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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 06.03.2007
Aktenzeichen: 9 B 06.30682
Rechtsgebiete: AufenthG, GG


Vorschriften:

AufenthG § 60 Abs. 7
GG Art. 1 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 2 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

9 B 06.30682

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG (Äthiopien);

hier: Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 27. Mai 2006,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 9. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Plathner, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Heinl, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Breit

aufgrund mündlicher Verhandlung vom 27. Februar 2007

am 6. März 2007

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, sofern nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger, ein äthiopischer Staatsangehöriger amharischer Volkszugehörigkeit, wurde am 11. September 1977 in Addis Abeba, Äthiopien, geboren. Er hat einen Zwillingsbruder und eine zwei Jahre jüngere Schwester. Sein Vater verdiente sein Geld mit einem kleinen Bauunternehmen. Er ist aber jetzt fast 70 und zu alt um noch Arbeit zu finden. Der Kläger hat die Schule bis zur 12. Klasse besucht und anschließend drei Jahre auf einem College studiert, ohne allerdings einen Abschluss zu machen. Seine Reise nach Deutschland hat zum Teil der Vater und zum Teil eine Freundin bezahlt.

Der Kläger beantragte am 13. August 2001 in Deutschland Asyl. Das Bundesamt lehnte den Antrag mit Bescheid vom 15. Juli 2002 ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 und des § 53 AuslG nicht vorliegen und drohte dem Kläger die Abschiebung nach Äthiopien an. Es glaubte dem Kläger die vorgetragene Verfolgungsgeschichte nicht.

Der Kläger erhob Klage zum Verwaltungsgericht Ansbach. Mit Schreiben vom 17. Februar 2003 teilte er mit, dass er an einer HIV-Infektion erkrankt sei und beantragte, das Bundesamt zu verpflichten festzustellen, dass bei ihm die Voraussetzungen des § 53 AuslG vorliegen. Im Übrigen nahm er die Klage zurück. Er legte ein ärztliches Attest der Gemeinschaftspraxis Dr. Abelein/Helm - HIV-Schwerpunktpraxis - vom 23. September 2003 vor, wonach er an einer chronischen HIV-Infektion (CDC B 2) leide und bei ihm eine antiretrovirale Kombinationstherapie, bestehend aus Viread, Epivir und Sustiva begonnen wurde. Am 10. September 2003 habe die Helferzellenzahl CD4 bei 294/µl, CD8 bei 845 µl und die Virus Load bei 2210 kop/ml gelegen.

Das Verwaltungsgericht holte Auskünfte zur Behandlung von HIV/Aids in Äthiopien und den dabei anfallenden Kosten bei der Deutschen Botschaft in Addis Abeba vom 12. Dezember 2003, 25. Juni 2004, 23. November 2004 und 2. August 2005 sowie beim Deutschen Institut für Ärztliche Mission e.V. (DIFÄM) in Tübingen vom 12. Mai 2005 und 22. März 2006 ein. Auf diese Auskünfte wird Bezug genommen.

Das Bundesamt legte eine Kostenzusicherung der Regierung von Mittelfranken - Zentrale Rückführungsstelle Nordbayern - vom 8. Oktober 2004 des Inhalts vor, dass im Fall der "freiwilligen" Ausreise oder der Abschiebung die Kosten übernommen werden, "die notwendig sein werden, damit der Antragsteller im Heimatland für sechs Monate einen gesicherten Zugang zu Medikamenten und Behandlungsmöglichkeiten erhält, soweit dies anderweitig nicht sichergestellt werden kann."

Der Kläger legte ein weiteres ärztliches Attest der o.a. Praxis vom 25. April 2005 vor mit der Diagnose "chronische HIV-Infektion (CDC B 2)"; Helferzellzahl am 15. Februar 2005 bei CD4 413/µl, CD8 568/µl, Virus Load unter 50 Kop/ml. Die Immunlage habe sich verschlechtert. Eine antiretrovirale Therapie werde mit Truvada und Sustiva durchgeführt. Es handle sich um eine Dauertherapie auf nicht absehbare Zeit. Der Kläger trug noch vor, er verfüge über keinerlei Möglichkeit, aufgrund von Unterstützung von Angehörigen im Heimatland die finanziellen Mittel aufbringen zu können, um für einen längeren Zeitraum Medikamente finanzieren zu können.

Das Verwaltungsgericht hob mit Urteil vom 27. Mai 2006 den Bescheid des Bundesamts in Ziff. 3 auf und verpflichtete das Bundesamt festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG beim Kläger hinsichtlich Äthiopiens vorliegen.

Zur Begründung führte es aus, § 60 Abs. 7 AufenthG sei analog anwendbar, wenn ein Ausländer im Fall seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgesetzt wäre. Nach dem Gutachten von DIFÄM vom 22. März 2006 sei dies vorliegend anzunehmen. HIV/Aids sei in Äthiopien grundsätzlich behandelbar; da aber Therapieplätze nur für 1,3 % der HIV-Erkrankten vorhanden seien, sei vom Vorliegen einer extremen Gefahr auszugehen. Die im Zusammenhang mit der antiretroviralen Therapie sich zwingend ergebenden Begleitkosten für Kontrolluntersuchungen (z.B. Viruslastbestimmung, Helferzellenfeststellungen etc.) seien vom Patienten aufzubringen. Angesichts der Kostenhöhe und der im Land herrschenden Armut sei dies jedoch nur einem mehr oder weniger exklusiven Personenkreis möglich. Für den Kläger wäre eine Behandlung in Äthiopien nicht möglich, weil er voraussichtlich keinen Therapieplatz bekäme und weil er die erforderlichen Mittel nicht aufbringen könnte. Für Patienten im fortgeschrittenen CDC Stadium B oder C (Aids-Vollbild mit charakterischen aidsdefinierten Erkrankungen) bedeute der erzwungene Abbruch der antiretroviralen Therapie innerhalb weniger Monate eine akute Verschlechterung der Erkrankung bis hin zum Tod. Eine extreme Gefahrenlage sei somit gegeben. Die zugesagten Medikamenten-/oder Geldmitgabe ändere daran nichts. Nach Verbrauch der mitgegebenen Medikamente bzw. des mitgegebenen Geldes, werde der Kläger sich in derselben Lage befinden. Sinn der Medikamentenmitgabe könne es nur sein, den Zeitraum nach der Rückkehr, den der Ausländer benötige, um alles für die Behandlung Erforderliche in die Wege zu leiten, überbrücken zu helfen, nicht jedoch, die sich aus der nicht gewährleisteten erforderlichen Behandlung ergebende Lebensgefahr um den Zeitraum der Medikamentenmitgabe hinauszuschieben.

Die Beklagte beantragte die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage, ob der Eintritt einer extremen Gefahrenlage "alsbald nach der Rückkehr" ins Heimatland, auch dann noch vorliege, wenn Medikamente und Geld für eine Therapie von einem Jahr oder gar noch länger mitgegeben würden. Der Verwaltungsgerichtshof ließ die Berufung mit Beschluss vom 10. August 2006 zu.

Zur Begründung der Berufung bezieht sich die Beklagte auf ihren Zulassungsantrag und führt noch aus, der Kläger gerate bei einer Rückkehr nach Äthiopien nicht in eine konkrete Gefahr, weil die Gefahr nicht alsbald eintrete. Dem Kläger könnten Geld und Medikamente für eine Therapie mitgegeben werden. Außerdem sei Äthiopien ein Entwicklungsland, was bedeute, dass bestimmte Gegebenheiten und Situationen sich kurzfristig verändern könnten. Hierzu verwies sie auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Arnsberg vom 9. Mai 2006. Aufgrund der sich ständig verbessernden Lage in Äthiopien sei heute nicht absehbar, dass der Kläger nach Verbrauch der mitgegebenen Medikamente und des mitgegebenen Geldes tatsächlich in Gefahr gerate, dass sich sein Gesundheitszustand bei einer Rückkehr nach Äthiopien im Verhältnis zu einem Verbleib in Deutschland wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtere.

Der Kläger legt ein Attest von Dr. Schneider vom 11. Februar 2007 vor, wonach er an einer HIV-Infektion Stadium B 2 nach CDC leide. Die aktuelle CD4 Zahl belaufe sich auf 496/µl. Die antiretrovirale Therapie werde mit Truvada und Efavirenz durchgeführt. Im Falle einer Therapieunterbrechung sei mit dem Ableben des Patienten innerhalb weniger Monate infolge von opportunistischen Infektionen wie Lungenentzündung und Meningitis zu rechnen.

Zur Sache führt der Kläger noch aus, die Zeitpunkte der Abschiebung und des Abbruchs der Medikamentenversorgung fielen bei Mitgabe von Geld für eine sechsmonatige Behandlung auseinander. Staatliches Handeln, das den Kläger in eine extreme Gefahrenlage bringe, könne nicht nur die Abschiebung sein, sondern auch die Nichtmitgabe von Medikamenten für die gesamte Dauer der erforderlichen Behandlung. Es werde deutlich, dass die Mitgabe von Geld für Medikamente ausschließlich dem Zweck diene, die Folgen des staatlichen Handelns - der Abschiebung - über den von der Rechtsprechung angenommenen relevanten Zeitpunkt hinauszuschieben und so ein einzelnes Tatbestandsmerkmal auszuhebeln. Der Fall sei vergleichbar dem Aussetzen eines Straftäters auf hoher See: Auch hier könne das verfassungsrechtliche Verbot der Verhängung einer derartigen Strafe nicht dadurch umgangen werden, dass dem Betroffenen eine Ration Lebensmittel mitgegeben werde. Auch dann werde er - nach Verbrauch der Lebensmittel - zum bloßen Objekt staatlichen Handelns.

Zu beachten sei auch, dass es beim Import von Medikamenten in Äthiopien immer wieder zu Engpässen und längeren Einfuhrunterbrechungen komme und schon bei 5 %iger noncompliance der Therapieerfolg insgesamt gefährdet sei. Die HIV/Aids-Behandlung bedürfe ständiger Kontrollen. Es sei schwer vorstellbar, wie bei einer Ärztedichte von 32.650 Einwohnern je Arzt die unerlässliche ärztliche Kontrolle sichergestellt werden solle.

Entscheidungsgründe:

Die zugelassene und auch im übrigen zulässige Berufung gemäß § 78 Abs. 2 AsylVfG hat in der Sache keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat das Bundesamt zu Recht verpflichtet, beim Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Äthiopiens festzustellen.

Die Berufung wird aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurückgewiesen. Auf die Gründe wird Bezug genommen (vgl. § 130 b Satz 2 VwGO).

Ergänzend wird noch folgendes ausgeführt:

Die Gefahr, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatland verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind, kann ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (BVerwGE 105,383 und BVerwG NVwZ 78,973 = DÖV 99,118). Dasselbe gilt auch dann, wenn die medizinische Behandlungsmöglichkeit zwar grundsätzlich vorhanden, für den von der Krankheit betroffenen Ausländer im speziellen Fall aber aus finanziellen oder persönlichen Gründen nicht erreichbar ist (BVerwG DVBl. 2003,463 und BVerwG AuAS 207,30).

Bei Gefahren in einem Land, denen die gesamte Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, welcher der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, wird Abschiebeschutz allerdings ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60 a AufenthG gewährt (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Diese grundlegende Entscheidung des Bundesgesetzgebers haben auch die Verwaltungsgerichte bei der Auslegung und Anwendung der §§ 60 und 60 a AufenthG zu respektieren (BVerwGE 99,324).

HIV/Aids ist eine in Äthiopien weit verbreitete Krankheit. Es handelt sich um eine Epidemie. Schätzungen gehen dahin, dass von den ca. 70 Mio Äthiopiern zwischen 1 und 4 Millionen von der Immunschwächekrankheit infiziert sind. Nach einer Auskunft des Deutschen Instituts für ärztliche Mission (DIFÄM) vom 22. März 2006 an das Verwaltungsgericht Ansbach bekommen nur etwa 1,3 % der Erkrankten die von ihnen benötigte langfristige Behandlung. In Äthiopien erreicht deshalb die Zahl der HIV/Aids-Infizierten ohne Behandlungsmöglichkeit die Größenordnung einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für einzelne Mitglieder der Bevölkerungsgruppe ist somit nach Satz 2 der Vorschrift ausgeschlossen. Eine politische Ermessensentscheidung nach § 60 a AufenthG für HIV-infizierte finanzschwache Äthiopier gibt es in Bayern nicht.

Wenn somit dem einzelnen Ausländer - und damit auch dem Kläger - kein Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 2 bis 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zusteht, er aber gleichwohl nicht abgeschoben werden darf, weil die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wegen einer extremen Gefahrenlage die Gewährung von Abschiebeschutz unabhängig von einer Ermessensentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 2 und § 60 a AufenthG gebieten, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG verfassungskonform einschränkend dahin auszulegen, dass eine Entscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht ausgeschlossen ist (BVerwGE 99,324 Leitsatz 3). Eine extreme Gefahrenlage im Sinne dieser Rechtsprechung liegt dann vor, wenn der betroffene Ausländer sehenden Auges alsbald nach der Abschiebung in sein Heimatland dem sicheren Tod oder schwersten Gesundheitsbeeinträchtigungen ausgesetzt wäre (BVerwGE 99,324/328).

So liegt der Fall hier.

Der Kläger leidet an einer chronischen HIV-Infektion und bedarf regelmäßiger und engmaschiger ärztlicher Betreuung. Eine antiretrovirale Therapie unter entsprechenden Kontrollen der Immunparameter ist beim Kläger erforderlich. Unter Therapie fanden sich bei letzter Bestimmung am 11. Februar 2007 496 CD4-Zellen/µl. Der Kläger wird zurzeit mit Truvada (Emitricitabin 200 mg, Tenofovir 245 mg) und Efavirenz (Sustiva) 600 mg behandelt. Die Therapie, welche der Kläger in Deutschland erhält, kann nach dem gegenwärtigen Stand der ärztlichen Kunst zwar die Immunschwäche nicht heilen, aber sie kann das Leben des Klägers um viele Jahre verlängern (Wikipedia Aids S. 10).

Im Falle einer Therapieunterbrechung wäre mit einer raschen Verschlechterung der Immunparameter und dem Auftreten vital gefährdender opportunistischer Krankheiten zu rechnen (Attest vom 11.2.2007). Die Viruslast würde in kurzer Zeit ansteigen und die Zahl der CD4-Helferzellen abfallen. Eine zusätzliche Vermehrung der resistenten Virus-Stämme würde eintreten. Die HIV-Infektion nähme ihren natürlichen Verlauf. Der immungeschwächte Körper könnte den immer vorhandenen Krankheitserregern nicht mehr widerstehen. In Äthiopien sind die Krankheitserreger wegen der unhygienischen Verhältnisse noch zahlreicher als in Deutschland. Der Tod träte mit hoher Wahrscheinlichkeit typischer Weise durch eine der folgenden Krankheiten ein: Chronische Hepatitis B und C, Tuberkulose, Pneumocystis-carinii-Pneumonie (eintreten der Infektion bei 20 bis 30 % der Fälle, Tod in 80 % der Fälle), cerebrale Toxoplasmose (eintreten bei 20 bis 30 % der Fälle; Tod in 80 % der Fälle), Soorbefall des Verdauungstrakts (eintreten in 100 % der Fälle), CMV-Retinitis (Erblindung in 100 % der Fälle), Mycobakteriose (Tod in 100 % der Fälle) (Dr. Gölz "Basis-Information zu HIV und Aids in Abschiebeverfahren" Asylmagazin 2000, 13).

Diese schwersten Gesundheitsbeeinträchtigungen und der Tod würden bei einer Abschiebung des Klägers alsbald nach Eintreffen in Äthiopien, innerhalb von Monaten, eintreten. Denn der Kläger hat sich schon 2002 oder früher mit HIV infiziert. Er ist im Stadium CDC B 2 des Krankheitsverlaufs. Der Kläger würde in Äthiopien keine Behandlung seiner HIV-Infektion erhalten.

Zwar ist nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 9. Mai 2006 an das VG Arnsberg der Wirkstoff Efavirenz in Äthiopien erhältlich. Das ist einer der Wirkstoffe, mit denen der Kläger derzeit therapiert wird. Die Wirkstoffe Emitricitabin und Tenofovir, die in Truvada enthalten sind, kann man in Äthiopien dagegen nicht kaufen. Außerdem ist es fraglich, ob die Medikamente, die der Kläger bei der nächsten Therapieumstellung benötigen wird, ebenfalls in Äthiopien verfügbar sein werden. Therapieumstellungen innerhalb von sechs Monaten bis drei Jahren sind bei der Behandlung von HIV typisch und notwendig. Die Ärzte sprechen von den einzelnen Therapieregimes.

Genauso wichtig wie das richtige Medikament im jeweiligen Therapieregime ist die regelmäßige und engmaschige ärztliche Betreuung, das Monitoring der Immunparameter und die Behandlung der jeweiligen opportunistischen Erkrankungen, denen der Körper alleine nicht mehr genügend Widerstandskraft entgegenzusetzen vermag. Beides zusammen wird als antiretrovirale Therapie (ART) bezeichnet.

Medizinische Behandlungsplätze sind in Äthiopien nach der Auskunft von DIFÄM (vom 22.3.2006 an VG Ansbach) für ca. 1,3 % der Patienten vorhanden, die sie eigentlich bräuchten. Der Kläger hätte keine Chance einer unter den Glücklichen der 1,3 % zu sein. In den Genuss der Therapieplätze kommen nur die wenigen wohlhabenden Äthiopier, welche die Kosten der ärztlichen Behandlung selbst aufbringen können. Die Kosten der ärztlichen Behandlung betragen in Addis Abeba nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (vom 9.5.2006 an VG Arnsberg) monatlich zwischen 20 bis 30 Euro und nach Auskunft von DIFÄM (vom 22.3.2006 an VG Ansbach) zwischen 70 und 230 US Dollar. Der Kläger hat nach seinen glaubwürdigen Aussagen weder in Äthiopien noch in Deutschland Ersparnisse oder Geldgeber zur Finanzierung der Therapiekosten. Als schwerkranker Mann hätte er in Äthiopien - zumal angesichts der äußerst niedrigen Löhne dort - nicht die Möglichkeit, das notwendige Geld zu erarbeiten. Der monatliche Durchschnittslohn eines Arbeiters (mit Familie) liegt in Äthiopien bei umgerechnet 20 Euro (Auskunft des AA vom 2.8.2005 an VG Ansbach). Ohne medizinische Betreuung gibt es keine antiretrovirale Therapie und ohne diese werden schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen oder gar der Tod innerhalb von Monaten nach der Rückkehr in Äthiopien eintreten.

Der Kläger wird nicht nur keine ärztliche Behandlung in Äthiopien erhalten, sondern auch die zur HIV-Bekämpfung erforderlichen Medikamente nicht bezahlen können. Die Medikamentenkosten im Rahmen der antiretroviralen Therapie liegen in Äthiopien nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (vom 9.5.2006 an VG Arnsberg) monatlich bei etwa 33 Euro und nach Auskunft von DIFÄM (vom 22.3.2006 an VG Ansbach) bei 29 bis 92 US Dollar. Wie bereits ausgeführt, hat der Kläger auch hierfür die erforderlichen Finanzmittel nicht und wird sie sich auch durch Arbeit in Äthiopien nicht verdienen können. Der käufliche Erwerb der antiretroviralen Medikamente ist nach wie vor dem Kreis der besser Verdienenden (Angestellte in leitenden Positionen, Lektoren/Dozenten der Universitäten, Beamte in Führungspositionen u.ä.) vorbehalten (Auskunft des AA vom 12.12.2003 an VG Ansbach).

Ein staatliches Gesundheitssystem, das für Medikamentenkosten und Kosten der ärztlichen Behandlung aufkäme - vergleichbar dem deutschen - gibt es in Äthiopien nicht. In Äthiopien gibt es für die Ärmsten der Armen ein von der Kebele (Verwaltung der untersten Stufe) ausgestelltes sog. Freepaper. Das gewährt allerdings keine kostenlose Behandlung, sondern wohl nur einen Zuschuss zu den Krankheitskosten in Höhe von etwa 10 Euro monatlich (Auskunft von DIFÄM vom 12.5.2005 an VG Ansbach). Die gegenteilige Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 25. Juni 2004 an das VG Ansbach dürfte wohl nicht zutreffen. Rückkehrer aus Europa werden von der äthiopischen Regierung allerdings nicht als mittellos angesehen (selbst wenn sie es sind) und bekommen deshalb kein Freepaper (Lagebericht des AA vom 18.7.2006 S. 23), so dass offen bleiben kann, welche Leistungen ein solches Freepaper beinhaltet.

Auch Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO s) haben bei weitem nicht die Mittel um allen HIV-Kranken in Äthiopien helfen zu können. Das wenige für diesen Zweck verfügbare Geld wird nach strengen Kriterien unter die Armen verteilt (z.B. allein erziehende Mütter), so dass der Kläger auch von dieser Seite keine Hilfe zu erwarten hätte (Auskunft von DIFÄM vom 22.3.2006 an VG Ansbach).

Die beklagte Bundesrepublik Deutschland hat im gerichtlichen Verfahren eine Zusicherung der Regierung von Mittelfranken - Zentrale Rückführungsstelle Nordbayern (ZRS) vom 8. Oktober 2004 des Inhalts vorgelegt, dass die ZRS im Fall der "freiwilligen" Rückkehr oder der Abschiebung des Klägers "die Kosten übernimmt die notwendig sein werden, damit der Kläger in Äthiopien für 6 Monate einen gesicherten Zugang zu Medikamenten und Behandlungsmöglichkeiten erhält, sofern dies anderweitig nicht sichergestellt werden kann". Dadurch könnte - so meint die Beklagte - der Eintritt schwerster Gesundheitsbeeinträchtigungen oder des Todes um sechs Monate hinausgeschoben werden und würde nicht "alsbald" nach der Abschiebung eintreten. Damit wäre die Gefahr der erheblichen Gesundheitsverschlechterung für den Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien nicht mehr "konkret", denn sie würde nicht "alsbald nach der "Rückkehr" eintreten.

Die konkrete Gefahr wäre dadurch aber noch nicht beseitigt, weil die Wirkstoffe Emitricitabin und Tenofovir, mit denen der Kläger derzeit therapiert wird, in Äthiopien nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 9. Mai 2006 an das VG Arnsberg nicht auf dem Markt sind. Der Abbruch der vom Körper des Klägers gut angenommenen Therapie mit Truvada (Wirkstoffe Emitricitabin und Tenofovir), würde zu Resistenzbildungen führen, wäre dem Gesundheitszustand in hohem Maße abträglich und könnte lebensbedrohlich werden.

Hinzu kommt folgendes: Die Zusicherung der Bezahlung von Medikamenten und Behandlung bei der Abschiebung für die maximale Dauer von 6 Monaten ist von der ZRS ausschließlich für die Überbrückung der schwierigen Zeit gedacht, bis der Abgeschobene in seinem Heimatland wieder selbst für alles Notwendige sorgen kann. Dies ergibt sich aus der Begründung der Zusicherung vom 8. Oktober 2004, welche lautet: "Antiretrovirale Medikamente sind in Addis Abeba in ausreichendem Maße und jederzeit verfügbar und werden in bestimmten Apotheken ausgegeben. Sofern der Patient über ein unzureichendes Einkommen verfügt, werden diese Medikamente kostenfrei abgegeben (Botschaftsbericht vom 12.12.2003 im Verfahren AN 18 K 03.30203)." Dies entspricht allerdings nicht der Realität. Auch in sechs Monaten ist nicht zu erwarten, dass der Kläger für die von ihm benötigte ART und zusätzlich für seinen Lebensunterhalt wird aufkommen können, wie vorstehend ausgeführt wurde. Die Verschiebung des Eintritts schwerster Krankheiten und des Todes durch die Bezahlung einer 6-monatigen ART lässt den Verstoß gegen die Menschenwürde und das Verbot der Verletzung von Leib und Leben (Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), welcher in der Abschiebung eines HIV-infizierten finanziell Bedürftigen nach Äthiopien liegt, nicht entfallen. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 26.1.1999 Az. 9 B 617.98) liegt eine extreme Gefahr im Sinn von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG analog (jetzt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG analog) nicht nur dann vor, wenn die Gefahr am Tag des Eintreffens im Heimatland eintritt, sondern auch dann, wenn zwischen dem Tag der Abschiebung und dem Eintreten der Gefahr ein Zeitraum liegt, der die sozialadäquate Kausalität zwischen Abschiebung und Gefahreneintritt noch deutlich erkennen lässt. Das ist jedenfalls bei einem Zeitraum von 6 Monaten noch der Fall. Über längere Zeiträume ist vorliegend nicht zu befinden.

Die Beklagte macht noch geltend, es sei nicht auszuschließen, dass sich in sechs Monaten die Verhältnisse der HIV-Therapie in Äthiopien so verbessert haben, dass die meisten Patienten dort - und auch der Kläger - in den Genuss einer ART kämen. Bei realistischer Betrachtungsweise ist dies nicht wahrscheinlich. Die Notwendigkeit von Verbesserungen bei der Behandlung von HIV/Aids-Erkrankten hat die äthiopische Regierung zwar schon lange erkannt. Schon 2001 wurden antiretrovirale Medikamente in die nationale Liste der essenziellen Medikamente aufgenommen und sind jetzt teilweise auch in staatlichen Apotheken zu haben. Angesichts der Schwäche des Gesundheitssystems, der Armut des Staates und der Größe des Problems ist die gewünschte Verbesserung aber nur schwer umzusetzen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.7.2006 S. 23). Zurzeit erhalten nur 1,3 % der mehreren Millionen HIV-infizierten Äthiopier ART. Es ist alles andere als wahrscheinlich, dass sich hieran in einem halben Jahr oder auch in mehreren Jahren etwas Wesentliches ändern wird. Wenn es denn - völlig wider Erwarten - so wäre, könnte - darauf weist der Klägervertreter zu Recht hin - der Abschiebeschutz immer noch widerrufen werden. Für eine derartige Fallgestaltung liegen allerdings - auch in Anbetracht des fortgeschrittenen Stadiums der Krankheit beim Kläger - keinerlei Anhaltspunkte vor.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83 b AsylVfG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. c und § 711 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Beschluss:

Der Gegenstandswert des Verfahrens vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof beträgt 1.500 Euro (§ 30 Satz 1 RVG).

Ende der Entscheidung

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