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Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 06.06.2005
Aktenzeichen: 4 ZB 03.3250
Rechtsgebiete: VwGO, AO
Vorschriften:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1 | |
AO § 34 | |
AO § 69 | |
AO § 169 | |
AO § 191 |
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
In der Verwaltungsstreitsache
wegen Gewerbesteuer/Haftungsbescheid;
hier: Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 08. Oktober 2003,
erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 4. Senat,
durch die Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgerichtshof Dr. Motyl, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Schmitz, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Kraft,
ohne mündliche Verhandlung am 6. Juni 2005
folgenden Beschluss:
Tenor:
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 8. Oktober 2003 wird der Streitwert für das erstinstanzliche und das Zulassungsverfahren auf je 105.880,15 Euro festgesetzt.
Gründe:
I.
Der Kläger wendet sich gegen seine Inanspruchnahme als Haftungsschuldner für Gewerbesteuerforderungen sowie Hinterziehungs- und Nachzahlungszinsen.
Mit Bescheid vom 26. November 2001 (in der Fassung der Bescheide vom 22. und 28.1.2003) nahm der Beklagte den Kläger hinsichtlich offener Gewerbesteuerforderungen gegenüber der I. GmbH aus den Jahren 1991 bis 1993 i.H. von 105.880,15 Euro (incl. Zinsen) in Haftung. Der Kläger war vom 21. Oktober 1991 bis 16. April 1993 (formal) alleiniger Geschäftsführer der genannten Gesellschaft; tatsächlich führte sein Vater die Geschäfte. Die Heranziehung des Klägers begründete der Beklagte mit der Nichterfüllung der Steuerpflicht und der Haftung als Vertreter der GmbH. Eine Heranziehung der GmbH sei infolge Löschung nicht mehr möglich. Ein Bescheid gleichen Inhalts sei auch an den Vater des Klägers als faktischem Geschäftsführer ergangen; dieser und der Kläger hafteten als Gesamtschuldner.
Dem Widerspruch des Klägers hat der Beklagte mit Bescheid vom 22. Januar 2002 hinsichtlich der ebenfalls geltend gemachten Forderungen für das Jahr 1994 "stattgegeben", im übrigen aber eine Abhilfe abgelehnt und die Begründung des Haftungsbescheides für das Jahr 1991 insgesamt und für das Jahr 1992 und 1993 in Höhe der Steuerschuld 1991 ausdrücklich auf den Tatbestand der Haftung des Steuerhinterziehers (§ 71 AO) erweitert. Durch die Nichtabgabe der Gewerbesteuererklärung für 1991 sei die Gewerbesteuer 1991 verkürzt und die rechtzeitig Festsetzung sowie Erhebung der Gewerbesteuervorauszahlungen für 1992 und die ersten beiden Kalendervierteljahre 1993 verhindert worden. Für eine Haftung aus § 71 AO sei eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung nicht notwendig.
Den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 21. März 2002 ab. Auf die Beschwerde des Klägers ordnete der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 4. Juli 2002 (Az.: 4 CS 02.878, NVwZ 2003, 358) die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs im wesentlichen mit der Begründung an, dass eine Haftung gem. § 71 AO die Feststellung des Vorliegens einer Steuerhinterziehung voraussetze. Aus dem Akteninhalt lasse sich nicht die Überzeugung gewinnen, dass der Kläger die Gewerbesteueranmeldung vorsätzlich unterlassen habe, um dem Beklagten die Gewerbesteuer auf Dauer vorzuenthalten. Die Verfahrenseinstellung nach § 153a Abs. 2 StPO rechtfertige diese Annahme angesichts der Unschuldsvermutung nicht und lasse erst recht keinen Rückschluss auf eine bestimmte Schwere der Schuld zu. Die angefochtenen Bescheide enthielten keine Feststellungen des Beklagten dazu, inwieweit vom Kläger eine vorsätzliche Hinterziehung der Gewerbesteuer in Höhe der Haftungssumme verwirklicht worden sei.
Das Verwaltungsgericht hat der Untätigkeitsklage des Klägers stattgegeben und mit Urteil vom 8. Oktober 2003 die streitgegenständlichen Haftungsbescheide aufgehoben. Den Entscheidungsgründen ist zu entnehmen, dass der Kläger zwar seine steuerlichen Pflichten verletzt habe, aber hinsichtlich der Haftung nach § 69 AO Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Die vierjährigen Haftungsfestsetzungsfristen für die Gewerbesteuerforderungen aus den Jahren 1991 bis 1993 seien abgelaufen. Die in § 191 Abs. 2 Satz 4 AO angeordnete Ablaufhemmung, wonach die Festsetzungsfrist für den Haftungsbescheid nicht vor Ablauf der Steuerfestsetzungsfrist ende, greife nicht zugunsten des Beklagten. In diesem Zusammenhang sei § 169 Abs. 2 Satz 2 AO, wonach die Festsetzungsfrist bei Steuerhinterziehung zehn Jahre betrage, nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs nicht anwendbar. Damit verbleibe es bei der vierjährigen Festsetzungsfrist des § 191 Abs. 3 Satz 2 AO. Die Vorschrift des § 71 AO komme als Haftungsgrundlage nicht in Betracht, da jedenfalls der subjektive Tatbestand einer durch den Kläger begangenen Steuerhinterziehung vom Beklagten nicht nachgewiesen worden sei.
Dagegen wendet sich der Beklagte mit dem auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützten Antrag auf Zulassung der Berufung, den er im Wesentlichen damit begründet, dass die Regelung des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO, wonach die Festsetzungsfrist bei Steuerhinterziehung 10 Jahre betrage, im Rahmen der Prüfung der Festsetzungsfrist für die Primärschuld entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sehr wohl anwendbar sei. Darüber hinaus könnten die streitgegenständlichen Haftungsbescheide auch auf § 71 AO gestützt werden. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dem Kläger könne ein ausreichender Vorsatz hinsichtlich der durch Unterlassen begangenen Steuerhinterziehung nicht nachgewiesen werden, verkenne die ihn treffende Garantenstellung aus seinem Pflichtenkreis als Geschäftsführer und den daraus abzuleitenden Generalvorsatz. Schließlich habe es das Verwaltungsgericht unterlassen, eine leichtfertige Steuerverkürzung in Betracht zu ziehen, bei der die Festsetzungsfrist fünf Jahre betrage.
Der Verwaltungsgerichtshof hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass Zweifel an der Richtigkeit der Argumentation des Verwaltungsgerichts mit Blick auf die angenommene Festsetzungsverjährung bestünden. Ergebnisbezogene Zweifel an der Richtigkeit des Urteils seien indes angesichts der defizitär erscheinenden Ermessensausübung in dem streitgegenständlichen Haftungsbescheid nicht zu erkennen. In der vorliegenden Fallkonstellation tatsächlicher Geschäftsführung durch den - ebenfalls in Haftung genommen - Vater des Klägers spreche einiges dafür, dass der Beklagte die Ausübung seines Auswahlermessens hinsichtlich der zusätzlichen Inanspruchnahme des Klägers hätte begründen müssen.
Dem ist der Kläger mit Schriftsatz vom 27. Mai 2005 entgegen getreten; auf seine Ausführungen wird Bezug genommen.
II.
Der auf den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
Wie der Senat bereits im Schreiben vom 27. April 2005 gegenüber den Beteiligten zum Ausdruck gebracht hat, erscheint die Argumentation des Verwaltungsgerichts durchaus zweifelhaft, soweit dieses auch im Rahmen der Prüfung des § 191 Abs. 3 Satz 4 AO Festsetzungsverjährung für den Erlass des streitgegenständlichen Haftungsbescheids angenommen hat. Die Nichtanwendung des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO (UA S. 13) erscheint mit Blick auf den von der Kammer angeführten Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 4. September 2002 (Az. I B 145/01, BStBl. II 2003, 223/225 rechte Sp.) zweifelhaft, nachdem jener Entscheidung eine Fallkonstellation zugrunde lag, in der - anders als hier - die Gewerbesteuer bereits festgesetzt worden war, so dass der Tatbestand der ersten Alternative des § 191 Abs. 3 Satz 4 AO nicht vorlag. Demzufolge beziehen sich die Aussagen des Bundesfinanzhofs zur Nichtanwendbarkeit des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO nur auf die zweite Alternative der genannten Vorschrift.
§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erfordert aber für die Zulassung der Berufung nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ergebnisbezogene Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (vgl. nur BayVGH, B.v. 9.1.2003 - 4 ZB 02.2863; B.v. 26.3.2003 - 8 ZB 02.2918, BayVBl. 2004, 50; B.v. 6.11.2003 - 22 ZB 03.2602); denn dieser Zulassungsgrund dient der Sicherung der Einzelfallgerechtigkeit (vgl. BVerwG, B.v. 15.12.2003 - 7 AV 2.03, NVwZ 2004, 744). Ergebnisbezogene Zweifel an der Richtigkeit bestehen hinsichtlich des die streitgegenständlichen Haftungsbescheide aufhebenden Entscheidungsausspruchs des Verwaltungsgerichts nicht, da diesen Bescheiden nicht zu entnehmen ist, ob der Beklagte sein (Auswahl-)Ermessen hinsichtlich der Heranziehung (auch) des Klägers als Haftungsschuldner ordnungsgemäß ausgeübt hat.
Bei der Inanspruchnahme eines nach den §§ 34, 69 AO Haftenden handelt es sich um eine Ermessensentscheidung (§ 191 Abs. 1 AO), die gem. § 114 Satz 1 VwGO (auch) darauf zu überprüfen ist, ob der Haftungsbescheid deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (vgl. BFH, U.v. 13.4.1978 - V R 109/75, BFHE 125/ 126 = BStBl. II 1978, 508; U.v. 3.2.1981 - VII R 86/78, BFHE 133, 1 = BStBl. II 1981, 493). Wegen der gerichtlichen Aufgabe zur Kontrolle behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht angesichts des Grundsatzes der Gewaltenteilung keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen lassen, muss die Ermessensentscheidung der Verwaltung im Haftungsbescheid begründet werden; andernfalls ist sie im Regelfall fehlerhaft. Dabei müssen nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs die bei der Ausübung des Ermessens angestellten Erwägungen - die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners - aus der Entscheidung erkennbar sein (vgl. BFH, U.v. 3.2.1981, a.a.O.). Insbesondere hat die Behörde zum Ausdruck zu bringen, warum sie den Haftungsschuldner anstatt des Steuerschuldners oder anstelle anderer ebenfalls für die Haftung in Betracht kommender Personen in Anspruch nimmt (BFH, U.v. 29.5.1990 - VII R 85/89, NJW 1991, 1198/1199).
Diesen Anforderungen wird der streitgegenständliche Haftungsbescheid nicht gerecht. Zwar brauchte der Beklagte keine Ausführungen zu einer Inanspruchnahme der zahlungsunfähigen und mittlerweile gelöschten I. GmbH als Steuerschuldnerin zu machen. Warum aber in der vorliegenden Fallkonstellation tatsächlicher Geschäftsführung durch den - ebenfalls in Anspruch genommen - Vater des Klägers auch der nur als Strohmann fungierende Kläger als Haftungsschuldner herangezogen wurde, hätte der Beklagte im Rahmen des ihm obliegenden Auswahlermessens begründen müssen. Weder der Bescheid vom 26. November 2001 noch das Schreiben der Beklagten vom 22. Januar 2002 enthält jedoch insoweit eine Begründung der Ermessensausübung.
Derartige Ausführungen waren entgegen der Annahme des Beklagten auch nicht überflüssig: Die Begründung einer Ermessensentscheidung über die Inanspruchnahme eines Haftenden ist nach den oben dargelegten Grundsätzen kein Selbstzweck, sondern dient der Überprüfung der Ermessensentscheidung. Gibt es in einem Fall nur eine Begründung, die sich den Beteiligten aus der Kenntnis der Umstände des Falles aufdrängen muss, so ist es nicht rechtsfehlerhaft, wenn die Behörde sie als überflüssige Formalität in dem Bescheid nicht explizit ausführt (BFH, U.v. 22.9.1992 - VII R 73-74/91, juris RdNr. 43). Eine derartige Situation liegt aber hier nicht vor, da bei der den vorliegenden Fall prägenden faktischen Alleingeschäftsführung des Vaters des Klägers für die Ausübung des Auswahlermessens der unterschiedliche Verschuldensgrad von faktischem und formalem Geschäftsführer als sachgerechtes und legitimes Differenzierungskriterium in Betracht gekommen wäre (vgl. BFH, U.v. 29.5.1990 - VII R 85/90, NJW 1991, 1198/1199). Der von dem Beklagten angeführten Entscheidung des Bundesfinanzhofs (U.v. 11.3.2004 - VII R 52/02, BStBl. II 2004, 579) ist nichts Gegenteiliges zu entnehmen; danach hat die Behörde bei der Auswahl der Haftungsschuldner auch die Heranziehung eines "Strohmann-Geschäftsführers" in Betracht zu ziehen und abzuwägen. Damit ist aber nicht gesagt, dass dessen Inanspruchnahme sich in jedem Fall von selbst versteht und daher niemals einer Begründung bedarf.
Zur Klarstellung sei unterstrichen, dass eine Inanspruchnahme des Klägers nicht etwa von vornherein als ermessensfehlerhaft ausgeschieden wäre; der Beklagte hätte jedoch in dem angefochtenen Bescheid die erforderlichen Erwägungen zur Ausfüllung des ihm eingeräumten Auswahlermessens hinreichend deutlich zum Ausdruck bringen müssen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO; die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 14 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG in der bis zum 1. Juli 2004 geltenden Fassung; die Änderung von Amts wegen aus § 25 Abs. 2 Satz 2 GKG a.F.. Die in dem streitgegenständlichen Bescheid festgesetzten Nachzahlungszinsen sind Teil der Hauptforderung und dürfen deshalb nicht gem. § 22 Abs. 1 GKG a.F. (= § 43 Abs. 1 GKG n.F.) außer Betracht bleiben (vgl. Hartmann, Kostengesetze, 33. Aufl. 2004, § 22 GKG RdNr. 2).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Ende der Entscheidung
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