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Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 02.11.2004
Aktenzeichen: 1 St RR 109/04
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 136 Abs. 1 Satz 2
StPO § 163a Abs. 4 Satz 2
Zur Abgrenzung einer informatorischen Befragung von einer Vernehmung des Beschuldigten.
Tatbestand:

Das Amtsgericht hatte den Angeklagten wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe verurteilt; gleichzeitig wurde dem Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen, sein Führerschein eingezogen und die Verwaltungsbehörde angewiesen, ihm vor Ablauf von zehn Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. Die Berufung des Angeklagten gegen diese Entscheidung hat das Landgericht mit der Maßgabe verworfen, dass die Sperrfrist noch fünf Monate beträgt. Die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung der Staatsanwaltschaft wurde verworfen. Gegen dieses Urteil legte der Angeklagte Revision ein. Er rügte die Verletzung formellen und materiellen Rechts und beanstandete, dass das Landgericht die schriftlichen Aussagen der Zeugin W und des Zeugen S-M lediglich verlesen und diese Zeugen nicht vernommen habe. Die Aussage, die er bei seiner informatorischen Befragung gegenüber den Polizeibeamten M und H an der Telefonzelle auf dem Parkplatz gemacht habe, hätte, nachdem einer Verwertung widersprochen worden sei, der Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden dürfen, da er vor der Befragung nicht ordnungsgemäß belehrt worden sei. Trotz einer errechneten maximalen Tatzeit-BAK von 2,75 Promille habe das Landgericht es unterlassen, sich mit der Frage der Schuldfähigkeit auseinanderzusetzen. Obwohl das Landgericht von einer verminderten Schuldfähigkeit ausgegangen sei, habe es rechtsfehlerhaft nicht von der Strafrahmenverschiebung des § 49 Abs. 1 StGB Gebrauch gemacht. Es habe nicht geprüft, ob die Unterbringungsvoraussetzungen nach § 64 StGB gegeben seien. Die zulässige Revision hatte mit der Sachrüge zum Schuldspruch und zum Strafausspruch Erfolg; im Übrigen war sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

Gründe:

1. Die Revision dringt mit den erhobenen Verfahrensrügen nicht durch.

a) Die Verlesung der schriftlichen Aussage der Zeugen W und S-M ist rechtlich nicht zu beanstanden; denn die Voraussetzungen für eine Verlesung nach § 251 Abs. 2 StPO waren gegeben. Staatsanwaltschaft, Verteidiger und Angeklagter waren damit einverstanden, dass die persönliche Vernehmung dieser beiden Zeugen durch die Verlesung ihrer schriftlichen Aussagen ersetzt wird.

b) Das Landgericht musste sich aufgrund seiner Sachaufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO nach Verlesung der Aussage der Zeugin W entgegen der vom Angeklagten erhobenen Rüge nicht gedrängt sehen, diese zu vernehmen, um Widersprüche zu klären. Das Landgericht ist den Aussagen der beiden Polizeibeamten M und H gefolgt. Der Zeuge M hat bekundet, er habe am Tattag um 19.24 Uhr auf der Staatsstraße nach R auf der Fahrt zum Dienst beobachtet, wie das Fahrzeug, das auf den Angeklagten zugelassen ist, wiederholt über die Straßenmitte nach links auf die Gegenfahrbahn und wiederholt auf das rechte Bankett geraten sei. Bei dem Fahrer habe es sich seiner Meinung nach im Hinblick auf die Statur um einen Mann gehandelt. Im Fahrzeug habe sich auch ein Hund befunden. Um ca. 19.30 Uhr hätten er und sein Kollege H bei der Suche nach dem Täter das Tatfahrzeug auf dem nahe gelegenen Parkplatz eines Einkaufsmarktes gefunden. Ein großer Hund sei bei geöffneter Hecktüre auf der Ladefläche gesessen. Der Angeklagte habe bei ihrem Eintreffen in einer nahe gelegenen Telefonzelle telefoniert.

Im Hinblick auf den engen zeitlichen Zusammenhang zwischen Tatbegehung und Auffinden des Angeklagten und seines Fahrzeugs sowie der Beschreibung des Fahrzeugführers als Person von männlicher Statur ist es rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht die Einlassung des Angeklagten, er sei von der Zeugin W in deren Fahrzeug bereits um 19.15 Uhr zum Parkplatz gebracht worden, sein Fahrzeug und sein Hund seien dagegen von einer Frau namens P vor Eintreffen der beiden Polizeibeamten auf dem Parkplatz abgestellt worden, als Schutzbehauptung gewertet und die schriftliche Aussage der Zeugin W, die die Einlassung des Angeklagten im Wesentlichen bestätigt hat, als nicht glaubhaft angesehen hat. Das Landgericht hat zur Begründung ausgeführt, sie stimme in nicht unwesentlichen Punkten mit der Einlassung des Angeklagten nicht überein, sei im zeitlichen Gefüge nicht nachvollziehbar und in einem Punkt - Einkauf von Zigaretten und Crackers in einer Tankstelle - nachweislich falsch. Weil das Landgericht sich von einer persönlichen Vernehmung der Zeugin W bei der gegebenen Beweislage keine weitere Sachaufklärung versprochen hat, sah es von einer persönlichen Vernehmung ab. Dies lässt keinen Rechtsfehler erkennen.

c) Das Landgericht musste sich auch nicht gedrängt sehen, den Zeugen S -M zu vernehmen. Nach der verlesenen schriftlichen Aussage dieses Zeugen will dieser mit dem Angeklagten in der Zeit zwischen 19.22 und 19.30 Uhr telefoniert haben. Das Landgericht hält, gestützt auf die Aussage der Zeugin K, diese Angaben für widerlegt. Die Zeugin K hat bekundet, gegen 19.30 Uhr etwa fünf Minuten mit dem Angeklagten bis zum Eintreffen der Polizei, was sie im Hintergrund gehört habe, telefoniert zu haben. Hinzu kommt, dass der Angeklagte selbst bestätigt hat, bei Eintreffen der Polizei mit der Zeugin K telefoniert zu haben. Diese Beweiswürdigung lässt ebenfalls keinen Rechtsfehler erkennen. Die Kammer erwartete sich von einer persönlichen Vernehmung des Zeugen S -M bei der gegebenen Beweislage keine weitere Sachaufklärung. Dies ist rechtlich nicht zu beanstanden.

d) Soweit der Angeklagte rügt, das Landgericht habe zu Unrecht seine Angaben zur Fahrereigenschaft, die er ohne über seine Beschuldigtenrechte belehrt worden zu sein, gegenüber den beiden Polizeibeamten gemacht habe, für verwertbar gehalten, ist dies zutreffend.

Denn entgegen der vom Landgericht vertretenen Rechtsauffassung handelt es sich bei der Befragung des Angeklagten durch die beiden Polizeibeamten auf dem Parkplatz nicht lediglich um eine informatorische Befragung, für die regelmäßig eine Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 163 a Abs. 4 Satz 2 StPO nicht erforderlich ist (Meyer-Goßner StPO 47. Aufl. Einl. Rn. 79). Für die Unterscheidung zwischen einer informatorischen Befragung und einer Beschuldigtenvernehmung ist einerseits die Stärke des Tatverdachts bedeutsam. Hierbei hat der Polizeibeamte einen Beurteilungsspielraum, den er freilich nicht mit dem Ziel missbrauchen darf, den Zeitpunkt der Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO möglichst weit hinauszuschieben. Neben der Stärke des Verdachtes ist auch von Bedeutung, wie sich das Verhalten des Beamten nach außen in der Wahrnehmung des Befragten darstellt. So gibt es polizeiliche Verhaltensweisen, die schon nach ihrem äußeren Befund belegen, dass der Polizeibeamte dem Befragten als Beschuldigten begegnet, mag er dies auch nicht zum Ausdruck bringen (BGHSt 38, 214/228). Nach den Urteilsfeststellungen hat es sich den beiden Polizeibeamten aufgedrängt, dass der in unmittelbarer Nähe zum Tatort in alkoholisiertem Zustand unweit des Tatfahrzeuges aufgefundene Angeklagte, der noch dazu der Halter des Tatfahrzeuges ist, als wahrscheinlicher Täter in Betracht kommt. Dementsprechend hat der Zeuge M bekundet, dass er dem Angeklagten vorgehalten hat, er sei zwischen N und R Schlangenlinie gefahren. Anders als bei einer verdachtsunabhängigen Verkehrs-Alkoholkontrolle (vgl. BayObLG NStZ-RR 2003, 343) wäre daher vor der Befragung durch den Zeugen M der Angeklagte nach § 136 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 163 a Abs. 4 Satz 2 StPO über sein Auskunftsverweigerungsrecht zu belehren gewesen. Die erforderliche Belehrung ist unterblieben. Eine Verwertung der Äußerung des Angeklagten gegenüber dem Polizeibeamten, die er vor der Belehrung über sein Auskunftsverweigerungsrecht gemacht hat, ist daher unzulässig, nachdem der Verteidiger sich in der Hauptverhandlung einer Verwertung rechtzeitig widersetzt hat (BGHSt 42, 15/22).

Da das Landgericht, wie es ausdrücklich ausgeführt hat, von der Täterschaft des Angeklagten ohne vernünftigen Zweifel allein aufgrund der Indizienlage bereits überzeugt war, lässt es sich aber ausschließen, dass das Urteil auf den "ergänzenden" Ausführungen zur Verwertbarkeit der Angaben des Angeklagten bei seiner "informatorischen Befragung" durch die Polizei beruht.

2. Die Sachrüge des Angeklagten, das Landgericht habe sich nicht mit der Frage der Schuldfähigkeit auseinandergesetzt, greift durch.

In rechtlich nicht zu beanstandender Weise hat das Landgericht ausgehend von einer mittleren BAK zum Zeitpunkt der Blutentnahme von 2,42 Promille um 20.05 Uhr unter Zugrundelegung eines stündlichen Abbauwertes von 0,2 Promille und einem einmaligen Sicherheitszuschlag von 0,2 Promille für die Tatzeit zwischen 19.24 Uhr und 19.29 Uhr eine maximale Tatzeit-BAK von 2,75 Promille errechnet. Trotz dieser hohen Blutalkoholkonzentration hat sich das Landgericht nicht damit auseinandergesetzt, ob der Angeklagte zum Tatzeitpunkt schuldunfähig gewesen sein könnte. Ob die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund seiner starken Alkoholisierung erheblich vermindert gewesen ist, ließ das Landgericht dahingestellt, da eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB aufgrund eines schuldhaften Sich-Berauschens ohnehin nicht in Betracht komme.

Die Nichtüberprüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Grundsätzlich kann ein Ausschluss der Schuldfähigkeit bereits bei einer BAK von über 2,5 Promille in Betracht kommen (BGH VRS 23, 209/210; VRS 50, 358/360; NStZ 1989, 365/366). Der Senat geht daher in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass bei einem Wert von 2,5 Promille nicht nur die Frage der verminderten Schuldfähigkeit - die bereits ab einer Blutalkoholkonzentration von 2,0 Promille, bei schwerwiegenden Gewalttaten ab 2,2 Promille zu prüfen ist -, sondern auch die Frage eines Ausschlusses der Schuldfähigkeit zu prüfen ist (BayObLGSt 1974, 46/48; Senatsbeschluss vom 20.2.2003 - 1St RR 10/03; OLG Frankfurt a. Main NStZ-RR 1996, 85). Ob dies auch dann gilt, wenn bei einem Angeklagten psychophysische Auffälligkeiten infolge des Alkoholgenusses fehlen, wie dies bei alkoholgewöhnten Personen der Fall sein kann, die manchmal selbst bei Werten von 3 bis 4,5 Promille kein Störungsbild oder ein nur gering ausgeprägtes aufweisen können (BGH NStZ 1996, 592/593), kann dahingestellt bleiben, denn beim Angeklagten lag ein ausgeprägtes Störungsbild vor. So hat der Angeklagte bei Tatbegehung mehrfach das rechte Bankett befahren und ist wiederholt auf die Gegenfahrbahn abgekommen. Hinzu kommt, dass der Angeklagte bei der Blutentnahme ein aggressives Verhalten gezeigt hat. Dass der Angeklagte keine motorischen Ausfallerscheinungen oder Artikulationsschwierigkeiten hatte, entband das Berufungsgericht nicht, sich mit der Frage der Schuldfähigkeit auseinanderzusetzen. Das Urteil kann deshalb keinen Bestand haben.

3. Da die Feststellungen zum äußeren Geschehensablauf von keiner Gesetzesverletzung betroffen sind und die allein noch erforderlichen Feststellungen zur Frage der Schuldunfähigkeit auch ohne nochmalige Überprüfung der angeführten Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen getroffen werden können, unterliegen diese nicht der Aufhebung (vgl. BGH Beschluss vom 27.11.2002 - 5 StR 127/02; BayObLG Beschluss vom 20.2.2003 - 1St RR 10/03; Meyer-Goßner StPO 47. Aufl. § 353 Rn. 15 m.w.N.). Insoweit hat das Rechtsmittel keinen Erfolg.

II.

Danach ist das angefochtene Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen, soweit diese nicht den äußeren Geschehensablauf betreffen, aufzuheben (§ 353 StPO).

Die Sache wird insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Traunstein zurückverwiesen (§ 354 Abs. 2 StPO).

Zur Klärung der Frage, ob der Angeklagte zur Tatzeit schuldunfähig gewesen ist, aber auch zur Frage, ob der Angeklagte etwa den Hang haben könnte, alkoholische Getränke im Übermaß im Sinne des § 64 StGB zu sich zu nehmen, dürfte sich in der neuen Hauptverhandlung die Hinzuziehung eines medizinischen Sachverständigen empfehlen.

Ende der Entscheidung

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