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Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 08.04.2004
Aktenzeichen: 1 St RR 56/04
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 265 Abs. 1
StPO § 265 Abs. 2
Erhebt der Angeklagte Einspruch gegen einen Strafbefehl, in dem wegen einer Verkehrsstraftat als Nebenstrafe ein Fahrverbot angeordnet wurde, bedarf es eines rechtlichen Hinweises nach § 265 Abs. 1 und 2 StPO, wenn im Urteil die Fahrerlaubnis entzogen werden soll.
Tatbestand:

Durch Strafbefehl wurde gegen den Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverletzung und unerlaubten Entfernens vom Unfallort eine Gesamtgeldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 30 EURO verhängt sowie ein Fahrverbot von drei Monaten angeordnet. Auf seinen Einspruch hin verurteilte das Amtsgericht den Angeklagten am wegen fahrlässiger Körperverletzung in Tatmehrheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort zu einer Gesamtgeldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 25 EURO. Außerdem wurde dem Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen; der Führerschein wurde eingezogen. Die Verwaltungsbehörde wurde angewiesen, dem Angeklagten vor Ablauf von neun Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. Mit der Sprungrevision rügte der Angeklagte vor allem die Verletzung formellen Rechts. Die Entziehung der Fahrerlaubnis im Urteil stelle gegenüber dem im Strafbefehl verhängten Fahrverbot eine wesentliche Verschlechterung dar und sei für den Angeklagten völlig überraschend gewesen. Der nach § 265 Abs. 2 StPO erforderliche Hinweis sei unterblieben. Als wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung könne ein solcher Hinweis nur durch das Sitzungsprotokoll bewiesen werden. Mit der Sachrüge wurde geltend gemacht, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei nicht bewiesen, dass der Angeklagte den Unfall tatsächlich bemerkt habe. Die statthafte (§ 335 Abs. 1, § 333 StPO) und auch im Übrigen zulässige Sprungrevision hatte Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

Gründe:

1. Unbegründet ist allerdings die Sachrüge. Die Feststellungen des Amtsgerichts tragen insbesondere die Bewertung, dass der Angeklagte den Unfall sowohl akustisch als auch optisch wahrgenommen und sich deshalb auch einer Unfallflucht schuldig gemacht hat.

2. Es greift jedoch die erhobene Verfahrensrüge durch, weil der Angeklagte entgegen § 265 Abs. 1 und 2 StPO in der Hauptverhandlung nicht auf die Möglichkeit eines Entzugs der Fahrerlaubnis hingewiesen wurde.

a) Nach § 265 Abs. 1 StPO darf der Angeklagte nicht aufgrund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne dass er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts besonders hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben worden ist. Ebenso ist gemäß § 265 Abs. 2 StPO zu verfahren, wenn sich erst in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände ergeben, welche die Strafbarkeit erhöhen oder die Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung rechtfertigen. Der zugelassenen Anklage im Sinn dieser Bestimmungen steht der Strafbefehl gleich (Meyer-Goßner StPO 46. Aufl. § 265 Rn. 6).

§ 265 StPO ist eine gesetzliche Konkretisierung der allgemeinen prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts. Der Angeklagte soll dadurch in die Lage versetzt werden, seine Verteidigung auf die neuen Gesichtspunkte einzustellen. Die Hinweispflicht dient damit auch der Gewährung rechtlichen Gehörs und der Garantie eines fairen Verfahrens (Meyer-Goßner § 265 Rn. 3 ff.).

b) Gegen den Angeklagten war mit Strafbefehl neben einer Geldstrafe ein Fahrverbot von drei Monaten angeordnet worden. Demgegenüber wurde ihm auf seinen Einspruch hin die Fahrerlaubnis entzogen. Es wurde somit im Urteil eine Maßregel gemäß §§ 69, 69a StGB verhängt, die im Strafbefehl nicht enthalten war. Dies löst nach § 265 Abs. 1 und 2 StPO eine Hinweispflicht des Gerichts aus; sie besteht unabhängig davon, ob in der Hauptverhandlung neue Tatsachen hinzugetreten sind, die erst die Anordnung der Maßregel ermöglichen, oder ob das Gericht bei gleich bleibendem Sachverhalt entgegen der Anklage oder dem Strafbefehl die Maßregel in Betracht zieht (Meyer-Goßner § 265 Rn. 20).

aa) Ein nach § 265 Abs. 1 und 2 StPO erforderlicher Hinweis muss in förmlicher Weise erteilt und in der Sitzungsniederschrift festgehalten werden (BGHSt 19, 141). Trotz der gegenteiligen dienstlichen Äußerungen des Tatrichters, des Sitzungsstaatsanwalts und der Protokollführerin muss hier davon ausgegangen werden, dass ein solcher Hinweis nicht erfolgt ist, da das Hauptverhandlungsprotokoll einen entsprechenden Vermerk nicht enthält und der Hinweis gemäß § 265 Abs. 1 und 2 StPO zu den wesentlichen Förmlichkeiten der Hauptverhandlung gehört, deren Beachtung nach § 274 StPO nur durch das Protokoll bewiesen werden kann (BGHSt 23, 95/96; BGH StV 1994, 232; OLG Hamm NJW 1980, 1587). Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass selbst eine Protokollberichtigung nicht nachträglich einer zulässigen Verfahrensrüge den Boden entziehen könnte (Meyer-Goßner § 271 Rn. 26).

bb) Der Hinweis nach § 265 Abs. 1 und 2 StPO war auch nicht deshalb entbehrlich, weil im Strafbefehl bei den zitierten einschlägigen Rechtsnormen die §§ 69, 69a StGB angegeben waren. Hierin kann keine hinreichende Warnung des Inhalts gesehen werden, dass auch eine Entziehung der Fahrerlaubnis in Betracht kam. Es dürfte sich vielmehr um ein Versehen handeln, da der für das Fahrverbot einschlägige § 44 StGB nicht angegeben wurde.

Auch die Anordnung des Fahrverbots im Strafbefehl als solche macht den Hinweis nach § 265 StPO nicht entbehrlich. Das Fahrverbot ist eine Nebenstrafe (§ 44 StGB). Demgegenüber dient die Maßregel nach §§ 69, 69a StGB nicht der allgemeinen Verbrechensbekämpfung, sondern knüpft an die Ungeeignetheit des Angeklagten zum Führen von Kraftfahrzeugen an (BGH DAR 2003, 126). Es handelt sich also um qualitativ unterschiedliche Sanktionsformen, sodass von einer bloßen "Straferhöhung", die keines vorherigen Hinweises bedurfte (Meyer-Goßner § 411 Rn. 11), nicht die Rede sein kann.

Der Umstand, dass nach § 69 Abs. 2 Nr. 1 StGB ein Täter, der sich des unerlaubten Entfernens vom Unfallort schuldig macht und - wovon hier auszugehen ist - weiß oder wissen musste, dass dabei an fremden Sachen bedeutender Schaden entstanden ist, in der Regel als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen ist, rechtfertigt ebenfalls keine andere Beurteilung. Zwar mag es in einem solchen Fall nahe liegen, dass auch eine Entziehung der Fahrerlaubnis in Betracht kommen kann (vgl. BGHSt 18, 288/289; BGH ZfS 1992, 102; StraFo 2003, 276). Letztlich ist aber darauf abzustellen, dass der Angeklagte im konkreten Fall nicht durch das Gericht entsprechend vorgewarnt wurde; dies hätte der Grundsatz des fairen Verfahrens jedoch geboten.

Schließlich konnte nicht deshalb von dem Hinweis abgesehen werden, weil der Sitzungsstaatsanwalt eine Entziehung der Fahrerlaubnis beantragt hatte. Nach allgemeiner Ansicht muss ein nach § 265 Abs. 1 und 2 StPO erforderlicher Hinweis durch das erkennende Gericht selbst gegeben werden. Es reicht nicht aus, dass der betreffende Gesichtspunkt in der Hauptverhandlung von einem Prozessbeteiligten erörtert wird (BGHSt 22, 29/31; BGH StV 1994, 232; Meyer-Goßner § 265 Rn. 28 f. m.w.N.).

c) Es ist nicht auszuschließen, dass der Angeklagte im Fall eines entsprechenden rechtlichen Hinweises seine Verteidigung anders eingerichtet, möglicherweise auch den Einspruch gegen den Strafbefehl zurückgenommen hätte (vgl. OLG Hamm VRS 63, 56). Die Anordnung der Maßregel beruht daher auf dem Verfahrensverstoß (§ 337 StPO).

Zwar betrifft der unter Nr. 2 dargestellte Verfahrensmangel unmittelbar nur den Maßregelausspruch. Da der Angeklagte aber nach Erteilung des rechtsfehlerhaft unterbliebenen Hinweises möglicherweise seinen Einspruch gegen den Strafbefehl zurückgenommen hätte und ihm diese Verfahrensweise nicht abgeschnitten werden darf, ist das Urteil insgesamt mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben (§ 353 StPO). Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an einen anderen Strafrichter des Amtsgerichts Passau zurückverwiesen (§ 354 Abs. 2 StPO). Würde die Aufhebung und Zurückverweisung dagegen auf die Maßregel oder den Rechtsfolgenausspruch beschränkt, käme eine Rücknahme des Einspruchs nicht mehr in Betracht (vgl. LR/Hanack StPO 25. Aufl. § 302 Rn. 14).



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