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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 26.10.2001
Aktenzeichen: 2 ObOWi 407/01
Rechtsgebiete: OWiG, StPO


Vorschriften:

OWiG § 19
OWiG § 20
OWiG § 84 Abs. 1
StPO § 264
Es können im Rahmen einer einheitlichen Fahrt mehrere Taten im verfahrensrechtlichen Sinn angenommen werden, wenn in unterschiedlichen Verkehrssituationen mehrfach gegen Verkehrsvorschriften verstoßen wurde.
Tatbestand:

Gegen den Betroffenen erging am 11.12.2000 ein Bußgeldbescheid wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (100 km/h) außerhalb geschlossener Ortschaften um 73 km/h. Es wurden eine Geldbuße von 1000 DM festgesetzt und ein Fahrverbot von drei Monaten angeordnet.

Nach Einspruch des Betroffenen stellte das Amtsgericht mit Beschluss vom 27.6.2001 das Verfahren ein.

Das Amtsgericht hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Die dem Verfahren zugrunde liegende Tat vom 8.10.2000 um 16.41 Uhr sei auf einer Fahrt von der Bundesautobahn A. aus Richtung D. kommend auf der dann weiter benützten A. erfolgt. Der gleichfalls hinsichtlich dieser Fahrt ergangene, seit 13.3.2001 rechtskräftige Bußgeldbescheid vom 20.12.2000, dem eine Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit um 31 km/h für die Zeit 16.00 Uhr auf der A. zugrunde liegt (300 DM, ein Monat Fahrverbot), stelle ein Verfahrenshindernis dar. Es handle sich bei beiden Verstößen um dieselbe Tat im verfahrensrechtlichen Sinne. Die beiden Verstöße seien nur um 107,4 km voneinander entfernt und innerhalb von 41 Minuten begangen worden. Insbesondere habe der Betroffene zwischen diesen nicht angehalten.

Die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft führte zur Aufhebung des Beschlusses.

Gründe:

Die Begründung hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Den beiden Bußgeldbescheiden liegt nicht dieselbe Tat im verfahrensrechtlichen Sinne zugrunde, so dass das Amtsgericht nicht gemäß § 84 Abs. 1 OWiG gehindert war, über den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid in der Sache zu entscheiden.

a) Der Begriff der Tat im gerichtlichen Verfahren in Bußgeldsachen deckt sich mit dem für das Strafverfahren maßgeblichen Tatbegriff des Art. 103 Abs. 3 GG (BayObLGSt 1974, 58/60). Er bezeichnet ein konkretes Geschehen, das einen einheitlichen geschichtlichen Vorgang bildet und Merkmale enthält, die es von denkbaren anderen ähnlichen oder gleichartigen Vorkommnissen unterscheidet (BGHSt 22, 375/385) und umfasst das gesamte Verhalten des Täters, soweit dieses nach der natürlichen Auffassung des Lebens eine Einheit bildet (BGHSt 23, 141/145, Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 45.Aufl. § 264 Rn. 2).

Die Handlungen müssen dabei nach dem Ereignisablauf zeitlich, räumlich und innerlich so miteinander verknüpft sein, dass sich ihre getrennte Würdigung und Ahndung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorganges darstellen würde. Insoweit sind der zeitliche Ablauf der einzelnen Handlungen und der zeitliche Abstand zwischen ihnen wesentliche Kriterien für die Beurteilung, ob ein einheitliches Tatgeschehen vorliegt. Im Rahmen von Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr ist dem gemäß davon auszugehen, dass mit dem Ende eines bestimmten Verkehrsgeschehens, das durch ein anderes abgelöst wird, in der Regel das die Tat bildende geschichtliche Ereignis abgeschlossen ist (BayObLGSt 1997, 40/42 = NZV 1997, 489/490; OLG Köln NZV 1989, 401).

Zur Annahme eines derartigen einheitlichen Lebensvorgangs reicht es daher nicht aus, dass mehrere Verkehrsverstöße auf ein und derselben Fahrt begangen worden sind (BayObLGSt 1994, 135/137; OLG Düsseldorf VRS 75, 360/361; OLG Hamm DAR 1974, 22). Während einer einzelnen Fahrt von einiger Dauer stellen sich dem Kraftfahrer ständig neue Verkehrslagen, gegenüber denen er regelmäßig erneute Entscheidungen über sein Fahrverhalten treffen muss. Begeht er dabei mehrfach Verkehrsverstöße auch gleichartiger Natur, können doch die Gründe für diese Zuwiderhandlungen unterschiedlich sein, sowohl was die Motive als auch die Schuldform oder die Ursache fahrlässigen Versagens (Unaufmerksamkeit, Gleichgültigkeit) betrifft. Auch bei gleichartigen Verkehrsgeboten wie etwa Geschwindigkeitsbeschränkungen kann deren Ursache sehr unterschiedlich sein (Baustelle, gefährliches Gefälle, Lärmschutzgründe). Ebenso können, wenn während einer Fahrt mehrere Ortschaften durchfahren werden, diese Durchfahrtstrecken strassenbaumäßig und in Bezug auf Sichtverhältnisse höchst verschieden ausgestaltet sein (vgl. OLG Karlsruhe VM 1975, 48).

Daher muss bei einer solchen Fahrt immer zusätzlich darauf abgestellt werden, ob die mehreren Verstöße nach den dargestellten Grundsätzen zum prozessualen Tatbegriff zu einem einheitlichen historischen Vorgang zusammengefasst werden können (KK/Steindorf OWiG 2.Aufl. § 79 Rn. 42). Dabei ist von besonderer Bedeutung, ob die Einzelverstöße räumlich und insbesondere zeitlich eng aufeinander folgen (BayObLGSt 1995, 91/93; OLG Düsseldorf NZV 1996, 503/504; OLG Köln NZV 1989, 401; OLG Stuttgart NZV 1997, 243), wobei ein zeitlicher Zwischenraum von etwa 30 bis 35 Minuten bereits als bedenklich erachtet wurde, um noch von einer Tat ausgehen zu können (OLG Köln NZV 1994, 292).

Allerdings ist nach der Rechtsprechung auch bei einem derartigen engen zeitlichen Zusammenhang dann ein neuer Verkehrsvorgang anzunehmen, wenn das Fahrzeug zwischendurch nicht mehr verkehrsbedingt angehalten wurde, sondern zum Stillstand gekommen war und die Fahrt dann wieder fortgesetzt wird (Göhler OWiG 12.Aufl. Vor § 59 Rn. 50 b; BayObLGSt 1997, 17/18; OLG Düsseldorf VRS 90, 296/299 und NZV 2001, 273; OLG Hamm NStZ-RR 1999, 23; OLG Köln NZV 1994, 118/119).

Ein nicht nur verkehrsbedingtes Anhalten stellt zwar eine hinreichende, jedoch nicht zugleich eine notwendige Bedingung dar, um von mehreren Taten im verfahrensrechtlichen Sinn auszugehen. Daher wurden mehrere Taten gemäß Art. 103 Abs. 3 GG, § 264 StPO auch ohne zwischenzeitliches Anhalten bejaht, sofern diese nach den sonstigen Umständen d es Einzelfalls verschiedenen Verkehrsvorgängen während der gleichen Fahrt zugeordnet werden mussten (Göhler OWiG 12.Aufl. Vor § 59 Rn. 51). Dies wurde etwa bejaht für den Fall, dass der Täter auf einer Strecke von ca. 5 km zwischen Verstößen gegen das Rechtsfahrgebot wieder auf die rechte Fahrbahnseite zurückgekehrt war (BayObLGSt 1968, 57). Zwei auf derselben Fahrt begangene Zuwiderhandlungen gegen jeweils gesondert angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkungen wurden als verschiedene verfahrensrechtliche Taten angesehen, weil zwischen den Verstößen ein Straßenabschnitt von mehr als 800 m ohne Geschwindigkeitsbeschränkung durchfahren wurde (OLG Hamm DAR 1974, 22).

Soweit der 1.Senat für Bußgeldsachen in der Entscheidung vom 16.1.1997 (BayObLGSt 1997, 17/18) eine neue Tat regelmäßig erst nach Fahrtunterbrechung annimmt, lag dieser ein nicht vergleichbarer Sachverhalt zugrunde. Sie betraf mehrere nur der Diagrammscheibe eines Lkw zu entnehmende Überschreitungen der allgemein zulässigen Höchstgeschwindigkeit für solche Fahrzeuge, also einen Fall, in dem die Auswertung von Fahrtenschreiberdaten mehrfache Verstöße gegen dasselbe Rechtsgebot ersehen ließ und zusätzliche Erkenntnisse über den Ablauf der aufgezeichneten Fahrt nicht vorliegen.

b) Daher können diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall, bei dem durch zusätzliche Beweismittel konkrete Verstöße bei wechselnder Pflichtenlage des Fahrzeugführers feststellbar sind, nicht übertragen werden (so bereits Thüring. OLG NStZ 1999, 516/517). Vielmehr muss hier nach den dargestellten allgemeinen Erwägungen von mehreren Taten im verfahrensrechtlichen Sinn ausgegangen werden. Der Betroffene hat auf zwei ganz unterschiedliche Verkehrslagen in abweichender Weise reagiert. Der erste Verkehrsverstoß betraf eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 80 km/h, die um mindestens 31 km/h überschritten wurde. Erst 40 Minuten später und nach Zurücklegung einer Entfernung von über 100 km erfolgte dann die zweite Tat. Bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h fuhr der Betroffene, was auf ein vorsätzliches Verhalten hinweist, um 73 km/h zu schnell.

Beiden Verstößen liegt damit keinesfalls ein einheitlicher Willensentschluss zugrunde, ständig Beschränkungen in bestimmter Weise zu missachten. Die Frage, ob andernfalls eine einheitliche historische Tat bejaht werden könnte (vgl. OLG Düsseldorf NZV 1994, 42/43 und OLG Stuttgart NZV 1997, 243), stellt sich daher nicht. Die bloße Neigung, sich über Verkehrsverstöße hinwegzusetzen, kann dazu keinesfalls ausreichen (BayObLGSt 1968, 57/58; OLG Hamm DAR 1974, 22/23).

Ende der Entscheidung

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