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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 25.07.2003
Aktenzeichen: 1Z AR 72/03
Rechtsgebiete: ZPO, InsO


Vorschriften:

ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6
InsO § 3 Abs. 1 Satz 2
InsO § 5 Abs. 1 Satz 1
Für das Insolvenzverfahren einer GmbH, die ihre werbende Tätigkeit bereits vor Stellung des Insolvenzantrags eingestellt hatte, ist das Insolvenzgericht ausschließlich zuständig, in dessen Bezirk die Schuldnerin ihren satzungsmäßig festgelegten Sitz hat. Unmaßgeblich ist eine nur zum Zwecke der Abwicklung vorgenommene Verlegung des Verwaltungssitzes, wenn am neuen Ort eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit nicht mehr stattfindet (Bestätigung von BayObLG vom 28.3.2001 - 4Z AR 23/01 - NZI 2001, 372).
Gründe:

I.

Die Schuldnerin ist eine im Handelsregister des Amtsgerichts München eingetragene GmbH. Mit notariellem Vertrag vom 2.4.2003 erwarb der jetzige Geschäftsführer der Gesellschaft M von den bisherigen Gesellschaftern A und B sämtliche Geschäftsanteile und hielt sofort eine Gesellschafterversammlung ab, in der er die als Geschäftsführer bestellten Gesellschafter A und B abberief, ihnen Entlastung erteilte und sich selbst zum neuen Geschäftsführer bestellte. Eine Anmeldung zum Handelsregister erfolgte nicht. M beantragte mit einem an das Amtsgericht München gerichteten Schreiben der Schuldnerin vom 6.5.2003, eingegangen am 7.5.2003, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens und zugleich die Verweisung an das Amtsgericht Berlin-Charlottenburg. Er führte aus, er habe mit Übernahme der Geschäftsanteile das Gewerbe wegen völliger Betriebseinstellung abgemeldet, die Geschäftsräume aufgegeben, den Mitarbeitern gekündigt und sämtliche Geschäftsunterlagen an seinen in Berlin gelegenen Nebenwohnsitz verbracht, von wo aus er die Abwicklung der Gesellschaft unter Einschaltung der X-GmbH vornehmen wolle.

Das Amtsgericht München - Insolvenzgericht - hat sich ohne jede Ermittlung mit Beschluss vom 9.5.2003 für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren an das Amtsgericht Charlottenburg - Insolvenzgericht - verwiesen. Über das Gesetzeszitat "§§ 3, 4 InsO, § 281 ZPO" hinaus ist der Beschluss mit keiner Begründung versehen. Das Amtsgericht Charlottenburg - Insolvenzgericht - hat sich mit der Schuldnerin mitgeteiltem Beschluss vom 16.6.2003 ebenfalls für örtlich unzuständig erklärt und die Akten dem Oberlandesgericht München zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt, das die Akten an das Bayerische Oberste Landesgericht weitergeleitet hat. Zur Begründung hat das Amtsgericht Charlottenburg u.a. ausgeführt, das Amtsgericht München habe entgegen § 5 Abs. 1 Satz 1 InsO keine maßgeblichen Feststellungen zur örtlichen Zuständigkeit getroffen und die Sache unter Hinweis auf § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO an das Amtsgericht Charlottenburg verwiesen, obwohl noch völlig unklar gewesen sei, wo der Mittelpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit der Schuldnerin zum Zeitpunkt der Antragsstellung gelegen sei. Ein solcher könne im Bezirk des Amtsgerichts Charlottenburg nicht festgestellt werden. Der Antragsteller habe aktive Abwicklungsmaßnahmen im Bezirk des Amtsgerichts Charlottenburg nicht behauptet, sondern lediglich pauschal einen Katalog denkbarer Abwicklungstätigkeiten aufgelistet, die unter Einschaltung der X-GmbH beabsichtigt seien. Die Firma x-GmbH Unternehmensberatung/ Wirtschaftsdienste Berlin habe wiederholt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Rubrik "Beteiligungen und Geldverkehr" folgendes Inserat veröffentlicht:

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Beim Amtsgericht Charlottenburg seien ca. 60 Verfahren bekannt, in denen unter Einschaltung der X-GmbH Gesellschaftsanteile abgetreten und neue Geschäftsführer bestellt würden, von denen Insolvenzantrag gestellt, aber weitere Aktivität nicht entwickelt würde. Aus den gesamten Umständen ergäben sich schwerwiegende Indizien dafür, dass es sich um Fälle einer Zuständigkeitserschleichung handle, deren Ziel es sei, die ehemaligen Gesellschafter und Geschäftsführer der Aufmerksamkeit der Gläubiger am früheren Firmensitz zu entziehen, ihren Namen nicht durch Veröffentlichung in der Lokalpresse zu belasten und dem räumlich entfernten Insolvenzgericht die Aufklärung etwaiger Anfechtungs- und Haftungsansprüche zu erschweren.

II.

1. Das Bayerische Oberste Landesgericht ist zur Entscheidung des negativen Zuständigkeitsstreits zwischen dem zunächst befassten bayerischen Amtsgericht München und dem Berliner Amtsgericht Charlottenburg gemäß § 4 InsO, § 36 Abs. 2 ZPO, § 9 EGZPO berufen.

2. Die Voraussetzungen für die gerichtliche Bestimmung des zuständigen Gerichts gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen vor. Sowohl das Amtsgericht München als auch das Amtsgericht Charlottenburg haben sich rechtskräftig im Sinne dieser Vorschrift für unzuständig erklärt. Das Letztgenannte hat die Akten zur Bestimmung des zuständigen Gerichts gemäß § 37 Abs. 1 ZPO vorgelegt.

3. Zuständig für die Entscheidung über den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist das Amtsgericht München, weil in seinem Bezirk der in das Handelsregister eingetragene Sitz der Schuldnerin liegt und weil der Verweisungsbeschluss vom 9.5.2003 keine Bindungswirkung nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO entfaltet.

a) Da die Schuldnerin vor Stellung des Insolvenzantrags ihre werbende Tätigkeit eingestellt hatte, hat sie - wo auch immer - keinen "Mittelpunkt einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit" im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO, also auch nicht im Amtsgerichtsbezirk Charlottenburg. Vielmehr ist nach § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO das Amtsgericht München - Insolvenzgericht -, in dessen Bezirk die Schuldnerin ihren allgemeinen Gerichtsstand hat, ausschließlich zuständig.

Der allgemeine Gerichtsstand einer GmbH ist der satzungsmäßig festgelegte und in das Handelsregister eingetragene Sitz der Gesellschaft.(§ 4 InsO i. V. m § 12, § 17 Abs. 1 ZPO, § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 7 Abs. 1, § 10 GmbHG). Eine Sitzverlegung erfordert eine Satzungsänderung (§ 53 GmbHG), die zum Handelsregister des alten Sitzes anzumelden (§ 54 GmbHG) und vom Registergericht dem Gericht des neuen Sitzes mitzuteilen ist (Baumbach/Hueck GmbHG 16. Aufl. § 3 Rn. 8). Nach dem vorliegenden Handelsregisterauszug des Amtsgerichts München vom 8.5.2003 war im dortigen Bezirk der Sitz der Schuldnerin; ausweislich der vom Amtsgericht Charlottenburg erholten Handelsregisterauskunft vom 16.6.2003 ist auch eine spätere Sitzverlegung nicht erfolgt. Eine etwaige tatsächliche Verlagerung der Geschäftsleitung lässt den satzungsmäßig festgelegten Sitz unberührt (Baumbach/Hueck § 3 Rn. 8).

Diese Rechtsauffassung wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung durchgängig vertreten (BayObLG NJW-RR 2000, 349; OLG Braunschweig NZI 2000, 266; OLG Hamm NZI 2000, 220; OLG Köln NZI 2000, 232; OLG Naumburg InVo 2000, 12; BayObLG NZI 2001, 372/373; ZIP 2003, 676; MünchKommInso/Ganter 2001 § 3 Rn. 8).

b) Zwar ist gemäß § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO (hier i.V.m. § 495 ZPO) ein Verweisungsbeschluss für das Gericht, an das verwiesen wird, grundsätzlich bindend. Eine Bindungswirkung besteht aber dann nicht, wenn die Verweisung sich so weit von der gesetzlichen Grundlage entfernt, dass sie im Hinblick auf das Gebot des gesetzlichen Richters und das Willkürverbot des Grundgesetzes nicht mehr hingenommen werden kann (BGH NJW 1993, 1273; BayObLGZ 1993, 317/318). Dies ist vorliegend der Fall. Denn das ausschließlich zuständige Amtsgericht München - Insolvenzgericht - hat sich darüber hinweggesetzt, dass die Verweisung des Rechtsstreits gemäß § 4 InsO, § 281 Abs. 1 ZPO die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts voraussetzt (BGH NJW 1993, 1273; 2002, 3634; BayObLGZ 1993, 317; KG Report 2002, 296; OLG Schleswig NJW-RR 2001, 646). Das Amtsgericht München - Insolvenzgericht - hat entgegen seiner Amtsermittlungspflicht gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 InsO weder Umstände ermittelt noch dargelegt, die seine Zuständigkeit in Frage stellen könnten. Hierfür hätte umso mehr Anlass bestanden, als das Vorbringen des für die Schuldnerin auftretenden M. den Verdacht nahe legte, dass es sich um einen Fall der gewerbsmäßigen "Firmenbestattung" handelt, bei der die Erschleichung eines vom Sitz der Gesellschaft entfernten Gerichtsstandes den eigentlich verantwortlichen ermöglichen soll, sich aus der Haftung zu stehlen (vgl. MünchKommInsO/ Ganter § 3 Rn. 38 bis 42).

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