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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 24.10.2001
Aktenzeichen: 2Z BR 132/01
Rechtsgebiete: GG, WEG, FGG


Vorschriften:

GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 20 Abs. 3
WEG § 45 Abs. 1
FGG § 22 Abs. 2
Einem Laien ist im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit (hier: in Wohnungseigentumssachen)bei einer Fristversäumnis grundsätzlich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erteilen, sofern eine Rechtsmittelbelehrung fehlte(Vorlage an den Bundesgerichtshof wegen beabsichtigter Abweichung von OLG Celle NZM 1999, 287, OLG Köln, Beschluss vom 29.5.2000, 16 Wx 72/00, sowie OLG Hamburg ZMR 2001, 845).
Gründe:

I.

Die Antragsteller und der Antragsgegner sind die Wohnungseigentümer einer größeren Wohnanlage. Die Antragsteller machen gegen den Antragsgegner, dem eine Wohnung mit einer Wohnfläche von 28 m² gehört, Nachzahlungsbeträge aus Wohngeldabrechnungen für die Wirtschaftsjahre 1995 bis 1998 in einer Gesamthöhe von 2178,80 DM zuzüglich Verzugszinsen geltend. Die Jahresgesamtabrechnungen wurden durch bestandskräftige Beschlüsse in Eigentümerversammlungen vom 24.5.1996, 25.4.1997, 17.4.1998 und 16.4.1999 genehmigt. Die Einzelabrechnungen für die Wirtschaftsjahre 1990 bis 1998 waren Gegenstand der Wohnungseigentümerversammlung vom 27.4.2001 und wurden mehrheitlich genehmigt. Der Antragsgegner hat den maßgeblichen Beschluss gerichtlich angefochten. Hierüber ist noch nicht entschieden.

Das Amtsgericht hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 25.9.2000 antragsgemäß zur Zahlung verpflichtet. Die sofortige Beschwerde des Antragsgegners blieb in der Hauptsache erfolglos. Im Beschluss des Landgerichts vom 13.8.2001 wurde überdies ein Gegenantrag, der Aufwandsentschädigung des Antragsgegners für Bemühungen um Abhilfe wegen Tätigkeit von Prostituierten in der Wohnanlage zum Gegenstand hatte, als unzulässig verworfen. Gegen den ihm am 18.8.2001 zugestellten Beschluss richtet sich das vom Antragsgegner eigenhändig schriftlich beim Landgericht eingelegte und am 22.8.2001 eingegangene Rechtsmittel. Nach schriftlichem Hinweis des Senats vom 5.9.2001 auf die Formerfordernisse der sofortigen weiteren Beschwerde hat der Antragsgegner am 18.9.2001 zu Protokoll der Geschäftsstelle des Bayerischen Obersten Landesgerichts sofortige weitere Beschwerde eingelegt und zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist beantragt. Die Antragsteller ihrerseits haben beantragt, das Rechtsmittel zu verwerfen, hilfsweise zurückzuweisen und im übrigen für den Fall, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt und das Rechtsmittel als zulässig angesehen wird, Anschlussbeschwerde gegen die Kostenentscheidung des Landgerichts eingelegt.

II.

1. Der Senat beabsichtigt - vorrangig vor der an dieser Stelle nicht erörterungsbedürftigen Frage der Begründetheit der sofortigen weiteren Beschwerde - zunächst über die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 43 Abs. 1 Satz 1 WEG, § 45 Abs. 1 WEG, 5 22 Abs. 2, 29 Abs. 4 FGG zu entscheiden (Keidel/Kahl FGG 14. Aufl. 22 Rn. 39), zumal von der Zulässigkeit des Rechtsmittels auch die Wirksamkeit der unselbständigen Anschließung abhängt (dazu BGHZ 71, 314; Keidel/Kahl § 22 Rn. 7c). Er hält die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung für gegeben (§ 22 Abs. 2 Satz 1 FGG), weil der Antragsgegner die Frist in Unkenntnis über die Förmlichkeiten für die Einlegung der sofortigen weiteren Beschwerde versäumt hat, ihn keine Obliegenheit traf, sich alsbald nach Zustellung der ohne Rechtsmittelbelehrung versehenen landgerichtlichen Entscheidung nach Form und Frist des beabsichtigten Rechtsmittels zu erkundigen, sein Fristversäumnis somit unverschuldet war.

Der Senat sieht sich an der beabsichtigten Entscheidung jedenfalls durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 10.9.1998 (NZM 1999, 287) und den nicht veröffentlichten Beschluss des Oberlandesgerichts Köln vom 29.5.2000 (Az. 16 Wx 72/00) gehindert. Beide Gerichte haben in einer Wohnungseigentumssache Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt und die sofortige weitere Beschwerde verworfen. Die Oberlandesgerichte Celle und Köln sind mit der ganz herrschenden Meinung in der Rechtsprechung der Ansicht, dass ein juristisch nicht vorgebildeter und nicht durch einen Rechtsanwalt vertretener Rechtsmittelführer, dem keine Rechtsmittelbelehrung erteilt wurde, sich alsbald nach Zugang einer ihm nachteiligen gerichtlichen Entscheidung bei einer zuständigen Stelle über die Voraussetzungen eines zulässigen Rechtsmittels, insbesondere über die einzuhaltende Form und Frist, erkundigen müsse; unterlässt er dies, sei die Fristversäumnis als verschuldet anzusehen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu versagen (vgl. Keidel/Kahl FGG 14. Aufl. § 22 Rn. 23 mit Rechtsprechungsnachweisen). Auf der gleichen Linie bewegt sich die Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Hamburg (Beschluss vom 19.4.2001, ZMR 2001, 845), nach der es jedem Rechtsmittelführer selbst obliegt, Erkundigungen über die zutreffende Form des Rechtsmittels einzuholen. Diese Rechtsansicht lag auch der Rechtsprechung des Senats in der Vergangenheit zugrunde (vgl. z.B. WuM 1995, 505).

2. Am 20.6.1995 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden (BVerfGE 93, 99 = NJW 1995, 3173), der verfassungsrechtliche Anspruch auf einen wirkungsvollen Rechtsschutz könne eine Rechtsmittelbelehrung gebieten, wenn dies erforderlich sei, um unzumutbare Schwierigkeiten des Rechtswegs auszugleichen, die die Ausgestaltung eines Rechtsmittels andernfalls mit sich brächte. Eine solche Lage ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts bei den Rechtsmitteln im Klageverfahren des Zivilprozesses - "jedenfalls derzeit noch" - nicht gegeben.

Das Bundesverfassungsgericht führt schließlich noch aus, es könne dahingestellt bleiben, ob etwas anderes für Verfahren vor den Zivilgerichten gelte, in denen - wie insbesondere in manchen Bereichen der freiwilligen Gerichtsbarkeit - kein Anwaltszwang besteht, andererseits aber die Rechtsmittelvoraussetzungen nicht leicht erkennbar sind.

3. Der erkennende 2. Zivilsenat hat noch am 2.12.1999 (NZM 2000, 295) an seiner bisherigen Rechtsprechung auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts festgehalten und ausgeführt, eine gesetzliche Pflicht zur Rechtsmittelbelehrung bestehe nicht, eine solche Pflicht lasse sich auch nicht unmittelbar aus der Verfassung ableiten; Rechtsirrtum und Rechtsunkenntnis seien in der Regel nicht unverschuldet, weil grundsätzlich jeder, der ein Rechtsmittel einlegen wolle, für die Einhaltung der Förmlichkeiten selbst verantwortlich sei und sich gegebenenfalls erkundigen müsse. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wurde versagt. Auch die Beschlüsse der Oberlandesgerichte Celle, Köln und Hamburg sind nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergangen, mit der sich die Gerichte allerdings nicht auseinandergesetzt, sie nicht einmal erwähnt haben.

Der 2. Zivilsenat möchte an seiner bisherigen Rechtsauffassung im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr festhalten. Er möchte sich einer im Vordringen befindlichen Meinung im Schrifttum anschließen, die eine Rechtsmittelbelehrung, die im übrigen in den Verfahrensordnungen anderer Gerichtsbarkeiten vorgeschrieben ist (vgl. z.B. § 9 Abs. 5 ArbGG, § 58 VwGO, § 66 SGG), in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit jedenfalls bei befristeten Rechtsmitteln von Verfassungs wegen für geboten erachten mit der Folge, dass bei einer unterbliebenen Rechtsmittelbelehrung die Fristversäumung grundsätzlich als unverschuldet anzusehen ist (vgl. Keidel/Schmidt § 16 Rn. 60; Budde in Bauer/v. Oefele GBO § 73 Rn. 13; Staudinger/Wenzel WEG § 44 Rn. 50; Demharter GBO § 1 Rn. 54; Demharter FGPrax 1995, 217; Demharter WuM 2000, 43 und jüngst WuM 2001, 311).

Das Rechtsstaatsprinzip verlangt, dass der Rechtsweg nicht in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird. Die Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes kann daher eine Rechtsmittelbelehrung gebieten, wenn dies erforderlich ist, um unzumutbare Schwierigkeiten des Rechtswegs auszugleichen, die die Ausgestaltung eines Rechtsmittels andernfalls mit sich brächte. Das kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Formerfordernisse des Rechtsmittels so kompliziert und schwer zu erfassen sind, dass nicht erwartet werden kann, der Rechtsuchende werde sich in zumutbarer Weise darüber rechtzeitig Aufklärung verschaffen können. Das kann namentlich in Verfahren zutreffen, in denen kein Anwaltszwang besteht (BVerfG NJW 1995, 3173/3174). Bei den Rechtsmitteln im Klageverfahren des Zivilprozesses wurde eine Rechtsmittelbelehrung jedenfalls seinerzeit von Verfassungs wegen noch nicht für geboten erachtet, weil das Rechtsmittelverfahren im Herkömmlichen liege und überschaubar sei, insbesondere ausnahmslos Anwaltszwang bestehe (BVerfG aaO; kritisch zur Rechtsmittelbelehrung im Zivilprozeß Greger JZ 2000, 131). Diese Kriterien erfüllen die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht. Weder sind diese, die für einzelne Verfahren vielfach unterschiedlich ausgestaltet sind, überschaubar, noch im Bewusstsein der Bevölkerung verwurzelt. Außerdem herrscht in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit grundsätzlich kein Anwaltszwang, ein Umstand, dem wesentliche Bedeutung zukommt. Der Senat hält daher eine Rechtsmittelbelehrung bei befristeten Rechtsmitteln in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit von Verfassungs wegen für geboten.

Die fehlende Rechtsmittelbelehrung hat zwar aus Gründen der Rechtssicherheit keinen Einfluss auf den Beginn der Rechtsmittelfrist, wie dies bei Fehlen einer gesetzlich vorgeschriebenen Rechtsmittelbelehrung der Fall ist (siehe etwa § 9 Abs. 5 Satz 3 ArbGG; vgl. auch BayObLGZ 1986, 259 f.; Keidel/Kahl Vorbem. vor §§ 8 bis 18 Rn. 20). Der verfassungsrechtlich geschützte Anspruch auf einen wirkungsvollen Rechtsschutz, der durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG gewährleistet ist, kann aber nur dann verwirklicht werden, wenn bei Fristversäumung trotz gebotener, aber unterbliebener Rechtsmittelbelehrung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird, weil die Fristversäumung im Hinblick auf die fehlende Rechtsmittelbelehrung als unverschuldet angesehen wird (vgl. dazu auch BayObLG, Beschluss vom 22.1.2001, 1Z BR 89/99 = BayObLGZ 2001, 10).

4. Der 1. und der.3. Zivilsenat des Bayerischen obersten Landesgerichts haben in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an der bisherigen Rechtsansicht festgehalten, wonach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand einem rechtsunkundigen und nicht durch einen Rechtsanwalt vertretenen Rechtsmittelführer, der keine Rechtsmittelbelehrung erhalten hat, nicht erteilt wird (vgl. Beschluss des 1. Zivilsenats vom 14.10.1996, 1Z BR 216/96, und Beschlüsse des 3. Zivilsenats vom 30.7.1997, 3Z BR 157/97 = MDR 1997, 1057, vom 23.2.1999, 3Z BR 64/99, und vom 10.8.1999, 3Z BR 396/99 = BayObLGZ 1999, 232). Auf Anfrage des 2. Senats in einem früheren Verfahren (Beschluss vom 13.3.2001, 2Z BR 23/01; dazu NZM 2001, 814 und Demharter WuM 2001, 311) haben beide Senate mitgeteilt, an der Rechtsansicht nicht mehr festzuhalten, dass die Versäumung einer Rechtsmittelfrist durch einen rechtsunkundigen und nicht durch einen Rechtsanwalt vertretenen Rechtsmittelführer, dem keine Rechtsmittelbelehrung erteilt wurde, grundsätzlich verschuldet ist (Beschluss des 1. Senats vom 11.4.2001, 1Z AR 2/01, und Beschluss des 3. Senats vom 20.4.2001, 3Z AR 22/01).

Ende der Entscheidung

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