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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Urteil verkündet am 20.04.2004
Aktenzeichen: 2 St RR 165/03
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 226 Abs. 1 Nr. 1
Der Verlust des Sehvermögens auf einem Auge im Sinn von § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB wird nicht dadurch beseitigt, dass durch das Tragen einer Kontaktlinse und einer (beidseitigen) Prismenbrille am verletzten Auge wieder ein Sehvermögen erreicht wird.
Tatbestand:

Das Amtsgericht hatte den Angeklagten wegen schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte. Auf die Berufung des Angeklagten änderte das Landgericht den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch ab. Es sprach den Angeklagten der vorsätzlichen Körperverletzung schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte. Mit der Revision gegen dieses Urteil rügte die Staatsanwaltschaft die Verletzung materiellen Rechts. Zu Unrecht habe das Landgericht eine Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung nach § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB unterlassen. Die zulässige Revision der Staatsanwaltschaft führte zur Urteilsaufhebung mit einem Teil der zugrunden liegenden Feststellungen (§ 353 Abs. 1 und 2 StPO) und zur Zurückverweisung (§ 354 Abs. 2 StPO).

Gründe:

Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen tragen die Verneinung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht. Entgegen der Rechtsauffassung des Landgerichts werden durch nur vorübergehend mit dem Körper verbundene Hilfsmittel die schweren Folgen des § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht beseitigt. Eine Beseitigung der schweren Folge kann nur dann angenommen werden, wenn die Sehkraft durch natürliche Heilung und/oder durch Operation(en) dauernd wesentlich verbessert wird oder zumutbar verbessert werden könnte. Dabei ist auf den Urteilszeitpunkt abzustellen (Hirsch in: LK StGB 11. Aufl. § 226 Rn. 9 Mitte). Feststellungen hierzu fehlen in dem angegriffenen Urteil.

1. Das Berufungsurteil führt aus:

"Durch die Faustschläge oder die Fußtritte des Angeklagten erlitt der Zeuge S... eine Ruptur des linken Augapfels. Der Zeuge wurde in der Folgezeit dreimal in den Städtischen Kliniken in F.../H... operiert.

Am 17.10.2000 wurde am linken Auge eine Bindehautrevision und eine Naht der Lederhaut bei eingerissenem Augapfel durchgeführt.

Am 2.11.2000 wurde eine Glaskörperentfernung, eine Umgürtung des Augapfels (Cerclage), eine Absaugung der Linse sowie eine Befestigung der Netzhaut durch Lasereffekte und Kälteeffekte durchgeführt. Anschließend wurde das Auge mit Silikon-Öl gefüllt.

Am 27.3.2001 wurde das linke Auge erneut eröffnet, das Silikon-Öl entfernt, ein an der Netzhaut ziehender Strang durchtrennt, die Netzhaut erneut gelasert und anschließend das Auge mit einem langsam resorbierbarem Gas gefüllt.

Zur Durchführung dieser Operationen befand sich der Zeuge jeweils längere Zeit in stationärer Behandlung.

Die Sehschärfe des verletzten linken Auges des Zeugen unmittelbar nach der Verletzung betrug zunächst 0,05 (unter Zugrundelegung eines angestrebten Normalwertes von 1,0). Mit den Korrekturhilfen (Kontaktlinse am linken Auge und eine Prismenbrille für beide Augen) beträgt das Sehvermögen des Zeugen am linken Auge jetzt 0,5. Bei Bedarf, der derzeit jedoch nicht erkennbar ist, kann auch eine Linse operativ am linken Auge eingesetzt werden. Mit einer Verbesserung der Sehstärke am linken Auge ist derzeit nicht zu rechnen, eine Verschlechterung ist ebenfalls nicht zu erwarten.

Der Zeuge trägt seit 1998 eine Brille, die Sehschärfe beider Augen war dabei gleich. Die Sehschärfe des rechten Auges beträgt jetzt 0,63.

In Folge der erlittenen Augenverletzung kann der Zeuge seinen früheren Beruf als Lkw-Fahrer nicht mehr ausüben, worunter er sehr leidet. ..."

Im Rahmen der Beweiswürdigung wird ausgeführt:

Die Feststellungen über die erlittene Augenverletzung des Zeugen S... beruhen einmal auf der Aussage des Zeugen S..., auf den verlesenen ärztlichen Atteste der Augenklinik in H... sowie insbesondere auf dem Gutachten der Universitätsaugenklinik M..., das in der Berufungshauptverhandlung von dem Sachverständigen Dr.K... vorgetragen und erläutert wurde.

Die Kammer schließt sich insoweit nach eigener Überzeugungsbildung den ausführlichen und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr.K... an. Der Sachverständige Dr.K... hat insbesondere ausgeführt, dass die Sehschärfe am linken Auge unmittelbar nach der Verletzung bei 0,05 gelegen hat und jetzt unter Verwendung einer Kontaktlinse und einer Prismenbrille bei 0,5 liegt. ..."

Zur rechtlichen Würdigung heißt es:

"Dagegen hat sich der Angeklagte nicht eines Verbrechens der schweren Körperverletzung gemäß § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB schuldig gemacht.

Eine schwere Körperverletzung liegt dann vor, wenn die Körperverletzung zur Folge hat, dass die verletzte Person z.B. das Sehvermögen auf einem Auge oder beiden Augen verliert.

Der Verlust des Sehvermögens auf einem Auge oder beiden Augen ist die Aufhebung der Fähigkeit, mittels der Augen Gegenstände wahrzunehmen, wenn auch nur auf kurze Entfernung; bloße Lichtempfindlichkeit ist kein Sehvermögen, eine Herabminderung auf 2 % steht dem Verlust gleich (vgl. Tröndle/Fischer StGB 51.Aufl. Rn.2 a zu § 226 StGB).

Nach den in der Berufungshauptverhandlung getroffenen Feststellungen besteht kein Zweifel daran, dass der Zeuge S... durch die ihm von dem Angeklagten am linken Auge zugefügten Verletzungen das Sehvermögen an diesem Auge zunächst verloren hatte. Zwischenzeitlich hat der Zeuge S... durch das Tragen einer Kontaktlinse sowie einer beidseitigen Prismenbrille am linken Auge wieder ein Sehvermögen von 0,5 (ausgehend von Normalwert 1) erreicht. Insoweit wird nochmals auf das Sachverständigengutachten verwiesen.

Die Kammer schließt sich bei der Frage, ob solche durch die Fortschritte der heutigen Medizin mögliche Korrekturen der Sehfähigkeit zu berücksichtigen sind, den Ausführungen des OLG Hamm in dem Urteil vom 30.3.1975 (5 Ss 26/76 OLG Hamm, Ns 37 Ls 1/75 StA Münster) an.

Das OLG Hamm hat sich in der genannten Entscheidung sehr ausführlich mit dem Problem befasst, inwieweit die Verwendung von Surrogaten (wie im vorstehenden Fall Kontaktlinsen und Prismenbrille) bei der Frage, ob die Sehfähigkeit verloren ist, zu berücksichtigen ist. Unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des BGH (BGH 24, 315) die sich mit dem Tatbestandsmerkmal der dauernden Entstellung im Sinn von § 226 Abs. 1 Nr.3 StGB befasst, kommt das OLG Hamm zu dem Ergebnis, dass nicht der vom Täter geschaffene Anfangserfolg Gradmesser der besonderen Strafbarkeit sein kann. Die Verwendung von Surrugaten zur Behebung der Verletzungsfolgen, die nach dem derzeitigen Stand der Medizin möglich sind, sind nach dieser Entscheidung zu berücksichtigen. Da so sich damit der Täterkreis - sogar fortschreitend - verkleinern kann, ist dabei hinzunehmen, ebenso, dass es dem Täter zugute kommt, wenn sich der Verletzte nachträglich operativen Eingriffen unterzieht und sich des Ersatzes von Organteilen durch künstliche Surrugaten bedient. Dies ist hier der Fall. Dadurch, dass der Zeuge S sich drei Operationen unterzogen hat und jetzt eine Kontaktlinse und eine Prismenbrille trägt, ist sein Sehvermögen auf dem linken Auge wieder auf eine Sehstärke von 0,5 (ausgehend von 1,0) erhöht worden.

Nach Meinung der Kammer können Entscheidungen des RG bei der Entscheidung dieser Fragen nicht mehr berücksichtigt werden.

Die Kammer geht deshalb davon aus, dass der Zeuge S... sein Sehvermögen am linken Auge nicht im Sinn des § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB verloren hat."

2. Entgegen der Rechtsauffassung des Landgerichts könnte das Verhalten des Angeklagten den Tatbestand des § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllen.

a) Der Verlust des Sehvermögens liegt vor, wenn die Fähigkeit, Gegenstände optisch wahrzunehmen - wenn auch nur auf kurze Entfernung - im Wesentlichen für längere, nicht näher bestimmbare Zeit aufgehoben ist (RGSt 72, 321/322 und 58, 173; Stree in: Schönke/Schröder StGB 26.Aufl. § 226 Rn.1 b; Tröndle/Fischer StGB 51.Aufl. § 226 Rn.2 a; SK/Horn/Wolters in: SK StGB 7.Aufl. § 226 Rn.6). Die Herabminderung der Sehfähigkeit auf 2 % steht jedenfalls dem Verlust gleich (RGSt 71, 119; 72, 321).

b) Welcher Heilerfolg die Tatbestandsmäßigkeit entfallen lässt, ist umstritten, es ist insoweit auch ein Beurteilungswandel eingetreten.

Nach früherer Rechtsprechung, insbesondere des Reichsgerichts, die zu § 224 StGB a.F. ergangen ist, entfiel der Tatbestand nicht dadurch, dass die schwere Folge der Tat später wieder behoben wurde, insbesondere sollten Operationen oder Surrogate keine Auswirkungen haben (RGSt 27, 80; 44, 59; 72, 321). In der letztgenannten Entscheidung wurde dieser Grundsatz allerdings eingeschränkt. Dass das Sehvermögen zu irgendeinem Zeitpunkt fehlte, musste noch nicht zu bedeuten, dass es "verloren" ist. Der Bundesgerichtshof (BGHSt 17, 161 ff., ergangen zur Alternative der "Entstellung" i.S.v. § 224 StGB a.F.) hat zunächst noch in Fortsetzung dieser Rechtsprechung eine dauerhafte erhebliche Entstellung auch dann bejaht, wenn nach Verlust der vier oberen und vier unteren Schneidezähne diese künstlich ersetzt werden können.

Diese Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof (BGHSt 24, 315 ff.) hinsichtlich der Frage, ob ein Verletzter in erheblicher Weise dauernd entstellt ist (nunmehr § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB) aufgegeben. Vorangegangen waren zwei Entscheidungen des Landgerichts Hamburg, die bezüglich der erheblichen Entstellung des Verletzten von der früheren Rechtsprechung abgewichen waren (LG Hamburg NJW 1966, 1178 ff. und NJW 1966, 1876 f.). Der Bundesgerichtshof begründet den Wegfall der schweren Folge damit, dass es für das Merkmal der dauernden erheblichen Entstellung allein auf das äußere Erscheinungsbild ankomme. Der funktionale Unterschied zwischen einer Zahnprothese und natürlichen Zähnen sei aus Rechtsgründen unerheblich, weil das Gesetz (jetzt § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB) insoweit nur auf das Aussehen und nicht auf die Funktion abstelle.

Mit der vorgenannten neueren Rechtsprechung und der herrschenden Meinung in der Literatur (u.a. Stree in: Schönke/Schröder StGB aaO; Paeffgen in: NK StGB 2.Aufl. § 226 Rn.17; Horn/Wolters in: SK aaO Rn.7; Hirsch in: LK aaO Rn.8; van Els NJW 1974, 1074; Wegner NJW 1966, 1849) ist eine eingetretene Heilung auch dann zu berücksichtigen, wenn sie auf operativem Eingriff beruht. Denn nicht die schwere Folge, sondern nur die dauerhafte schwere Folge erfüllt den Tatbestand des § 226 StGB. Dass eine Heilung beachtlich ist, kann letztlich keinem Zweifel unterliegen, weil auch rettende Eingriffe Dritter den Täter begünstigen können.

c) Weitergehend hat das OLG Hamm mit Urteil vom 30.3.1976 (GA 76, 304, ergangen zu § 224 a.F. StGB) die vorgenannte Rechtsprechung auch zur Beurteilung herangezogen, ob ein Verlust der Sehfähigkeit vorliegt, wenn diese durch Operation und Verwendung von Surrogaten wieder hergestellt werden kann. Es hat ausgeführt, dass ein Verlust der Sehfähigkeit auch dann vorliegt, wenn diese durch eine Operation und durch Verwendung von Surrogaten nur zu 5 -10 % des Normalzustandes wieder hergestellt werden könnte. Tragend für die Entscheidung war, dass die Heilungsprognose nahezu negativ war und die geringen Erfolgsaussichten derzeit und auf längere Dauer - eine Operation konnte erst in mehreren Jahren gewagt werden - faktisch einem (Seh)Verlust gleichkamen.

d) Die schwere Folge des § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB (hier: Verlust des Sehvermögens) liegt jedoch auch dann vor, wenn durch nur vorübergehend mit dem Körper verbundene Hilfsmittel (hier: Kontaktlinse und Prismenbrille) eine Abmilderung der Auswirkung der langwierigen körperlichen Beeinträchtigung erreicht wird (ebenso: Hardtung in: MünchKomm StGB 1.Aufl. § 226 Rn.18).

Für § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist anerkannt, dass Prothesen den Verlust von Gliedmaßen nicht beseitigen (u.a. Hirsch in: LK aaO Rn.17; Stree in: Schönke/Schröder aaO Rn.2; Horn/Wolters in: SK aaO Rn. 11; Tröndle/Fischer aaO Rn. 8).

Auch für § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB wird dadurch, dass mittels Brillen und Kontaktlinsen wieder gesehen werden kann, die eingetretene schwere Folge des Verlustes des Sehvermögens nicht aufgehoben. Es werden nur die Auswirkungen des Verlustes gemildert (Hardtung in: MünchKomm aaO Rn.18, wonach generell vorübergehend mit dem Körper verbundene Hilfsmittel die schwere Folge nicht beseitigen). Das Sehvermögen ist in diesen Fällen gerade nicht wiederhergestellt. Der Verletzte muss sich um solche Hilfsmittel laufend kümmern (vgl. Hardtung in: MünchKomm aaO Rn.18), sie ersetzen das körperliche Organ nicht.

Anders als bei § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB kommt es bei § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB auf die Funktionsfähigkeit des Organs und nicht auf das äußere Erscheinungsbild an.

e) Soweit der Senat damit eine andere Rechtsauffassung als das OLG Hamm (GA 76, 304) zur Verwendung möglicher Surrogate vertritt, kommt eine Vorlage an den Bundesgerichtshof nach § 121 Abs. 2 GVG nicht in Betracht, da die abweichende Rechtsauffassung für das zitierte Urteil des OLG Hamm nicht entscheidungserheblich war.

3. Vorliegend hat das Landgericht, nach seiner Rechtsauffassung folgerichtig, nicht festgestellt, ob die durchgeführten Operationen allein schon zu einer Wiederherstellung des Sehvermögens, d.h. der Fähigkeit, Gegenstände als solche optisch wahrzunehmen, geführt haben mit der Folge, dass die Voraussetzungen des § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht vorliegen. Das Landgericht hat ersichtlich darauf abgehoben, dass das Sehvermögen "unter Verwendung einer Kontaktlinse und einer Prismenbrille" bei 0,5 liegt und deshalb den Tatbestand des § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB verneint.

Festzustellen ist, in welchem Umfang die Sehfähigkeit des Verletzten zum Urteilszeitpunkt durch die erfolgten Operationen ohne Verwendung von Surrogaten (Kontaktlinse und Prismenbrille) wiederhergestellt wurde oder durch zumutbare weitere Operationen wiederhergestellt werden kann.



Ende der Entscheidung

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