachumbau);

hier: Anträge des Beigeladenen und der Beteiligten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 13. März 2003,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 25. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schechinger, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dachlauer, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Petz

ohne mündliche Verhandlung am 23. Mai 2005

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. Die Anträge werden abgelehnt.

II. Der Beigeladene und die Landesanwaltschaft Bayern als Vertreter des öffentlichen Interesses tragen je zur Hälfte die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III. Der Streitwert des Zulassungsverfahrens wird auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe:

1. Der Antrag des Vertreters des öffentlichen Interesses auf Zulassung der Berufung ist unzulässig, weil seine Begründung entgegen § 124 a Abs. 4 Sätze 4 und 5 VwGO (in der hier noch anwendbaren Fassung des Art. 1 Nr. 14 RmBereinVpG vom 20.12.2001, BGBl I S. 3987; Art. 6 Nr. 2 a, Art. 14 des 1. Justizmodernisierungsgesetzes vom 24.8.2004, BGBl I S. 2198) nicht innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des angefochtenen Urteils bei dem Verwaltungsgericht eingereicht worden ist.

Die Frist für die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung gegen das dem Vertreter des öffentlichen Interesses am 24. März 2003 mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung zugestellte Urteil endete am 26. Mai 2003 (§ 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 und 2 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB). Durch den an den Verwaltungsgerichtshof adressierten und bei ihm am 23. April 2003 eingegangenen Begründungsschriftsatz wurde die Frist nicht gewahrt. Nach § 124 a Abs. 4 Satz 5 VwGO war die Begründung bei dem Verwaltungsgericht einzureichen, ohne dass die Möglichkeit einer alternativen Einreichung beim Verwaltungsgerichtshof vorgesehen war. Auch die am 24. Juni 2003 beim Verwaltungsgericht eingegangene Zulassungsbegründung konnte die inzwischen abgelaufene Begründungsfrist nicht wahren.

Die wegen der Fristversäumnis beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war abzulehnen, weil die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 VwGO nicht vorliegen. Die Landesanwaltschaft Bayern war nicht ohne Verschulden verhindert, die gesetzliche Begründungsfrist des § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO einzuhalten. Für die richtige Adressierung ihrer Schriftsätze und die Kenntnis des Prozessrechts ist sie genauso verantwortlich, wie andere rechtskundige Prozessbeteiligte (vgl. z.B. Jörg Schmidt in Eyermann, VwGO, 11. Aufl. 2000, RdNr. 18 zu § 60; BayVGH vom 27.4.2004 Az. 25 ZB 02.1252). Das Verschulden entfällt auch nicht etwa deshalb, weil die fehlerhafte Adressierung vom Verwaltungsgerichtshof nicht bemerkt wurde und der Schriftsatz in der noch nicht entscheidungsreifen Sache ohne nähere Prüfung den übrigen Beteiligten zur Kenntnisnahme übermittelt wurde. Zwar wird angenommen, dass im Hinblick auf den aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Anspruch auf ein faires Verfahren das angegangene Gericht, das zwar für das Rechtsmittelverfahren nicht zuständig ist, jedoch vorher selbst mit dem Verfahren befasst war, aus einer nachfolgenden Fürsorgepflicht gegenüber den Prozessparteien gehalten ist, fristgebundene Schriftsätze für das Rechtsmittelverfahren, die bei ihm eingereicht werden, im Zuge des ordentlichen Geschäftsgangs an das Rechtsmittelgericht weiter zu leiten (BVerfG vom 20.6.1995 NJW 1995, 3173/3175). Von dieser Fallgestaltung unterscheidet sich das vorliegende Verfahren aber in mehrfacher Hinsicht. Es handelt sich hier nicht um einen Zivilprozess, in dem Rechtsmittelbelehrungen nicht gegeben werden, der Vertreter des öffentlichen Interesses ist nicht mit einem Rechtssuchenden im Zivilprozess vergleichbar und die Fehladressierung des Begründungsschriftsatzes ist auch nicht ohne zusätzlichen, unzumutbaren Kontrollaufwand des Gerichts sofort erkennbar (vgl. dazu BVerfG a.a.O.; BVerfG - 3. Kammer des 1. Senats - vom 2.9.2002 NJW 2002, 3692 f.). Es besteht deshalb auch aus verfassungsrechtlichen Gründen kein Anlass, dem Vertreter des öffentlichen Interesses die Verantwortung für die Einhaltung der Formalien abzunehmen.

Der Antrag der Landesanwaltschaft Bayern auf Zulassung der Berufung war daher abzulehnen. Ihr Vorbringen in der Sache wurde aber hilfsweise als solches im Zulassungsverfahren des Beigeladenen, an dem sich der Vertreter des öffentlichen Interesses auch ohne eigenes Rechtsmittel beteiligen konnte, verstanden und bei der Entscheidung berücksichtigt.

2. Der Zulassungsantrag des Beigeladenen ist zulässig (§ 124 a Abs. 4 VwGO), aber unbegründet. Die geltend gemachten Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nrn. 1, 2 und 3 VwGO liegen nicht vor (§ 124 a Abs. 5 Satz 2 VwGO).

Das Verwaltungsgericht hat das angefochtene Urteil, mit dem es die Baugenehmigung für den Abbruch und die Neuerrichtung des Dachstuhls eines Mehrfamilienhauses des Beigeladenen unter Erhöhung der Dachneigung von 35 auf 45 Grad und Einbau von zwei neuen Wohneinheiten aufgehoben hat, auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt. Der Zulassungsantrag kann also nur dann Erfolg haben, wenn für jeden dieser Gründe die Zulassungsvoraussetzungen erfüllt sind (vgl. zur Revisionszulassung z.B. BVerwG vom 3.6.1996 NVwZ 1996, 998/999, ständige Rechtsprechung). Das ist hier nicht der Fall, denn die materiell-rechtliche Begründung des Verwaltungsgerichts, die Erteilung einer Abweichung nach Art. 70 Abs. 1 BayBO von abstandsflächenrechtlichen Vorschriften sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten, wirft keine Fragen auf, die zur Zulassung der Berufung führen könnten. Auf die formell-rechtlichen Gründe, auf die das Verwaltungsgericht die Aufhebung der Baugenehmigung ebenfalls gestützt hat (erstmalige Erteilung einer Abweichung/Befreiung durch die Widerspruchsbehörde; Anhörung nach § 71 VwGO vor dieser Maßnahme; hierzu hat sich der Senat ausführlich bereits in anderem Zusammenhang geäußert, vgl. BayVGH vom 9.10.2003 BayVBl 2004, 149), kommt es im vorliegenden Verfahren daher nicht an.

An der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestehen im Ergebnis keine ernstlichen Zweifel (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Das Verwaltungsgericht ist - wie im übrigen auch die Widerspruchsbehörde - zu Recht davon ausgegangen, dass durch den Abbruch und die völlige Neugestaltung des bisherigen Dachgeschosses auch die Frage der Genehmigung des Gebäudebestandes selbst neu aufgeworfen wird. Das kann auch dann der Fall sein, wenn sich die für die Berechnung der Abstandsflächen maßgeblichen gesetzlichen Parameter nicht relevant ändern, insbesondere wenn -wie hier- die vorgesehene Dachneigung 45 Grad noch nicht überschreitet (vgl. BayVGH vom 20.2.1990 BayVBl 1990, 500). Weil das Gebäude die nach Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO gebotene Abstandsfläche zum Grundstück des Klägers nicht einhält (statt 10,80m nur 5,40m Abstand zur Grenze), könnte die Baugenehmigung nur dann rechtmäßig sein, wenn die von der Widerspruchsbehörde zugelassene Abweichung von Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO ihrerseits rechtmäßig wäre. Das hat das Verwaltungsgericht mit Recht verneint.

Nach Art. 70 Abs. 1 BayBO setzt eine Abweichung u.a. voraus, dass sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Die Abweichung soll einer rechtlichen Unausgewogenheit begegnen, die sich ergeben kann, wenn aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls Anwendungsbereich und materielle Zielrichtung einer Vorschrift nicht übereinstimmen (vgl. Koch/Molodovsky/Famers, BayBO, Anm. 4.3.1 zu Art. 70). Es müssen also besondere objektive Verhältnisse gegeben sein, die den Fall deutlich vom Regelfall unterscheiden, ihn also als atypisch und anormal erscheinen lassen (Koch/Molodovsky/Famers a.a.O. Anm. 4.3.3 und 4.3.5 m.w.N.). Das ist in Bezug auf die Einhaltung der Abstandsflächen des Art. 6 Abs. 4 und 5 BayBO nicht stets allein schon deshalb der Fall, weil das Vorhaben Außenwände eines Altbestands einbezieht, der die Abstandsflächenvorschriften nicht einhält. Die gesetzlichen Ziele, ein bestimmtes Mindestmaß an Belichtung, Belüftung und Wohnfrieden sicherzustellen, gelten vielmehr für Neubauten und Umbauten gleichermaßen. Dass der Bauherr dadurch vor die Wahl gestellt ist, entweder seinen vom Gesetz abweichenden Altbestand im bisherigen Umfang weiter zu nutzen oder bei einer neuen Genehmigung das geltende Recht einzuhalten, ist im Gesetz selbst angelegt und kann nicht als anormaler, nicht bedachter Ausnahmefall angesehen werden. Das ändert allerdings nichts daran, dass das Vorhandensein eines Altbestandes eine objektive Gegebenheit darstellt, die bei Hinzutreten weiterer objektiver Umstände - z.B. Anforderungen der Stadtgestaltung - im Einzelfall eine atypische Sondersituation begründen kann. Hierzu ist im vorliegenden Fall aber nichts ersichtlich. Das vorhandene Gebäude nutzt die in ihm angelegten wirtschaftlichen Verwertungsmöglichkeiten bereits jetzt unter Verkürzung der Abstandsflächen zu den Nachbargrundstücken aus. Das neue Bauvorhaben dient der weiteren Optimierung dieses Sachverhalts, ist also nicht etwa die Folge einer durch den Altbestand vorgegebenen Zwangslage. Der Umbau ist für den Kläger als Grundstücksnachbarn auch nicht völlig irrelevant. Auch wenn sich rechnerisch die erforderliche Abstandsfläche wegen der Regelung in Art. 6 Abs. 3 Satz 4 BayBO nicht ändert, so wird doch das Gebäude im First um ca. 1,80 m erhöht. Dadurch werden nicht nur die Sichtbeziehungen vom Grundstück des Klägers nach außen beschränkt, sondern auch die Schattenwirkung des Gebäudes wird verstärkt. Diese tatsächliche Verschlechterung der Verhältnisse auf dem Nachbargrundstück wurde von der Widerspruchsbehörde bei Zulassung der Abweichung ebenso verkannt, wie die weitere Verfestigung der gesetzwidrigen Gebäudeabstände durch die neue Genehmigung und die daraus folgenden erheblichen Investitionen. Die erteilte Baugenehmigung ist damit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, weist die Rechtssache auch keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten in materiell-rechtlicher Hinsicht auf (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Auf die Frage, ob die streitgegenständliche Baugenehmigung auch aus formell-rechtlichen Gründen rechtswidrig ist und ob die insoweit geltend gemachten Zulassungsgründe der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten sowie der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 VwGO) vorliegen, kommt es - wie oben dargelegt - nicht an. Eine Grundsatzbedeutung in materiell-rechtlicher Hinsicht wurde im Zulassungsantrag von vornherein nicht geltend gemacht.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, 3, § 159 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 71 Abs. 1, § 72 Nr. 1 GKG, §§ 14, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG a.F..

Ende der Entscheidung

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