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Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 11.04.2001
Aktenzeichen: 1Z AR 2/01
Rechtsgebiete: GG, FGG, GVG, EGGVG
Vorschriften:
GG Art. 2 Abs. 1 | |
GG Art. 20 Abs. 3 | |
FGG § 22 Abs. 2 | |
GVG § 132 Abs. 3 | |
EGGVG § 10 Abs. 1 |
Der 1. Zivilsenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts hat unter Mitwirkung des Präsidenten Gummer sowie der Richter Kenklies und Zwirlein
am 11. April 2001
auf die Anfrage des 2. Zivilsenats vom 13. März 2001 - 2Z BR 23/01 - gemäß - 132 Abs. 3 GVG i.V.m. - 10 Abs. 1 EGGVG
beschlossen:
Tenor:
1. Der Senat hält an seiner im Beschluss vom 14. Oktober 1996 (1Z BR 219/96) zum Ausdruck gebrachten Rechtsauffassung fest, dass eine allgemeine Pflicht der Gerichte zur Rechtsmittelbelehrung - auch von Verfassungs wegen - in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht besteht.
2. Versäumt eine anwaltlich nicht vertretene Partei, der eine Rechtsmittelbelehrung nicht erteilt wurde, die in _ 22 Abs. 1 Satz 1 FGG vorgeschriebene Beschwerdefrist, so ist nach Auffassung des Senats der Irrtum über die Voraussetzungen der rechtzeitigen Einlegung des Rechtsmittels als unverschuldet im Sinne des _ 22 Abs. 2 Satz 1 FGG anzusehen, es sei denn, besondere Umstände ergeben, dass die Rechtsmittelfrist aus anderen Gründen als Rechtsunkenntnis versäumt wurde. An der Entscheidung des Senats vom 14. Oktober1996 wird nicht festgehalten, soweit aus ihr Gegenteiliges abgeleitet werden kann.
Gründe:
1. Der Senat hat seiner vom anfragenden 2. Zivilsenat angesprochenen Entscheidung vom 14.10.1996 die Auffassung zugrunde gelegt, dass der in § 22 Abs. 1 Satz 2 FGG vorgesehene Beginn einer Rechtsmittelfrist nicht von der Erteilung einer Rechtsmittelbelehrung abhängt, soweit der Gesetzgeber - wie grundsätzlich im FGG - eine Rechtsmittelbelehrung nicht vorgeschrieben hat. Auch unter Berücksichtigung der dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 20.6.1995 (BVerfGE 93, 99 ff.) zugrundeliegenden Rechtsauffassungen machte sich der Senat nicht die Ansicht zu eigen, dass bei befristeten Rechtsmitteln in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit eine Rechtsmittelbelehrung von Verfassungs wegen geboten sei; vielmehr vertrat der Senat die Auffassung, dass das Fehlen einer Rechtsmittelbelehrung die Wirksamkeit der gerichtlichen Entscheidung und die an ihre Bekanntmachung geknüpften Folgen nicht beeinträchtigt. Hieran wird festgehalten.
2. Die Annahme einer in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit von Verfassungs wegen - sei es generell, sei es im Einzelfall - gebotenen Rechtsmittelbelehrung hält der Senat auch nicht für erforderlich, um dem vom Bundesverfassungsgericht aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Grundsatz einer fairen Verfahrensgestaltung abgeleiteten Gebot Rechnung zu tragen, den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht unzumutbar zu erschweren. Eine im Sinne der entsprechenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unzumutbare Erschwernis tritt nämlich allenfalls dann ein, wenn eine auf eine fehlende Rechtsmittelbelehrung zurückzuführende Fristversäumung dem Beschwerdeführer als "verschuldet" im Sinne des § 22 Abs. 2 Satz 1 FGG zugerechnet wird, wie dies allerdings in der bisher herrschenden Rechtsprechung, auch in derjenigen des Obersten Landesgerichts, angenommen wird. Hierzu besteht aber von Gesetzes wegen kein zwingender Anlass. Die entsprechende Rechtsprechung beruht auf der These, es sei Sache eines juristisch nicht vorgebildeten Beteiligten, der eine ihm ungünstige gerichtliche Entscheidung zugestellt erhält, sich alsbald nach Form und Frist eines beabsichtigten Rechtsmittels zu erkundigen (vgl. Keidel/Kahl FGG 14. Aufl. § 22 Rn. 23 m.w.N.). Diese Annahme ist - im Sinne der in der Anfrage zum Ausdruck kommenden Rechtsauffassung - überprüfungsbedürftig und überprüfungsfähig.
3. Der Gesetzgeber geht in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit auch für das Rechtsmittelverfahren davon aus, dass die rechtskundige Vertretung des Rechtsmittelführers aus, Rechtsgründen nicht geboten ist (vgl. insbesondere §§ 21, 29 Abs. 1 FGG). Der Senat teilt die in der Anfrage zum Ausdruck gebrachte Auffassung, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht nur unterschiedlich ausgestaltet, sondern auch nicht einfach überschaubar und im Bewußtsein der Bevölkerung nicht zweifelsfrei verwurzelt sind. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine auf Rechtsunkenntnis zurückzuführende Fristversäumung eines anwaltschaftlich nicht vertretenen Beteiligten, dem eine Rechtsmittelbelehrung nicht erteilt wurde, als "schuldhaft" zu beurteilen ist, sind auch die geänderten tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen zu berücksichtigen. Zu diesen gehört auch, dass zuletzt in der Folge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20.6.1995 es in der untergerichtlichen Praxis jedenfalls zum Teil üblich geworden ist, Rechtsmittelbelehrungen - sei es generell, sei es bei befristeten Rechtsmitteln - zu erteilen. Unter diesen Umständen kann es nach Ansicht des Senats einem Beteiligten, der über eine einzuhaltende Rechtsmittelfrist nicht belehrt wird, unter den heutigen Gegebenheiten nicht zum Vorwurf gemacht werden, wenn er von einer zeitlich nicht eng befristeten Anfechtbarkeit einer ergangenen Entscheidung ausgeht. Der Senat teilt daher die Auffassung des anfragenden Senats insoweit, als dieser es im Hinblick auf den Grundsatz eines wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 20 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) für angezeigt ansieht, die Fristversäumung eines anwaltlich nicht vertretenen Beteiligten, dem eine Rechtsmittelbelehrung nicht erteilt wurde, grundsätzlich als unverschuldet im Sinne des § 22 Abs. 2 Satz 1 FGG anzusehen. In einem solchen Fall ist daher nach Auffassung des 1. Zivilsenats grundsätzlich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, es bei denn, es ergäbe sich aus besonderen Umständen des Einzelfalls, dass die Frist aus anderen Gründen als aus Rechtsunkenntnis versäumt wurde.
4. Der Senat hat sich in der in der Anfrage angesprochenen Entscheidung vom 14.10.1996 mit den Fragen der Wiedereinsetzung nicht näher befassen müssen. Soweit aus der Entscheidung entnommen wird, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nicht allein deshalb gewährt werden, weil eine Rechtsmittelfrist infolge Rechtsunkenntnis eines Beteiligten versäumt wurde, dem eine Rechtsmittelbelehrung nicht erteilt worden ist, stellt der Senat klar, dass er hieran nicht festhält. Er nimmt im übrigen auf die Darlegungen in seinem Vorlagebeschluss an den Bundesgerichtshof vom 22.1.2001 (BayObLGZ 2001 Nr. 4) Bezug, der sich auf eine ähnliche Problemlage bezieht. Darin hat der Senat auch zum Ausdruck gebracht, dass eine bisher als eindeutig angesehene Auffassung durch die Rechtsentwicklung überprüfungs- und anpassungsbedürftig werden kann.
Hinweis
zu den Beschlüssen vom 13.03.2001 (2Z BR 23/01), 11.04.2001 (1Z AR 2/01) und 20.04.2001 (U AR 22/01):
Die den Beschlüssen zugrundeliegende Hauptsache hat sich erledigt, so dass für die in dem Beschluss vom 13.03.2001 ins Auge gefasste Vorlage an den Großen Senat für Zivilsachen des Bayerischen Obersten Landesgerichts oder an den Bundesgerichtshof kein Raum mehr ist.
Ende der Entscheidung
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