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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 17.07.2003
Aktenzeichen: 1Z AR 75/03
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6
ZPO § 38 Abs. 3
Keine Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses, der sich so weit von der gesetzlichen Grundlage entfernt, dass er im Hinblick auf das Gebot des gesetzlichen Richters und das Willkürverbot des Grundgesetzes nicht hingenommen werden kann (Verweisung des zuständigen Gerichts aufgrund von diesem angeregter nachträglicher Gerichtsstandsvereinbarung).
Gründe:

I.

Die Klägerin hat einen Pflichtteilsergänzungsanspruch gegen die Beklagte, ihre Schwester und Miterbin, zunächst im Mahnverfahren geltend gemacht. Nach Widerspruch der Beklagten gab das Mahngericht das Verfahren an das Landgericht Regensburg ab, bei dem die Beklagte ihren allgemeinen Gerichtsstand hat und das im Mahnbescheidsantrag als für ein streitiges Verfahren zuständig benannt worden war. In der Anspruchsbegründung beantragte die Klägerin jedoch, "das Verfahren ... an das zuständige Landgericht Deggendorf abzugeben". Zu diesem Antrag erklärte die Beklagte mit Anwaltsschriftsatz vom 24.10.2002, er sei für sie nicht nachvollziehbar. Mit Verfügung vom 22.11.2002 wies das Landgericht Regensburg darauf hin, dass Wahlrecht der Klägerin durch die Benennung des Landgerichts Regensburg im Mahnbescheid "grundsätzlich ... erloschen" sei, weil § 27 ZPO keinen ausschließlichen Gerichtsstand begründe. Gleichwohl sei es ihm unverständlich, wieso dieser Rechtsstreit vor dem Landgericht Regensburg geführt werden solle. Die Erblasserin habe im Landgerichtsbezirk Deggendorf gewohnt, in dessen Bezirk auch die Klägerin wohne und der Beklagtenvertreter seinen Kanzleisitz habe; in dessen Bezirk liege vermutlich auch das Hofanwesen, um dessen Bewertung der Rechtsstreit geführt werde. Sinnvoll sei es daher nicht, den Rechtsstreit vor dem Landgericht Regensburg auszutragen.

Die Beklagte erklärte zu diesem Hinweis mit Anwaltsschriftsatz vom 20.12.2002, sie wäre damit einverstanden, dieses Verfahren wie ein Parallelverfahren (Klage einer anderen Schwester gegen die Beklagte) - vor dem Landgericht Deggendorf zu führen. Allerdings gehe sie davon aus, dass eine Prorogation nach Abgabe des Rechtsstreits im Mahnverfahren gemäß § 696 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht mehr vorgenommen werden könne. Ferner wies sie darauf hin, dass die Erblasserin nicht im Landgerichtsbezirk Deggendorf, sondern im Landgerichtsbezirk' Landshut gewohnt habe, in dem auch die Klägerin wohne. Sollte entgegen ihrer Auffassung Prorogation noch möglich sein und die Klägerin eine entsprechende Vereinbarung wünschen, würde sie an einer entsprechenden Vereinbarung mitwirken.

Die Klägerin beantragte mit Schriftsatz vom 19.2.2003 (erneut) die Verweisung an das Landgericht Deggendorf, nunmehr unter Bezugnahme auf eine beigefügte "Gerichtsstandsvereinbarung" - ein Bestätigungsschreiben der Beklagtenvertreter vom 17.2.2003, wonach auch für das vorliegende Verfahren (wie für das Parallelverfahren) "als Gerichtsstand das Landgericht Deggendorf vereinbart" werde. Auch dieses Schreiben enthält nochmals einen Hinweis "auf die von uns gesehenen rechtlichen Probleme". Die Beklagte erklärte ferner mit Anwaltsschriftsatz vom 28.2.2003 ihre Zustimmung zu dem Verweisungsantrag vom 19.2.2003.

Mit Beschluss vom 10.4.2003 hat das Landgericht Regensburg den Rechtsstreit "auf Antrag der Klägerin im Einverständnis mit der Beklagten an das sachlich und örtlich zuständige Landgericht Deggendorf verwiesen" und zur Begründung hinzugefügt:

"Im vorliegenden Fall ist auch noch nach Abgabe trotz §§ 696 Abs. 3, 261 Abs. 3 Nr. 2 eine Verweisung möglich, da die Parteien den Gerichtsstand Deggendorf nachträglich prorogiert haben (vgl. Zöller ZPO 23. Aufl. Rn. 12a zu § 38 bzw. 9a a.E. zu § 696)".

Das Landgericht Deggendorf wies mit Verfügung vom 6.5.2003 die Parteien darauf hin, dass es beabsichtige, das Verfahren nicht anzunehmen, sondern an das Landgericht Regensburg zurückzuverweisen, da die Verweisung willkürlich und nicht nachvollziehbar sei. Das Landgericht Regensburg habe selbst erkannt, dass die Klägerin ein mögliches Wahlrecht bereits ausgeübt habe. Zudem hätten die Beklagtenvertreter darauf aufmerksam gemacht; dass eine Prorogation nach Abgabe des Rechtsstreits im Mahnverfahren nicht mehr möglich sei. Der gleichwohl ergangene Verweisungsbeschluss könne mit juristischen Argumenten nicht begründet werden. Mit Beschluss vom 30.5.2003 lehnte das Landgericht Deggendorf die Übernahme ab und verwies das Verfahren aus den in der Verfügung vom 6.5.2003 angeführten Gründen an das Landgericht Regensburg zurück.

Das Landgericht Regensburg hat mit Beschluss vom 25.6.2003 die Akten dem Bayerischen Obersten Landesgericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt. Es vertritt darin die Meinung, der Verweisungsbeschluss vom 10.4.2003 sei nicht willkürlich gewesen. Das Landgericht Regensburg habe sich mit der Frage, ob die Zuständigkeit des verweisenden Gerichts durch eine Gerichtsstandsvereinbarung nach Rechtshängigkeit noch beseitigt werden könne, unter Hinweis auf Kommentarstellen auseinander gesetzt. Daher habe der Verweisungsbeschluss bindende Wirkung auch dann, wenn er auf einer unrichtigen Rechtsanwendung beruhen sollte.

II.

Zu bestimmen war das Landgericht Regensburg. Die nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO dafür maßgebenden Voraussetzungen liegen vor.

1. Die beiden am negativen Kompetenzstreit beteiligten Gerichte liegen in den Bezirken verschiedener bayerischer Oberlandesgerichte. Das Bayerische Oberste Landesgericht hat in einem solchen Fall den Zuständigkeitsstreit als das im Rechtszug zunächst höhere Gericht (§ 36 Abs. 1 ZPO) zu entscheiden (vgl. BGH NJW 1979, 2249; BayObLGZ 1988, 305; 1991, 240/241 f., 280/281; Zöller/Vollkommer ZPO 23. Aufl. § 36 Rn. 4).

2. Die beiden am Kompetenzstreit beteiligten Landgerichte, von denen eines zuständig sein muss, haben sich nach Eintritt der Rechtshängigkeit jeweils durch unanfechtbare Verweisungsbeschlüsse (§ 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO) im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO "rechtskräftig" für unzuständig erklärt. Zwar enthält weder der Verweisungsbeschluss des Landgerichts Regensburg, noch der Zurückverweisungsbeschluss des Landgerichts Deggendorf eine ausdrückliche Unzuständigkeitserklärung; diese muss aber den Beschlüssen sinngemäß entnommen werden, weil der Ausspruch der eigenen Unzuständigkeit notwendige Voraussetzung der Verweisung an ein anderes Gericht ist (Zöller/ Greger Rn. 13; Stein/Jonas/Leipold ZPO 21. Aufl, Rn. 11, 21; MünchKomm/Prütting ZPO 2. Aufl. Rn. 25, 38, 43 jeweils zu § 281).

3. Zuständig ist infolge der Bindung der Klägerin an die von ihr getroffene Wahl zwischen den verschiedenen möglichen Gerichtsständen (§ 690 Abs. 1 Nr. 5 ZPO) - in Betracht kam nach § 27 Abs. 1 ZPO auch das Landgericht Landshut - das Landgericht Regensburg, bei dem die Beklagte ihren allgemeinen Gerichtsstand hat (§§ 12, 13 ZPO). Der Verweisungsbeschluss des Landgerichts Regensburg vom 10.4.2003 war willkürlich und bindet daher nicht.

a) Die Klägerin hat ihr Wahlrecht zwischen den beiden in Betracht kommenden Gerichten bereits dadurch ausgeübt, dass sie im Mahnbescheidsantrag gemäß § 690 Abs. 1 Nr. 5 ZPO das Wohnsitzgericht als das für das Streitverfahren zuständige Gericht bezeichnet hat. Mit Zustellung des entsprechend ausgefertigten Mahnbescheids ist die Wahl für die Klägerin - vorbehaltlich eines übereinstimmenden abweichenden Verlangens beider Parteien nach § 696 Abs. 1 Satz 1 ZPO, das jedoch nach Vollzug der Abgabe an das im Mahnbescheid bezeichnete Gericht nicht mehr möglich war (BayObLGZ 19931 317/318; Zöller/Vollkommer § 696 Rn. 3) - verbindlich und unwiderruflich geworden (§ 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO; BGH NJW 1993, 1273; BayObLG aaO; Zöller/Vollkommer § 35 Rn. 2, § 690 Rn. 16).

b) Das Landgericht Regensburg hat schon verkannt, dass die Parteien keine wirksame Gerichtsstandsvereinbarung getroffen haben, da § 38 Abs. 3 ZPO eine "schriftliche" Vereinbarung verlangt, für die eine einseitige schriftliche Bestätigung keinesfalls genügt (Thomas/Putzo ZPO 25. Aufl. § 38 Rn. 27). Auch eine wirksame Gerichtsstandsvereinbarung hätte aber, da der Rechtsstreit bereits an das im Mahnbescheidsantrag benannte und nach §§ 12, 13 ZPO zuständige Gericht abgegeben worden war, dieses nicht mehr unzuständig machen können (§ 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO; Zöller/Vollkommer Rn. 12; Thomas/ Putzo Rn. 24 jeweils zu § 38; Zöller/Greger Rn. 12; Thomas/ Putzo/Reichold Rn. 16 jeweils zu § 261). Die von Zöller/ Vollkommer § 38 Rn. 12a angeführte Entscheidung des Senats NJW-RR 1995, 635 betrifft den Sonderfall einer vor Abgabe des Rechtsstreits durch das Mahngericht getroffenen und dem Mahngericht mitgeteilten, von diesem jedoch rechtsfehlerhaft (vgl. § 696 Abs. 1 Satz 1 ZPO) nicht beachteten Gerichtsstandsvereinbarung, der hier nicht gegeben ist. Das Landgericht Regensburg durfte daher den Rechtsstreit nicht verweisen, weil notwendige Voraussetzung einer Verweisung nach § 281 ZPO die eigene Unzuständigkeit ist (vgl. BGH JZ 1963, 754; NJW 1976, 626; 1993, 1273; BayObLG NJW-RR 1994, 891/892).

c) Grundsätzlich bindet zwar auch ein fehlerhafter Verweisungsbeschluss, und diese Bindungswirkung ist auch im Bestimmungsverfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu beachten (Zöller/Vollkommer § 36 Rn. 28). Eine Bindung tritt aber ausnahmsweise dann nicht ein, wenn die Verweisung sich so weit von der gesetzlichen Grundlage entfernt, dass sie im Hinblick auf das Gebot des gesetzlichen Richters und das Willkürverbot des Grundgesetzes nicht hingenommen werden kann (vgl. BGHZ 71, 69/72; 102, 338/341; BAG NJW 1997, 1091; BayObLGZ 1986, 285/287; 1991, 280/281 f.; Zöller/Greger § 281 Rn. 17).

Ein solcher Fall liegt hier vor.. Der Verweisungsbeschluss vom 10.4.2003 entbehrt der gesetzlichen Grundlage, weil das als Gericht des allgemeinen Gerichtsstands unzweifelhaft örtlich zuständige Landgericht Regensburg sich darüber hinwegsetzte, dass die Verweisung des Rechtsstreits gemäß § 281 Abs. 1 ZPO die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts voraussetzt (BGH NJW 1993, 1273; 2002, 3634; BayObLGZ 1993, 31.7; KG Report 2002, 296; OLG Schleswig NJW-RR 2001, 646). Auch der Umstand, dass die Beklagte sich mit dem Verweisungsantrag der Klägerin einverstanden erklärte, führt jedenfalls deswegen zu keinem anderen Ergebnis, weil dieses Einverständnis erst durch den Hinweis des Landgerichts Regensburg auf die angeblich bestehende Möglichkeit einer Verweisung zustande gekommen war (vgl. BGH NJW 2002, 3634/3635 f.).

Ende der Entscheidung

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