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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 08.09.2003
Aktenzeichen: 1Z AR 86/03
Rechtsgebiete: ZPO, InsO, GmbHG, HGB


Vorschriften:

ZPO § 17
ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6
InsO § 3
InsO § 4
GmbHG § 4a
HGB § 13h
Ein Verweisungsbeschluss, mit dem ein Insolvenzantragsverfahren von dem für den früheren Sitz der Schuldnerin (GmbH) zuständigen Insolvenzgericht nach im Handelsregister eingetragener Sitzverlegung an das nunmehr für den (scheinbaren) Sitz der Schuldnerin zuständige Insolvenzgericht verwiesen wird, ist im Hinblick auf das Grundrecht des gesetzlichen Richters nicht bindend, wenn er auf einer Täuschung der beteiligten Richter über die für den Sitz der Schuldnerin maßgeblichen tatsächlichen Umstände beruht.
Gründe:

Der Gläubiger, der einen Titel über 14.060,53 EUR nebst Zinsen gegen die Schuldnerin besitzt, hat nach erfolglosen Vollstreckungsversuchen am 10.12.2002 beim Amtsgericht München die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt. Nach Hinweis des Insolvenzrichters, "dass die Schuldnerin in Berlin den allgemeinen Gerichtsstand hat, so dass gemäß § 3 Abs. 1 InsO das Amtsgericht München nicht zuständig ist", vielmehr das Amtsgericht Berlin-Charlottenburg, beantragte der Gläubiger "die Verweisung an das zuständige Amtsgericht Berlin-Charlottenburg". Mit Beschluss vom 2.1.2003 erklärte sich das Amtsgericht München für örtlich unzuständig und verwies das Verfahren an das Amtsgericht Berlin-Charlottenburg.

Der vom Amtsgericht Charlottenburg beauftragte Sachverständige teilte mit Schreiben vom 1.7.2003 als Ergebnis seiner Ermittlungen zur Vermögenslage der Schuldnerin mit, er halte eine Zuständigkeit des Amtsgerichts Charlottenburg als Insolvenzgericht nach § 3 Abs. 1 InsO nicht für gegeben. Zwar sei durch Beschluss der Gesellschafterversammlung vom 17.8.2001 die Sitzverlegung von München nach Berlin beschlossen worden und anschließend die Eintragung im Handelsregister des Amtsgerichts Charlottenburg erfolgt. Zu diesem Zeitpunkt sei aber nach der eidesstattlichen Versicherung des seit 31.7.2001 neu eingesetzten Geschäftsführers der Geschäftsbetrieb der Schuldnerin bereits vollständig eingestellt gewesen. Dem neuen Geschäftsführer seien keinerlei Geschäftsunterlagen der Schuldnerin übergeben worden. Er besitze auch keinerlei Informationen über Art und Umfang des vorherigen Geschäftsbetriebs. Er habe nach seiner Bestellung als Geschäftsführer weder Geschäfte der Schuldnerin geführt noch irgendwelche Abwicklungstätigkeiten entfaltet. Die Schuldnerin habe somit eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit in Berlin weder beabsichtigt noch ausgeführt. Die an der Sitzverlegung beteiligten Gesellschafter und Geschäftsführer unternähmen den Versuch einer betrügerischen Zuständigkeitserschleichung. Der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts München dürfte deswegen unwirksam sein.

Mit Beschluss vom 29.7.2003 erklärte sich das Amtsgericht Charlottenburg für örtlich unzuständig und legte die Akten nach § 4 InsO, § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO "zur Bestimmung der Zuständigkeit" vor. Zur Begründung nahm es auf das Ermittlungsergebnis des Sachverständigen vom 1.7.2003 Bezug.

II.

1. Nach § 4 InsO sind im Insolvenzverfahren die Vorschriften der Zivilprozessordnung entsprechend anzuwenden. Im Falle eines negativen Kompetenzkonflikts, wie er hier vorliegt, richtet sich das Verfahren daher nach § 36 ZPO (vgl. MünchKomm/Ganter Insolvenzordnung § 3 Rn. 34, § 4 Rn. 39).

Für die Bestimmung des zuständigen Gerichts ist das Bayerische Oberste Landesgericht nach § 36 Abs. 2 ZPO, § 9 EGZPO zuständig.

2. Die Voraussetzung einer Bestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO, dass sich verschiedene Gerichte, von denen eines für das Verfahren zuständig ist, rechtskräftig für unzuständig erklärt haben, ist gegeben. Im Insolvenzverfahren kann, wenn das angegangene Insolvenzgericht nach § 3 InsO nicht örtlich zuständig ist, nach §§ 281, 495 ZPO verwiesen werden (MünchKomm/Ganter § 4 Rn. 55). Der Beschluss des Amtsgerichts Charlottenburg vom 29.7.2003 ist sinngemäß als Zurückverweisung an das Amtsgericht München zu verstehen. Er enthält ebenso wie der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts München vom 2.1.2003 eine gemäß § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO nicht anfechtbare und damit im Sinne vom § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO "rechtskräftige" Unzuständigkeitserklärung.

3. Im Bestimmungsverfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO sind in erster Linie die verfahrensrechtlichen Bindungswirkungen - insbesondere die nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO eintretende Bindung - zu beachten (BGHZ 17, 168/171; BayObLGZ 1994, 113; Zöller/Vollkommer ZPO 23. Aufl. § 36 Rn. 28). Auf die allgemeinen Zuständigkeitsvorschriften - hier auf die Bestimmungen des § 3 InsO - kommt es erst dann an, wenn kein die Zuständigkeit bindend festlegender Verweisungsbeschluss vorliegt. Sind, wie hier, mehrere Verweisungsbeschlüsse ergangen, so ist der erste Verweisungsbeschluss vor dem zweiten auf seine bindende Wirkung hin zu prüfen und - bei Bejahung der Bindungswirkung - der Entscheidung zugrunde zu legen (BGH NJW 1964, 45/46). Die Bindungswirkung nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO tritt auch dann ein, wenn der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig ist (Zöller/Greger § 281 Rn. 16 m.w.N.). Die Bindungswirkung entfällt in diesem Fall erst dann, wenn die Verweisung sich so weit von der gesetzlichen Grundlage entfernt, dass sie im Hinblick auf das Gebot des gesetzlichen Richters und das Willkürverbot des Grundgesetzes nicht mehr hingenommen werden kann (vgl. BGH NJW 1993, 1273; BayObLGZ 1993, 317/319; 2003 Nr. 32; Tombrink NJW 2003, 2364; Zöller/Greger § 281 Rn. 17 m.w.N.; MünchKomm/Ganter § 3 Rn. 28).

4. Aus den Ausführungen im Schreiben des Sachverständigen vom 1.7.2003 ergibt sich nicht nur die inhaltliche Unrichtigkeit des Verweisungsbeschlusses vom 2.1.2003, sondern auch, dass dieser auf einer Täuschung der beteiligten Richter - des Registerrichters beim Amtsgericht Charlottenburg und des Insolvenzrichters beim Amtsgericht München - über die maßgeblichen tatsächlichen Umstände beruht. Er kann deswegen nicht bindend sein.

a) Nach § 4 a GmbHG ist der für den allgemeinen Gerichtsstand der Schuldnerin maßgebende Sitz der Gesellschaft (§ 17 ZPO) (nur) der Ort, den die Satzung, wenn auch möglicherweise zu Unrecht, dazu bestimmt. Die Vorschrift bringt in Absatz 1 den unbedingten Vorrang des satzungsmäßigen Gesellschaftssitzes vor dem tatsächlichen Gesellschaftssitz zum Ausdruck (Scholz/ Emmerich GmbHG 9. Aufl. § 4 a Rn. 8). Andererseits zieht § 4 a Abs. 2 GmbHG der bisher freien Sitzwahl enge Grenzen; tatsächlicher und statutarischer Sitz der Gesellschaft müssen grundsätzlich übereinstimmen (Lutter/Hommelhoff GmbHG 15. Aufl. § 4 a Rn. 1). Mit der Einschränkung der Wahlfreiheit will das Gesetz verhindern, dass unseriöse Gesellschaften durch Sitzverlegungen den Gläubigern den Zugriff erschweren oder unmöglich machen (Lutter/Hommelhoff aaO Rn. 3; Baumbach/Hueck GmbH 17. Aufl. § 4 a Rn. 1). Ihre eigentliche Bedeutung gewinnt die Vorschrift des § 4 a Abs. 2 GmbHG also bei der förmlichen Sitzverlegung (Lutter/Hommelhoff aaO Rn. 9); auch bei dieser muss sie gewahrt bleiben. Ein Satzungsänderungsbeschluss, der gegen § 4 a Abs. 2 GmbHG verstößt, ist folglich nichtig (§ 134 BGB, § 241 Nr. 3 Fall 3 AktG analog; Scholz/Emmerich aaO Rn. 19; Michalski GmbHG § 4 a Rn. 13) und darf nicht ins Handelsregister eingetragen werden (Scholz/Emmerich aaO); vielmehr bleibt der ursprünglich festgelegte Sitz weiterhin gültig und maßgeblich (Altmeppen/Roth GmbH 4. Aufl. § 4 a Rn. 10; Michalski aaO).

b) Nach dem im Schreiben vom 1.7.2003 mitgeteilten Sachverhalt verstieß die am 17.8.2001 beschlossene Sitzverlegung gegen § 4 a Abs. 2 GmbHG, weil der tatsächliche Sitz der Gesellschaft, der sich in München befunden hatte, nach der völligen Einstellung der Geschäftstätigkeit nicht mehr nach Berlin verlegt werden konnte. Die Satzungsänderung war daher nichtig; es verblieb bei dem ursprünglichen Sitz in München.

c) Die gegen § 4 a Abs. 2 GmbHG verstoßende Sitzverlegung diente somit dem Zweck einer "missbräuchlichen Zuständigkeitsbegründung" für das Insolvenzverfahren im Rahmen einer "gewerbsmäßigen Firmenbestattung" (vgl. Senatsbeschluss vom 25.7.2003 Az. 1Z AR 72/03, BayObLGZ 2003, 192; Senatsbeschluss vom 13.8.2003 Az. 1Z AR 83/03; Uhlenbruck WuB VI B § 71 KO 1.96; MünchKomm/Ganter § 3 Rn. 38 ff.); sie zielte darauf ab, die Durchführung des Insolvenzverfahrens dem gesetzlichen Richter durch "Gerichtsstandserschleichung" (MünchKomm/Ganter aaO) zu entziehen. Die Wahrung des gesetzlichen Richters ist in Insolvenzverfahren von besonderer Bedeutung, wie sich daraus ergibt, dass der Gesetzgeber die Tatbestände des § 3 Abs. 1 InsO als ausschließliche Zuständigkeiten ausgestaltet hat. Wäre der Beschluss des Amtsgerichts München bindend, so wäre die "missbräuchliche Zuständigkeitserschleichung" geglückt; die Schuldnerin hätte sich dem tatsächlich (ausschließlich) zuständigen gesetzlichen Richter zum Nachteil ihrer Gläubiger endgültig entzogen. Das ist im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht hinnehmbar. Das Gebot des gesetzlichen Richters kann in einem derartigen Fall der rechtsmissbräuchlichen Zuständigkeitserschleichung im Insolvenzverfahren nur gewahrt werden, wenn dem Beschluss, mit dem das Insolvenzverfahren von dem tatsächlich zuständig gebliebenen an das nur scheinbar zuständig gewordene Insolvenzgericht verwiesen wird, keine Bindungswirkung zuerkannt wird. Die Verweisung hat den Charakter einer (objektiv) "willkürlichen" Maßnahme (vgl. Tombrink aaO) schon deswegen, weil sie auf der Täuschung der beteiligten Richter über die für den wahren Sitz der Schuldnerin maßgebenden Umstände beruht.

Ende der Entscheidung

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