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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 30.07.2002
Aktenzeichen: 1 St RR 71/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 244 Abs. 3
StPO § 244 Abs. 4
Der Antrag, ein psychoanalytisches Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsache einzuholen, dass der Angeklagte "sich schon die Verurteilung erster Instanz zur Warnung dienen hat lassen und künftig auch ohne Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird," genügt mangels Bestimmtheit den an einen Beweisantrag zu stellenden Anforderungen nicht.
Tatbestand:

Am 19.11.2001 hat das Amtsgericht den Angeklagten wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt und daneben die Verwaltungsbehörde angewiesen, dem Angeklagten vor Ablauf von vier Jahren keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen.

Die Berufung des Angeklagten hat das Landgericht am 25.2.2002 mit der Maßgabe verworfen, dass die erkannte Freiheitsstrafe auf fünf Monate herabgesetzt wird und dass es im übrigen bei der Fahrerlaubnissperre von vier Jahren verbleibt.

Die Revision des Angeklagten hatte keinen Erfolg.

Gründe:

Die zulässig erhobene Rüge einer Verletzung des Beweisantragsrechts durch die Ablehnung des Hilfsbeweisantrags ist unbegründet. Es handelt sich nicht um einen ordnungsgemäßen Beweisantrag, weil der Antragsteller keine dem Beweis zugängliche, hinreichend konkrete Tatsache unter Beweis gestellt hat, sondern um einen Beweisermittlungsantrag.

Dem Antrag, ein psychoanalytisches Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsache einzuholen, dass der Angeklagte "sich schon die Verurteilung erster Instanz zur Warnung dienen hat lassen und künftig auch ohne Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird," ist das Landgericht "nicht nachgegangen..., weil das Gericht in eigener Sachkunde entscheiden konnte und zu entscheiden hatte, ob die Voraussetzungen für eine günstige Sozialprognose gemäß § 56 Abs. 1 StGB bestehen oder nicht" (BU Bl.14).

Nach allgemeiner Auffassung muss ein Beweisantrag eine "bestimmte Beweistatsache" behaupten (= Beweisthema). Eine bestimmte Beweistatsachenbehauptung ist nach gefestigter Rechtsprechung deshalb erforderlich, weil auf vage formulierte Beweisthemen die Ablehnungsgründe des § 244 StPO nicht exakt und sinnvoll angewendet werden können (BGHSt 37, 162/165 mit Anm. Gollwitzer JR 1991, 472; Herdegen NStZ 1998, 444/449; KK-Herdegen StPO 4.Aufl. § 244 Rn.46; SK-Schlüchter StPO 244 Rn. 57). Bei den Beweistatsachen geht es um "konkrete Geschehnisse, Dinge, Umstände und Zustände der äußeren Welt, um Vorgänge und Eigentümlichkeiten des Seelenlebens und um das Bestehen oder Nichtbestehen von Zusammenhängen, ganz allgemein um Sachverhalte, die nach der Beweisbehauptung der Fall waren oder der Fall sind" (KK-Herdegen aaO Rn. 45). Indiztatsachen, die ohne weiteres oder nur mittelbar, d.h. erst in Verbindung mit weiteren Zwischengliedern zum induktiven Schluss auf die unmittelbar erhebliche Tatsache beitragen, können stets Thema eines Sachverständigenbeweises sein (Toepel Grundstrukturen des Sachverständigenbeweises im Strafprozessrecht, 2002, S.130/134). So gesehen ist die Behauptung einer günstigen Sozialprognose eine dem Sachverständigenbeweis zugängliche Wahrscheinlichkeitsbehauptung aufgrund gegenwärtigen und vergangenen Verhaltens (vgl. auch OLG Celle JR 1985, 32/33 mit zust. Anm. J.Meyer; Tröndle/Fischer StGB 50.Aufl. § 56 Rn.4). Der Auffassung von K. Meyer (Alsberg/Nüse/Meyer Der Beweisantrag im Strafprozess, 5. Aufl., S.430), Beweisanträge mit einer Prognosebehauptung seien stets als unzulässig abzulehnen, folgt der Senat nicht (So auch OLG Celle aaO mit zust. Anm. J.Meyer; Tröndle/Fischer aaO). Dass Prognosen in den Zuständigkeitsbereich von Sachverständigen fallen, belegt neben § 454 Abs. 2 StPO auch § 246a Satz 1 StPO, wonach in der Hauptverhandlung ein Sachverständiger über den Zustand eines Angeklagten und die Behandlungsaussichten zu vernehmen ist, wenn damit zu rechnen ist, dass die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder in der Sicherungsverwahrung angeordnet werden wird.

Weder Kriminologie noch Psychologie, Psychiatrie oder Soziologie sind derzeit in der Lage, verlässliche Methoden für eine sichere Prognose zu entwickeln (kritischer Überblick bei Eisenberg Kriminologie 5.Aufl. § 21 Rn.14 ff.; vgl. auch Nedopil NStZ 2002, 344). Deshalb trifft der Tatrichter seine Prognoseentscheidung nach wie vor aufgrund der von der, Rechtsprechung unter Berücksichtigung der von der Kriminalprognoseforschung je nach Tat- und Tätertyp entwickelten im einzelnen nicht sicheren Erfahrungssätze. Dies ändert nichts daran, dass als Sachverhalt die Wahrscheinlichkeit zukünftigen Verhaltens jedenfalls als solche - "tatsächlich" - festzustellen ist (LK-Hanack 11.Aufl. Vor § 61 Rn.45).

Bei der Frage nach der günstigen Sozialprognose im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 1 StGB als Akt der Strafzumessung (LK-Gribbohm 11.Aufl. § 56 Rn.1, 27) steht dem Tatrichter - ohne Bindungen an Äußerungen von Sachverständigen - kein Ermessen zu, wenn ihn die in eigener Verantwortung stehende Beurteilung zu einem bestimmten Ergebnis geführt hat, auch wenn ihm bei der Prognose selbst ein Beurteilungsspielraum zusteht (LK-Gribbohm 11.Aufl. § 56 Rn.27). In die Entscheidung fließen wertende Überlegungen ein. Die in § 56 Abs. 1 Satz 2 StGB genannten Gesichtspunkte ("Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten nach der Tat, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen..., die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind") sind nicht abschließend, sondern nur beispielhaft genannt. In diesem Zusammenhang können neben der allgemeinen Persönlichkeitsstruktur, besondere Persönlichkeitsfaktoren und Motive aufschlussreich sein, die den Täter zu seiner Tat veranlasst haben.

Im vorliegenden Fall bestehen bereits erhebliche Zweifel, ob die Psychoanalyse als Wissenschaft vom Unbewussten grundsätzlich geeignet ist, etwas Hilfreiches zur Sozialprognose des Angeklagten, der ein Alkoholproblem hat, beizutragen. Falls ein Psychoanalytiker diesbezüglich Wissen beitragen könnte, welches sich auf die richterliche Prognose auszuwirken vermag, betrifft der Antrag, einen Sachverständigen hinzuzuziehen, die Beweisaufnahme und nicht nur eine Rechtsfrage; denn wenn der Sachverständige ein solches Wissen beisteuern kann, ist ohne den Beitrag des Sachverständigen der vom Gericht der Prognose zugrundezulegende Sachverhalt gerade noch nicht soweit geklärt, dass das Gericht nur noch subsumieren muss (vgl. Toepel aaO S.135 f.). Der Richter ist gehalten, aufgrund aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalls eine Gesamtwürdigung vorzunehmen (BGH StV 1995, 414).

Die der Prognoseentscheidung zugrundliegenden, einer Beweiserhebung zugänglichen Tatsachen sind dem Angeklagten bekannt und können im Rahmen der Verteidigung besprochen werden. Daher ist es dem Angeklagten auch zuzumuten, diese substantiiert darzulegen (zur Zumutbarkeit der Darlegung bereits RGSt 27, 95/97; BGHSt 37, 162/166), damit das Gericht die Bedeutung dieser Indiztatsachen, auf die es aus Sicht der Verteidigung ankommt, prüfen, in seine Beweiswürdigung einbeziehen und über einen Beweisantrag nach § 244 Abs. 3, Abs. 4 StPO entscheiden kann (im Ergebnis wie hier auch OLG Celle JR 1985, 32/33 mit zust. Anm. J. Meyer). Im vorliegenden Fall ist die Behauptung der günstigen Sozialprognose jedoch völlig abstrakt mit dem Gesetzestext des § 56 Abs. 1 Satz 1 StPO aufgestellt worden, ohne diese mit Tatsachen über Eigenschaften, Entwicklungen und Lebensumständen des Angeklagten zu konkretisieren. Die bloße Behauptung einer günstigen Sozialprognose genügt nicht, um von einem Beweisantrag ausgehen zu können, weil auf einen solchen Antrag die Ablehnungsgründe des § 244 StPO nicht exakt und sinnvoll angewendet werden können.

Aber selbst wenn ein Beweisantrag vorliegen würde, wäre dieser vom Landgericht wegen eigener Sachkunde nach § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO beanstandungsfrei abgelehnt worden.

Ebenso wie ein Gericht die Glaubwürdigkeit erwachsener Zeugen grundsätzlich selbst beurteilen kann (ständige Rechtsprechung; neuerdings wieder BGH NStZ 2000, 214; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 244 Rn.74 m. w. N.; vgl. auch Toepel aaO S.207 ff.), darf sich das Gericht bei der Beurteilung der Sozialprognose die eigene Sachkunde zutrauen. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung hat allein der Tatrichter die Prognosefrage zu entscheiden (neuerdings wieder BGH wistra 1997, 181; grundlegend BGHSt 17, 35/36 f.; 29, 319/320; 34, 345/349). Persönlichkeitsbezogene Prognosen sind eine tägliche Aufgabe der Strafgerichte. Grundsätzlich erwartet das Gesetz von dem Tatrichter, dass er diese Aufgabe aus eigener Sachkunde erfüllen kann (so auch OLG Celle aaO).

Entgegen der Auffassung der Verteidigung knüpft die Entscheidung des Tatrichters zur Sozialprognose im wesentlichen an "Alltagserfahrungen" an. Gäbe es besondere Befunde, die nicht durch Alltagserfahrungen oder jedenfalls nicht durch das Sonderwissen der bereits in der Hauptverhandlung vernommenen Psychiaterin zu klären und vom Gericht prognostisch zu bewerten gewesen wären, hätte der Verteidiger Konkretes zum Anknüpfungspunkt vortragen müssen.

Hierbei können zwar Prognosetabellen oder -tafeln bei der Wahrscheinlichkeitsbeurteilung hilfreich sein, vermögen aber die weitgehend erfahrungsgestützte tatrichterliche Prognose nicht zu ersetzen, weil sie - die Treffsicherheit derartiger Tabellen unterstellt - allenfalls "allgemeine" statistische Wahrscheinlichkeiten ergeben. Der Tatrichter hat aber den konkreten Einzelfall mit all seinen Besonderheiten zu entscheiden. Dem Tatrichter "ist nicht mit der Erkenntnis geholfen, dass bei einer bestimmten Konstellation die Rückfallwahrscheinlichkeit z.B. bei 70 % liegt, solange niemand sagen kann, ob der Angeklagte zu den 70 % oder zu den 30 % gehört" (Schäfer Praxis der Strafzumessung 3.Aufl. Rn. 131). Träfe die Auffassung des Verteidigers zu, dass den Gerichten die erforderliche Sachkunde für die Beurteilung der Sozialprognose fehlt, hätte dies nicht nur zur Konsequenz, dass entsprechenden Beweisanträgen ausnahmslos stattzugeben wäre, sondern die Gerichte wären im Rahmen der Amtsaufklärungspflicht sogar gehalten, stets einen Sachverständigen zur Beantwortung der Bewährungsfrage einzuschalten.

Der Ablehnungsgrund der eigenen Sachkunde des Gerichts setzt allerdings stets voraus, dass das Gericht diese Sachkunde auch tatsächlich besitzt. Beweisanträgen auf Vernehmung eines Sachverständigen für die Sozialprognose wird vor allem dann nachzugehen sein, wenn andere Beweismittel zur Aufklärung der psychosozialen Verhältnisse des Angeklagten nicht ausreichen, zumal wenn der Angeklagte Charakterzüge aufweist, deren Bedeutung für sein künftiges Verhalten ohne sachverständige Hilfe nicht abzuschätzen sind.

Ende der Entscheidung

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