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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 20.03.2001
Aktenzeichen: 1 ObOWi 107/01
Rechtsgebiete: GG, OWiG


Vorschriften:

GG Art. 103 Abs. 1
OWiG § 73 Abs. 2
OWiG § 74 Abs. 2
Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird verletzt, wenn der Amtsrichter den Antrag des Betroffenen, ihn von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, zu Unrecht ablehnt und sein Vorbringen zur Sache daher nicht zur Kenntnis genommen, überprüft und bei der Entscheidung berücksichtigt wird.
BayObLG Beschluss

1 ObOWi 107/01

20.03.01

Tatbestand

Die Zentrale Bußgeldstelle im Bayerischen Polizeiverwaltungsamt setzte mit Bußgeldbescheid vom 18.11.1999 gegen den Betroffenen wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit (gefährdendes Überholen) eine Geldbuße von 80 DM fest. Den hiergegen gerichteten Einspruch des Betroffenen verwarf das Amtsgericht am 30.11.2000 nach § 74 Abs. 2 OWiG, weil der Betroffene - ohne von der Verpflichtung zum Erscheinen entbunden worden zu sein - in der Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen sei. Weitere Ausführungen zur Frage der Entschuldigung enthalten die Urteilsgründe nicht.

Mit seiner gegen dieses Urteil gerichteten Rechtsbeschwerde, deren Zulassung er beantragte, rügte der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er machte geltend, seinem vor und in der Hauptverhandlung gestellten Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen sei vom Amtsgericht zu Unrecht nicht entsprochen worden, wodurch sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden sei.

Aus den Akten ergibt sich hierzu:

Das Amtsgericht hatte auf den Einspruch hin Hauptverhandlungstermin auf den 30.11.2000 bestimmt. Mit Schriftsatz des Verteidigers vom 18.10. und (klarstellend) vom 23.10.2000 beantragte der Betroffene, von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden zu werden. Er habe sich bereits zur Sache geäußert und seine Fahrereigenschaft eingeräumt; in der Hauptverhandlung werde er sich "nicht mehr einlassen". Seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung sei "zur Aufklärung wesentlicher Punkte nicht mehr notwendig", zumal der erhobene Vorwurf vergleichsweise gering sei.

Am 23.10.2000 ließ der Vorsitzende mitteilen, die Erscheinenspflicht werde nicht aufgehoben, weil die Anwesenheit des Betroffenen - "auch wenn er keine Angaben zur Sache macht" - zur Aufklärung erforderlich erscheine. Seinem der Verfügung vorangestellten Vermerk zufolge hatte der Vorsitzende dem Verteidiger in einem Telefonat noch mitgeteilt, "es sei auch bedeutsam, etwas über die Fahrweise des Betroffenen zu erfahren im Hinblick auf die Aufzeichnungen im Tachoblatt. Es gehe letztlich - ungeachtet der Frage, ob der Betroffene sich in der Hauptverhandlung äußere oder nicht - für das Gericht darum, angesichts der Aufzeichnungen auf der Tachoscheibe in der Hauptverhandlung wesentliche Gesichtspunkte für die Fahrweise und das Wahrnehmungsvermögen des Betroffenen aufzuklären". In der Hauptverhandlung stellte der Vorsitzende fest, die persönliche Anwesenheit sei erforderlich, "weil erhebliche Gesichtspunkte zu klären anständen und seine bisherigen Einlassungen hierfür keine ausreichende Grundlage bilden."

Aus den Gründen:

1. Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, weil es aus den nachfolgenden Gründen geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben (§ 80 Abs. Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 OWiG).

Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft bei dem Rechtsbeschwerdegericht ist der Zulassungsantrag, der als vorsorglich eingelegte Rechtsbeschwerde gilt, zulässig. Der Beschwerdeführer hat alle zur Beurteilung der Frage, ob der gerügte Verstoß vorliegt, erforderlichen Verfahrenstatsachen dargelegt. Insbesondere hat er auch vorgetragen, weshalb von der Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung kein Beitrag zur Sachaufklärung zu erwarten gewesen sei und was der Betroffene im Fall seiner Anhörung vorgetragen hätte bzw. was er im Verfahren bereits geäußert hatte (§ 74 Abs. 1 Satz 2 StPO).

Dagegen bedurfte es nicht darüber hinaus, wie die Staatsanwaltschaft meint, noch des Vortrage, ob der anwesende Verteidiger dem Verfahren nach § 74 Abs. 2 0WiG widersprochen hat. Abgesehen davon, dass sich das bei der hier gegebenen Fallgestaltung von selbst versteht, betrifft die von der Staatsanwaltschaft für ihre Auffassung herangezogene Entscheidung BayObLGSt 1975, 52 ebenso wie diejenige in BayObLGSt 1998, 9 = NZV 1998, 341 den anders gelagerten Fall einer nach § 74 Abs. 1 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführten Hauptverhandlung.

a) Allerdings liegt der Gehörsverstoß hier nicht darin, dass das Amtsgericht gegen seine Verpflichtung verstoßen hat, sich in den Gründen des Verwerfungsurteils mit möglichen Entschuldigungsgründen und hier insbesondere damit auseinander zu setzen, aus welchen Gründen es dem Entbindungsantrag des Betroffenen nicht entsprochen hat, wie dieser an sich zu Recht rügt (BayObLGSt 1998, 179 - NZV 1999, 139; weitere Nachweise bei KK/Senge OWiG 2. Aufl. § 74 Rn. 40). Denn die Nichterörterung von wesentlichem Tatsachenvortrag in den Entscheidungsgründen ist lediglich ein - wenn auch gewichtiger - Anhaltspunkt für die Schlussfolgerung, das Gericht habe ihn bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt (vgl. BVerfG NJW 1978, 989; 1992, 2877; 1995, 1884), so dass hierin regelmäßig ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör liegt, sofern nicht gegenteilige Anhaltspunkte die durch die Nichterörterung begründete Schlussfolgerung verbieten (vgl. BayObLG vom 8.2.2001 1 ObOWi 27/01; OLG Köln NZV 1999, 264/265; KK/Steindorf 80 Rn. 41). In einem solchen Fall bedarf es daher auch nicht des Vortrags, was der Betroffene im Fall seiner Anhörung zur Sache geäußert hätte (BayObLG aaO; OLG Köln aaO; KK/Steindorf aaO).

Derartige gegenteilige Anhaltspunkte liegen hier jedoch vor, weil sich aus dem Vermerk und der Verfügung des Vorsitzenden vom 23.10.2000 wie auch aus seiner in der Hauptverhandlung geäußerten Auffassung ergibt, dass das Vorbringen des Betroffenen von ihm nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern darüber auch sachlich entschieden und somit bei Erlass des Verwerfungsurteils berücksichtigt worden ist.

b) Der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör ist jedoch dadurch verletzt worden, dass das Amtsgericht seinen Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu Unrecht abgelehnt und sein Vorbringen zur Sache daher nicht zur Kenntnis genommen, überprüft und bei der Entscheidung berücksichtigt hat.

Einem Entbindungsantrag ist stattzugeben, wenn der Betroffene sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern werde, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte nicht erforderlich ist (§ 73 Abs. 2 OWiG).

Diese Voraussetzungen waren hier sämtlich gegeben. Der Betroffene, dem zur Last lag, mit seinem Lkw unter Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs zum Überholen ausgeschert zu haben, hatte sich zur Sache geäußert und insbesondere seine Fahrereigenschaft eingeräumt, so dass seine Einlassung in einer Abwesenheitsverhandlung verwertet werden durfte (§ 74 Abs. 1 Satz 2 OWiG). Darüber hinaus hatte er erklärt, sich in einer Hauptverhandlung nicht (mehr) zur Sache einzulassen. Welcher Aufklärungsbeitrag hiernach von der bloßen Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung noch zu erwarten sein sollte, ist nicht ersichtlich. Das gilt auch für den Fall, dass an der Einräumung der Fahrereigenschaft durch den Betroffenen entgegen der Äußerung seines Verteidigers im Schriftsatz vom 18.10.2000 Zweifel bestanden haben sollten. Denn der Anzeigeerstatter hatte keine Fahrerbeschreibung abgegeben und konnte dies aus seiner Position heraus wohl auch nicht. Zur Inaugenscheinnahme und Auswertung des Fahrtenschreiberblatte war die Anwesenheit des Betroffenen ebenfalls nicht erforderlich. Zudem hatte die Arbeitgeberin des Betroffenen bereits mitgeteilt, der Betroffene sei zur Tatzeit der verantwortliche Fahrzeugführer gewesen.

Dem Antrag des Betroffenen auf Entbindung von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen hätte daher stattgegeben werden müssen; die Ablehnung des Antrags war rechtsfehlerhaft. Die Auffassung des Amtsgerichts im Vermerk vom 23.10.2000, die Anwesenheit des Betroffenen sei zur Aufklärung erforderlich, "ob der Betroffene sich in der Hauptverhandlung äußere oder nicht", ist nicht nachvollziehbar (vgl. auch KK/Senge § 73 Rn. 23).

Hierdurch ist der Anspruch des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs, verletzt worden. Denn sein Einspruch hätte nicht nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen werden dürfen, weil sein Ausbleiben aufgrund der rechtsfehlerhaften Ablehnung seines Entbindungsantrags als entschuldigt anzusehen war (KK/Senge § 74 Rn. 33 m.w.N.).

Ende der Entscheidung

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