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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 20.03.2001
Aktenzeichen: 1 St RR 27/01
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 235 Abs. 1 Nr. 1
StGB § 235 Abs. 2 Nr. 1
StGB § 46 Abs. 3
StGB § 56 Abs. 2
Zur Frage des Rechtsfolgenausspruches wegen der Entziehung von Minderjährigen.
Tatbestand:

Der Angeklagte lebte seit Juni 1998 von seiner (deutschen) Ehefrau getrennt. Die elterliche Sorge für den ehelichen, damals dreijährigen Sohn, der bei der Mutter verblieben war, stand beiden Eltern gemeinsam zu; der Angeklagte hatte ein vereinbartes Besuchsrecht. "Übernachten durfte T. beim Angeklagten (nur) einmal; weitere Übernachtungen unterblieben mit der Begründung, das Kind wolle das nicht". Am 10.7.1999 holte der Angeklagte das Kind in Ausübung seines Besuchsrechts und unter Verschweigen seines wirklichen Vorhabens bei der Mutter ab und verbrachte es anschließend in die Türkei. Der Angeklagte hatte den Eindruck gewonnen, seine Ehefrau wolle das von ihm geliebte Kind von ihm fernhalten, und "befürchtete aufgrund der gesamten Umstände, das Sorge- und Umgangsrecht ... zu verlieren". "Einen festen Termin für die Rückführung des Kindes hatte der Angeklagte nicht ins Auge gefasst". Am 20.9.1999 gelang es der Ehefrau des Angeklagten, der Zeugin K., die ihm in die Türkei nachgereist war - ob sie seinen Aufenthalt erst durch eine telefonische Fangschaltung oder, wie der Angeklagte geltend machte, von ihm selbst erfahren hatte, konnte nicht geklärt werden - und die dort mit dem Angeklagten zunächst eine Woche gemeinsam (mit Ausflügen und Strandbesuchen) verbrachte, unter Ausnutzung von dessen zeitweiliger Abwesenheit mit dem Kind nach Deutschland zurückzureisen. Am 9.11.1999 stellte sich der inzwischen in Kenntnis eines gegen ihn ergangenen Haftbefehls ebenfalls nach Deutschland zurückgekehrte Angeklagte in Gegenwart seines Verteidigers dem Ermittlungsrichter. Gleichwohl wurde er in Untersuchungshaft genommen, aus der er erst am 7.11.2000 entlassen wurde. Allerdings war der Haftbefehl vom 12.8.1999 auf den Verdacht eines Verbrechens nach § 235 Abs. 4 Nr. 2 StGB gestützt worden, weil der Angeklagte für die Rückgabe des Kindes Geld gefordert haben sollte.

Das Schöffengericht verurteilte den Angeklagten am 19.5.2000 wegen Entziehung Minderjähriger zur Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 10 Monaten. Den Vorwurf eines Verbrechens nach § 235 Abs. 4 Nr. 2 StGB erachtete das Schöffengericht jedoch nicht nur für nicht erwiesen, sondern für "im wesentlichen widerlegt". Die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung des Angeklagten verwarf das Landgericht am 7.11.2000 unter Herabsetzung der Freiheitsstrafe auf 1 Jahr und 6 Monate als im übrigen unbegründet.

Die auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hatte Erfolg.

Gründe:

Dem Landgericht sind in seinem an sich sorgfältig und ausführlich begründeten Urteil Wertungsfehler unterlaufen, die den Strafausspruch weder hinsichtlich der Höhe der erkannten Freiheitsstrafe noch hinsichtlich der Versagung von Strafaussetzung einsichtig und nachvollziehbar erscheinen lassen. Denn auch wenn die Strafzumessung Sache des Tatrichters ist und eine exakte Richtigkeitskontrolle im Hinblick auf den ihm zustehenden Ermessensspielraum ausgeschlossen ist, zumal nur die bestimmenden - also nicht sämtliche - Umstände im Urteil anzuführen sind (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO), ist ein Eingreifen des Revisionsgerichts doch immer dann erforderlich, wenn Rechtsfehler vorliegen und/oder wenn sich die Strafe von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, so weit nach unten oder nach oben entfernt, dass ein grobes Missverhältnis von Schuld und Strafe offenkundig ist (BGHSt 29, 319/320; weitere Nachweise bei KK/Engelhardt StPO 4. Aufl. § 267 Rn. 25). Ist eine Strafe sehr hoch oder weicht sie erheblich von den Strafen anderer Gerichte in vergleichbaren Fällen ab, bedarf sie einer Rechtfertigung in den Urteilsgründen, die die Abweichung vom Üblichen an den Besonderheiten des Falls verständlich macht (BGH bei Spiegel DAR 1978, 149; StV 1986, 57).

Gerade der letztgenannten Anforderung genügt das Urteil nicht.

1. In den Jahren 1990 bis einschließlich 1999 sind im Freistaat Bayern insgesamt 75 Verurteilungen wegen Straftaten nach § 235 StGB erfolgt, davon 45 zu Geld- und 30 zu Freiheitsstrafen (Strafverfolgungsstatistik Bayern, herausgegeben vom Bayerischen Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung). In den 30 Fällen einer Verurteilung zu Freiheitsstrafe wurde in 23 Fällen die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt, so dass nur in sieben von insgesamt 75 Fällen eine Vollzugsstrafe verhängt wurde, was einem Anteil von 9 % entspricht. Bezogen auf Freiheitsstrafen von einem Jahr oder mehr ist es sogar nur in drei Fällen, entsprechend einem Anteil von nur 4 % an der Gesamtzahl, zur Versagung von Strafaussetzung gekommen.

An diesen Zahlen wird deutlich, dass sich die vom Landgericht ausgesprochene Strafe sowohl hinsichtlich ihrer Höhe wie auch hinsichtlich der versagten Strafaussetzung an der Obergrenze der in Bayern in den letzten Jahren erfolgten Verurteilungen wegen Entziehung Minderjähriger bewegt.

2. a) Dieses Ergebnis wird von den im Urteil widergegebenen Strafzumessungstatsachen und -erwägungen der Strafkammer nicht getragen.

Das Landgericht hat - zu Recht - als sich zugunsten des Angeklagten auswirkende Umstände die Selbststellung, sein Geständnis, seine Eigenschaft als sorgeberechtigter Vater, die Furcht vor dem Verlust des Sorge- und Umgangsrechts und die Auswirkungen der Untersuchungshaft angeführt.

In der Berücksichtigung seiner Furcht vor einem Sorgerechtsverlust kommt allerdings nicht genügend zum Ausdruck, dass dem Angeklagten - zumindest aus seiner Sicht - seine Ehefrau durch ihr Verhalten (Verweigerung von Übernachtungen des Kindes, Verweigerung einer Urlaubsreise in die Türkei) Anlass zur Tat gegeben haben mag (vgl. § 1684 Abs. 2 Satz 1 BGB) und dass der Angeklagte aus Liebe zu seinem Sohn handelte. Weiterhin ist dem Angeklagten über die vom Landgericht angeführten Tatsachen hinaus zugute zu halten, dass er das Kind der Mutter nicht auf Dauer entziehen wollte (wovon jedenfalls im Zweifel auszugehen ist und wofür der von ihm mit der Mutter ständig gehaltene Telefonkontakt wie auch die Tatsache sprechen, dass er - wovon ebenfalls im Zweifel auszugehen, ist - der Mutter selbst seinen Aufenthaltsort offenbart hat). Nicht zuletzt muss sich aber auch strafmildernd auswirken, dass der Angeklagte als Folge der Tat und als besondere Härte den Verlust oder zumindest erhebliche Einschränkungen des Umgangs mit seinem Sohn wird hinnehmen müssen (vgl. § 1684 Abs. 4 BGB) oder dass dies jedenfalls nicht auszuschließen ist.

Diese überwiegend gewichtigen, den Angeklagten entlastenden oder sich strafmildernd auswirkenden Umstände lassen es bereits als wenig wahrscheinlich erscheinen, dass der Fall zu den schwersten gehören sollte, die in den letzten Jahren in Bayern abgeurteilt worden sind. Die dem Angeklagten von der Strafkammer als erschwerend vorgeworfenen, nicht durchwegs zutreffend gewerteten Faktoren bestätigen dies.

aa) Das Landgericht hat dem Angeklagten angelastet, dass "die Tat geplant und vorbereitet war und mit nicht unerheblicher krimineller Energie durchgeführt wurde". Das wird von den Feststellungen nicht getragen, da sich aus ihnen im wesentlichen lediglich ergibt, dass der Angeklagte - vom Verschweigen seiner Absichten und damit der Erfüllung des Tatbestandsmerkmals "List" abgesehen (§ 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB) - einige Tage zuvor die Schiffsreise gebucht hatte. Darin kann nichts wesentlich erschwerendes gefunden werden, da es zum regelmäßigen Tatbild einer Verbringung ins Ausland gehört, dass die Ausreise einiger Vorbereitung, zumal mit einem Kleinkind, bedarf, so dass dies dem Täter nicht über die Tatbestandserfüllung hinaus vorgeworfen werden darf (§ 46 Abs. 3 StGB). Das gilt sinngemäß auch dafür, dass er "seine Spuren zunächst verwischt und die Zeugin K. zumindest nicht sofort über den Aufenthaltsort ihres Sohnes informiert hat".

bb) Durchgreifenden Bedenken begegnet es auch, wenn die Strafkammer dem Angeklagten vorwirft, dass die "Mutter des Kindes große seelische Belastungen erdulden musste und als Nachwirkung der Tat noch immer erdulden muss". Die Tat ist typischerweise "auf Streitigkeiten geschiedener oder getrennt lebender Eltern um das gemeinsame Kind" (Begründung zum Reformentwurf BT-Drucks 13/7164 S. 23/25) zurückzuführen. Seelische Belastungen beider Elternteile gehören daher ebenfalls zum typischen Tatbild des Delikts. Im übrigen wäre der Belastung der Mutter entgegenzuhalten, dass sie, was zugunsten des Angeklagten zu unterstellen ist, wesentliche Mitverantwortung für das Zerwürfnis trägt; soweit Angstzustände auf einem Erdbeben in der Türkei in der Entziehungszeit beruhen, trägt der Angeklagte hierfür keine vorwerfbare Verantwortung.

b) Eine Zusammenschau dieser Strafzumessungstatsachen lässt daher eine Freiheitsstrafe in der vom Landgericht ausgesprochenen Höhe von einem Jahr und sechs Monaten jedenfalls auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen nicht mehr als schuldangemessen erscheinen. Deutlich wird dies auch in einem Vergleich etwa mit der Fallgestaltung, wie sie beispielsweise einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 11.2.1999 (BGHSt 44, 355) zugrunde lag oder mit der Strafzumessungspraxis etwa bei Körperverletzungsdelikten nach § 223 StGB, bei denen es - bei gleichem Strafrahmen - selbst bei einschlägig und wiederholt vorbestraften Schlägern nach den Erfahrungen des Senats nur selten (wenn überhaupt) zu vergleichbaren Freiheitsstrafen kommt.

3. Aber auch die Versagung von Strafaussetzung zur Bewährung könnte keinen Bestand haben.

Das Landgericht hat eine günstige Sozialprognose (§ 56 Abs. 1 StGB) bejaht, so dass die Bewährungsentscheidung davon abhing, ob besondere Umstände im Sinn von § 56 Abs. 2 StGB gegeben waren (die Voraussetzungen des § 56 Abs. 3 StGB sind auf der Grundlage der gegenwärtigen Feststellungen nicht erkennbar und von der Strafkammer auch nicht erwogen worden).

Bei der hiernach vorzunehmenden Gesamtwürdigung hat die Strafkammer ersichtlich nicht verkannt, dass es genügt, wenn Milderungsgründe - auch solche, die bei einer Einzelbewertung nur durchschnittliche und einfache Milderungsgründe wären - von solchem Gewicht vorliegen, die eine Strafaussetzung trotz des erheblichen Unrechts- und Schuldgehalts, der sich in der Höhe der Strafe widerspiegelt, als nicht unangebracht und den vom Strafrecht geschützten Interessen nicht zuwiderlaufend erscheinen lassen (BGHR StGB § 56 Abs. 2 Umstände, besondere 6, 7; StV 1998, 260), und dass alle bei der Festsetzung der Strafe bereits maßgeblichen Umstände erneut mit zu berücksichtigen sind, ohne dass sie in ihrer Bedeutung für die Aussetzungsentscheidung gemindert wären (BGHR StGB § 56 Abs. 2 Gesamtwürdigung, unzureichende 3).

Hierzu hat die Strafkammer zutreffend ausgeführt:

"Der Angeklagte hat zwar kein fremdes, sondern sein eigenes Kind ins Ausland verbracht. Die Tat erfolgte aus Zuneigung zum Kind und nicht aus Gewinnstreben. Die Verbringung erfolgte auch nicht in einen beliebigen Drittstaat, sondern in das Heimatland des Vaters des entzogenen Kindes. Der Angeklagte hat durch seine Einreise in das Bundesgebiet sich auch nicht nur der Gefahr der Verhaftung ausgesetzt, sondern er hat - nachdem bei der Einreise keine Festnahme erfolgte - sich selbst dem Ermittlungsrichter gestellt und ein umfassendes Geständnis abgelegt. Der Angeklagte ist zwar vorbestraft, aber nicht einschlägig und nur im Bagatellbereich. In diesem Zusammenhang war auch zu berücksichtigen, dass der Angeklagte für die von ihm begangene Tat bereits ein Jahr Untersuchungshaft verbüßt hat, durch die er nachhaltig beeindruckt wurde, so dass eine günstige Sozialprognose vorliegt."

Nimmt man die weiteren zu berücksichtigenden, oben unter 2. a) genannten Milderungsgründe hinzu, kann nicht zweifelhaft sein, dass bereits für sich genommen (Tatmotivation, Folgen der Tat), jedenfalls aber in einer zusammenfassenden Würdigung besondere Umstände im Sinn von § 56 Abs. 2 StGB vorliegen.

Wenn die Strafkammer dies unter Abwägung gegen die aus ihrer Sicht gegebenen Erschwerungsgründe - bei denen es sich im wesentlichen um die gleichen handelt, die sie strafschärfend bei der Festsetzung der Höhe der Freiheitsstrafe berücksichtigte - verneint hat, kann ihr darin nicht gefolgt werden, weil damit der dem Tatrichter an sich zustehende Ermessensspielraum über die Grenze des Vertretbaren hinaus (Tröndle/ Fischer StGB 50. Aufl. § 56 Rn. 9 i m.w.N.) verlassen wurde.

Die Wertung und Gewichtung der Negativtatsachen begegnet im einzelnen den oben schon aufgezeigten Bedenken. Soweit die Kammer dem Angeklagten darüber hinaus noch "insbesondere" zum Vorwurf gemacht hat, den Entziehungszustand "nicht von sich aus beendet" zu haben, ist dem entgegenzuhalten, dass die Tat Dauerdelikt ist (Tröndle/Fischer § 235 Rn. 6) und daher allenfalls im umgekehrten Fall die freiwillige Beendigung der Entziehung dem Täter zugute gehalten, nicht aber dem Angeklagten wie hier die Nichtbeendigung vorgeworfen werden darf. Angelastet werden darf insoweit allenfalls die Dauer der Entziehung; das hat die Strafkammer aber ohnehin bereits getan. Im übrigen hat der Angeklagte seiner Ehefrau durch seine zeitweilige Abwesenheit immerhin die Rückreise nach Deutschland ermöglicht.

Ende der Entscheidung

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