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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 21.01.2002
Aktenzeichen: 1Z AR 2/02
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6
ZPO § 281
ZPO § 696
ZPO § 700
Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Verweisungsbeschluss willkürlich und deswegen nicht bindend ist.
Der 1. Zivilsenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts hat unter Mitwirkung der Richter Kenklies, Rojahn und Seifried

am 21. Januar 2002

in dem Rechtsstreit

wegen Forderung,

hier: Bestimmung des zuständigen Gerichts,

auf Vorlage des Amtsgerichts Tiergarten

beschlossen:

Tenor:

Zuständig ist das Amtsgericht Tiergarten.

Gründe:

I.

Die Klägerin betreibt einen Mobilfunkdienst. Sie hat mit der Beklagten einen Telekarten-Vertrag geschlossen. Eine aus diesem Vertrag resultierende Vergütungsforderung hatte sie zunächst im Mahnverfahren geltend gemacht. Nach Einspruch der Beklagten gegen den Vollstreckungsbescheid vom 6.7.2001 gab das Mahngericht den Rechtsstreit an das für den damaligen Wohnsitz der Beklagten zuständige Amtsgericht Obernburg a. M. ab. Die Anspruchsbegründung wurde der Beklagten am 8.10.2001 an ihrem neuen Wohnsitz in Berlin zugestellt. Mit Schriftsatz vom 19.10.2001 beantragten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin die Verweisung an das für den neuen Wohnsitz zuständige Amtsgericht Berlin-Tiergarten. Mit Beschluss vom 13.11.2001 hat das Amtsgericht Obernburg a. M. sich für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Amtsgericht Berlin-Tiergarten verwiesen, weil die Beklagte nunmehr ihren Wohnsitz in Berlin habe. Das Amtsgericht Tiergarten hat sich mit an die Parteien mitgeteiltem Beschluss vom 17.12.2001 ebenfalls für unzuständig erklärt, weil für die örtliche Zuständigkeit gemäß § 261 Abs. 3 Nr. 2, § 700 Abs. 2 ZPO auf den Zeitpunkt der Zustellung des Mahnbescheids abzustellen, der Verweisungsbeschluss mithin willkürlich gewesen sei, und die Akten dem Oberlandesgericht Bamberg zur Bestimmung des zuständigen Gerichts nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO vorgelegt. Dieses hat die Akten gemäß § 9 EGZPO an das Bayerische Oberste Landesgericht weitergeleitet.

II.

Zu bestimmen war das Amtsgericht Tiergarten. Die nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO dafür maßgebenden Voraussetzungen liegen vor.

1. Das Bayerische Oberste Landesgericht ist gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO, § 9 EGZPO zur Entscheidung des negativen Zuständigkeitsstreits zwischen dem Amtsgericht Obernburg a. M. und dem Amtsgericht Tiergarten berufen. Bei vorausgegangenem Mahnverfahren ist das Gericht, an das der Rechtsstreit abgegeben wird (§ 700 Abs. 3 ZPO), das zuerst mit der Sache befasste Gericht (Thomas/Putzo ZPO 23. Aufl. § 36 Rn. 6). Beide Amtsgerichte, von denen eines als Wohnsitzgericht örtlich zuständig ist (§ 13 ZPO), haben sich nach Eintritt der Rechtshängigkeit rechtskräftig für unzuständig erklärt im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO, das eine durch - grundsätzlich bindenden (§ 281 Abs. 2 Satz 5 ZPO) - Verweisungsbeschluss, das andere durch förmlichen, den Parteien mitgeteilten Beschluss, der ebenfalls als rechtskräftige Unzuständigkeitserklärung im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO anzusehen ist (BGHZ 102, 338/340; 71, 15/17; Stein/Jonas/Schumann ZPO 21. Aufl. § 36 Rn. 22).

2. Das Amtsgericht Tiergarten ist jedenfalls infolge der auch im Bestimmungsverfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu beachtenden Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des Amtsgerichts Obernburg a. M. zuständig geworden. Die Bindungswirkung kann nicht, wie das vorlegende Gericht meint, verneint werden.

a) Nach § 281 Abs. 2 Satz 5 ZPO ist ein Verweisungsbeschluss für das Gericht, an das verwiesen wird, bindend. Diese Bindung ist auch im Bestimmungsverfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu beachten (Zöller/Vollkommer ZPO 22. Aufl. 36 Rn. 28). Eine Bindung tritt ausnahmsweise dann nicht ein, wenn der Verweisung jede rechtliche Grundlage fehlt, so dass sie als objektiv willkürlich erscheint (BGHZ 71, 69/72; 102, 338/341; BayObLGZ 1986, 285/287; 1991, 280/2&1 f.; Zöller-Greger § 281 Rn. 17). Dies kann nicht schon bei jedem Rechtsirrtum angenommen werden, wohl aber bei einer Verweisung unter Übergehung einer eindeutigen Zuständigkeitsvorschrift oder einer einhelligen Auffassung in Rechtsprechung und -schrifttum (Zöller/Greger aaO).

b) Dem Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Obernburg a. M. liegt ersichtlich die Auffassung zugrunde, dass die perpetuatio fori nach § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO erst mit der Zustellung der Anspruchsbegründung eintritt. Bei Zugrundelegung dieser Auffassung konnte sich das Amtsgericht Obernburg a. M. für unzuständig erklären und den Rechtsstreit an das - jetzt erst feststehende - Wohnsitzgericht der Beklagten (§ 13 ZPO) verweisen. Diese Rechtsansicht kann unter Berücksichtigung des breiten Spektrums der Meinungen zu der Frage, wann beim Übergang des Mahnverfahrens ins ) streitige Verfahren die perpetuatio fori eintritt, nicht als Verstoß gegen eine eindeutige Zuständigkeitsvorschrift oder eine einhellige Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum beurteilt werden.

aa) Die Frage, in welchem Zeitpunkt beim Übergang eines Mahnverfahrens in das streitige Verfahren nach Erlass eines Vollstreckungsbescheids § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO eingreift, wird in der Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich beantwortet. Nach einer Meinung tritt Rechtshängigkeit im Sinne des § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO gemäß § 700 Abs. 2 ZPO mit der Zustellung des Mahnbescheids ein (Thomas/Putzo Rn. 3; Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann ZPO 60. Aufl. Rn. 4 jeweils zu § 700). Nach einer anderen Meinung ist für die perpetuatio fori gemäß § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO wegen der Besonderheiten des Mahnverfahrens nicht auf den fiktiven Eintritt der Rechtshängigkeit im Zeitpunkt der Zustellung des Mahnbescheids (§ 700 Abs. 2 ZPO) abzustellen, sondern auf den Erlass des Vollstreckungsbescheids, an den die Fiktion anknüpft (MünchKomm/Holch ZPO 2. Aufl. § 700 Rn. 7; ihm folgend Musielak/Voit ZPO 2. Aufl. Rn. 3; Stein/Jonas/Schlosser Rn. 1 jeweils zu § 700). Eine dritte Meinung teilt zwar die Ansicht, dass die Rückbeziehung der Rechtshängigkeit nach § 696 Abs. 3, § 700 Abs. 2 ZPO im Rahmen des § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO nicht anzuwenden ist; sie hält aber auch im Falle des Einspruchs gegen den Vollstreckungsbescheid ebenso wie im Fall des Widerspruchs gegen den Mahnbescheid den Akteneingang beim Streitgericht für den für die Zuständigkeit maßgeblichen Zeitpunkt, was sie aus der M6glichkeit einer Abgabe an ein anderes Gericht, wenn die Parteien dies übereinstimmend verlangen (§ 700 Abs. 3 Satz 1 ZPO entsprechend § 696 Abs. 1 Satz 1 ZPO), und aus der (entsprechenden).Anwendung des § 696 Abs. 5 ZPO (§ 700 Abs. 3 Satz 2 ZPO) folgert (OLG Braunschweig Report 1999, 310/311; Zöller/Vollkommer § 700 Rn. 1 i.V.m. § 696 Rn. 6). Dass im Fall des Widerspruchs gegen den Mahnbescheid der für die Bestimmung der Zuständigkeit maßgebende Zeitpunkt des tatsächlichen Eintritts der Rechtshängigkeit derjenige des Eingangs der Akten beim Streitgericht ist, entspricht zwar der wohl herrschenden, nicht aber einhelliger Meinung. Eine andere Meinung stellt insoweit auf die Zustellung der Anspruchsbegründung ab (Musielak/Voit Rn. 4 und 6; Stein/Jonas/Schlosser Rn. 7 und 9 jeweils zu § 69e).

bb) Die vom Amtsgericht Obernburg a. M. ersichtlich zugrundegelegte Auffassung stellt sich also als Kombination der - weitverbreiteten - Auffassung dar, dass beim Übergang vom Mahn- zum streitigen Verfahren der für § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO maßgebende Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit nicht anhand der die Rechtshängigkeit fiktiv zurückbeziehenden Vorschriften der § 696 Abs. 3, § 700 Abs. 2 ZPO zu bestimmen ist, ferner der Meinung, dass der maßgebliche Zeitpunkt des tatsächlichen Eintritts der Rechtshängigkeit im Fall des Widerspruchs gegen den Mahnbescheid derjenige der Zustellung der Anspruchsbegründung ist, und schließlich der Ansicht, dass dieser Zeitpunkt im Falle des Einspruchs gegen den Vollstreckungsbescheid der gleiche ist, wie im Falle des Widerspruchs gegen den Mahnbescheid. Auch wenn die Meinungskombination in dieser Form bisher, soweit ersichtlich, noch nicht vertreten wurde, werden doch alle ihre Bestandteile - in verschiedenen anderen Kombinationen - in Rechtsprechung und Schrifttum vertreten. Daher erscheint die dem Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Obernburg a. M. zugrundeliegende Ansicht jedenfalls als nicht so unvertretbar, dass sie als einer gesetzlichen Grundlage entbehrend und deswegen willkürlich angesehen werden müsste. Darauf, ob sie zutrifft, kommt es nicht an.



Ende der Entscheidung

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