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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 05.09.2001
Aktenzeichen: 3Z BR 172/01
Rechtsgebiete: FGG, ZPO, UnterbrG


Vorschriften:

FGG § 18
ZPO § 319
UnterbrG § 1 Abs. 1
Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die vorläufige Unterbringung nach dem Unterbringungsgesetz angeordnet werden kann.
Der 3. Zivilsenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts hat unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Sprau sowie der Richter Dr. Plößl und Dr. Schreieder

am 5. September 2001

in der Unterbringungssache

auf die sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen

beschlossen:

Tenor:

Die sofortige weitere Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Ansbach vom 9. April 2001 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Ansbach vom 19. Februar 2001 als unbegründet zurückgewiesen wird.

Gründe:

I.

Der Betroffene wurde am 14.2.2001 in das Bezirkskrankenhaus A. verbracht. Am 19.2.2001 ordnete das Amtsgericht die vorläufige Unterbringung bis längstens 2.4.2001 an, da dringende Gründe für die Annahme bestünden, dass die Unterbringungsvoraussetzungen des Art. 1 Abs.,1 UnterbrG vorlägen. Hiergegen legte der Betroffene am 27.2.2001 sofortige Beschwerde ein.

Am 6.3.2001 ergänzte das Amtsgericht seinen Beschluss vom 19.2.2001 wie folgt: "Die sofortige Wirksamkeit wird angeordnet. Die Entscheidung über die sofortige Wirksamkeit beruht auf § 70h Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 70g Abs. 3 S. 2 FGG." Zur Begründung führte es aus, dass eine offensichtliche Unrichtigkeit bzw. Auslassung vorgelegen habe, die zu berichtigen gewesen sei. Am 27.3.2001 wurde der Betroffene aus dem Bezirkskrankenhaus entlassen. Mit Beschluss vom 9.4.2001 hat das Landgericht die sofortige Beschwerde des Betroffenen verworfen. Dagegen richtet sich die sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen mit der er die Aufhebung des Beschlusses des Landgerichts und die Feststellung begehrt, dass seine zwangsweise Unterbringung im Vollzug der Beschlüsse des Amtsgerichts vom 19.2. und 6.3.2001 rechtswidrig gewesen sei.

II.

Das Rechtsmittel ist zulässig. Es führt zur Abänderung der Beschwerdeentscheidung dahin, dass die Erstbeschwerde als unbegründet zurückgewiesen wird.

1. Das Landgericht hat seine Entscheidung damit begründet, die Erstbeschwerde sei unzulässig, weil sich mit der Entlassung des Betroffenen aus der Unterbringung die Hauptsache erledigt habe und eine Beschränkung des Rechtsmittels auf die Kosten nicht erfolgt sei. Die vom Betroffenen angestrebte Feststellung der Rechtswidrigkeit der Unterbringung sei im Verfahren der Freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht möglich.

2. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung (§ 27 Abs. 1 FGG; § 550 ZPO) nicht stand.

Die Auffassung des Landgerichts, ein Rechtsmittel gegen die Anordnung einer vorläufigen Unterbringung sei im Falle der prozessualen Überholung infolge der Beendigung der Maßnahme als unzulässig zu verwerfen, widerspricht dem Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG (BVerfG NJWE-FER 1998, 163; BayObLGZ 1999, 24). In Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe, in denen die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf einen Zeitraum beschränkt, in welchem der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in den von der Prozessordnung vorgegebenen Instanzen kaum erlangen kann, ist ein Rechtsschutzinteresse für die gerichtliche Prüfung des Grundrechtseingriffs ungeachtet prozessualer Überholung grundsätzlich zu bejahen (BVerfG EuGRZ 1997, 372/373; NJWE-FER 1998, 163; NJW 1998, 2432/2433).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist im vorliegenden Fall das Rechtschutzinteresse für die vom Betroffenen begehrte Feststellung gegeben. Jedenfalls, wenn die Unterbringung nur für die Dauer von bis zu sechs Wochen angeordnet ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die gegen die gerichtliche Entscheidung eröffneten Instanzen innerhalb dieses Zeitraums durchlaufen werden können (vgl. BVerfG NJW 1997, 2432; BayObLGZ 1999, 24; OLG Zweibrücken BtPrax 2000, 92).

3. Der Rechtsfehler zwingt zur Aufhebung der Entscheidung des Landgerichts, aber nicht zur Zurückverweisung der Sache. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, weil es keiner weiteren Ermittlungen bedarf (BGH NJW 1997, 2815/2817; BayObLG NJW-RR 1998, 294/295). Dem steht nicht, entgegen, dass das Landgericht die Erstbeschwerde als unzulässig verworfen hat (BayObLG NJW-RR 1998, 519; Bassenge/Herbst FGG/RPflG 8. Aufl. § 27 FGG Rn. 32). Der Senat kann die erforderlichen Feststellungen aus den ihm infolge des Rechtsfehlers der Kammer zugänglichen Akten selbst treffen (BayObLGZ 2000, 316/318 m.w.N.).

Auf der Grundlage des sich aus den Akten ergebenden Sachverhalts ist die Anordnung der vorläufigen Unterbringung durch das Amtsgericht nicht zu beanstanden.

a) Gegen oder ohne seinen Willen kann in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden, wer psychisch krank oder infolge Geistesschwäche oder Sucht psychisch gestört ist und dadurch in erheblichem Maß die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 UnterbrG). Bestehen dringende Gründe für die Annahme, dass diese Voraussetzungen gegeben sind und mit dem Aufschub der Unterbringung Gefahr verbunden wäre, kann das Vormundschaftsgericht gemäß Art. 9 UnterbrG, § 70h FGG die Unterbringung vorläufig anordnen.

Hierfür sind folgende Grundsätze maßgebend (vgl. BayObLGZ 1999, 216/217 f.):

aa) Inhalt und Reichweite dieser freiheitsbeschränkenden Norm sind so zu bestimmen, dass sie der Bedeutung der Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gerecht werden (vgl. BVerfG NJW 1998, 1774; BayObLGZ 1998, 116/118). Die Freiheit der Person ist ein so hohes Rechtsgut, dass sie nur aus besonders gewichtigem Grund angetastet werden darf (vgl. BVerfG NJW 1998, 1774/1775), d. h. wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten (vgl. BVerfG NJW 1984, 1806). Der dem gemäß streng zu beachtende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfG NJW 1998, 1774/1775; BayVerfGH 45, 125/132) ist zentrales Auslegungskriterium für die einzelnen Unterbringungsvoraussetzungen (vgl. Marschner/Volckart Freiheitsentziehung und Unterbringung 4. Aufl. Rn. B 42), setzt den Maßstab für die Aufklärung des Sachverhalts (vgl. BVerfGE 70, 297/308) und verlangt eine Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalles, bei der die vom Betroffenen ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Unterbringung verbundenen Eingriffs in seine persönliche Freiheit ins Verhältnis zu setzen sind (vgl. BVerfGE 70, 297/313; BayObLGZ 1998, 116/118).

bb) Der Begriff der psychischen Krankheit im Sinne des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 UnterbrG erfaßt alle Arten geistiger Abnormität, alle psychischen Abweichungen von der Norm, gleichgültig, welche Ursache sie haben oder wie sie zustande gekommen sind (vgl. BayLT-Drucks. 9/2431 S. 16; Zimmermann Bayerisches Unterbringungsgesetz Art. 1 Rn. 2). Es muss nicht eine Geisteskrankheit oder echte Psychose im medizinischen Sinn vorliegen (vgl. Zimmermann aao), vielmehr fallen unter den genannten Begriff auch die sog. Psychopathien, d. h. Störungen des Willens-, Gefühls- und Trieblebens, welche die bei einem normalen und geistig reifen Menschen vorhandenen, zur Willensbildung befähigenden Vorstellungen und Gefühle beeinträchtigen (vgl. BayLT-Drucks. 9/2431 S. 16; Zimmermann aaO). In Anbetracht des hohen Ranges der Freiheit der Person erfordert der Begriff der psychischen Krankheit als Voraussetzung der Unterbringung jedoch einen die Freiheitsentziehung rechtfertigenden Schweregrad der Persönlichkeitsstörung, mithin eine sorgfältige Prüfung, ob dieser Störung Krankheitswert im Sinne des Gesetzes zukommt (vgl. BVerfG NJW 1984, 1806).

cc) Gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss auch die Schutzwürdigkeit der vom psychisch Kranken gefährdeten Rechtsgüter der Schwere des Eingriffs in die persönliche Freiheit entsprechen (vgl. BayObLGZ 1989, 17/20). Die gefährdeten Rechtsgüter müssen von erheblichem Gewicht, die den geschützten Rechtsgütern drohende Gefahr muss erheblich sein. Letzteres erfordert, dass mit einer Beeinträchtigung der Rechtsgüter zum einen mit hoher Wahrscheinlichkeit und zum anderen jederzeit zu rechnen sein muß (vgl. BayObLGZ 1998, 116/118 m.w.N.).

dd) Die Unterbringung darf nur angeordnet werden, wenn die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung nicht durch weniger einschneidende Mittel abgewendet werden kann (Art. 1 Abs. 1 Satz 3 UnterbrG).

ee) Für den Erlass einer vorläufigen Anordnung müssen konkrete Umstände mit erheblicher Wahrscheinlichkeit (vgl. BayObLGZ 1997, 142/145) darauf hindeuten, dass die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 1 UnterbrG gegeben sind. Zudem müssen konkrete Tatsachen nahe legen, dass mit dem Aufschub der Unterbringung Gefahr für den Betroffenen bzw. die öffentliche Sicherheit und Ordnung bestünde (vgl. BayObLGZ 1999, 269/272 f.).

b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat die amtsgerichtliche Entscheidung Bestand.

aa) Die Feststellung des Amtsgerichts, der Betroffene leide an einer schizoaffektiven Störung beruht auf den Darlegungen des Amtsarztes Dr. H., die in Einklang mit der Diagnose des Stationsarztes des Bezirkskrankenhauses stehen. Ihr schließt sich der Senat an.

bb) Von dem Betroffenen ging eine erhebliche und konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus. Er hatte am 6.2.2001 seine Ehefrau eingesperrt. Die zu Hilfe gerufenen Polizeibeamten bedrohte er mit einer Flasche und versuchte sie vom Grundstück zu vertreiben. Die Beamten mussten die Frau mit einer Leiter aus dem ersten Stock bergen. Bereits in der Woche vom 20. bis 25.1.2001 hatte der Betroffene das Treppengeländer des Hauses mit Papier umwickelt und dieses angezündet sowie das Haus verbarrikadiert. Als er wegen der Vorfälle vom 6.2.2001 vom Amtsarzt aufgesucht wurde, bedrohte er diesen mit Gewalt. Deshalb wurde der Betroffene zum Gesundheitsamt vorgeführt, dort wurde er nach wenigen Fragen aggressiv und bedrohte den Amtsarzt mit einem Stuhl. Die Untersuchung musste deshalb abgebrochen werden. Der Sachverständige hat ausgeführt, der Betroffene sei aufgrund seiner psychischen Erkrankung nicht in der Lage, seine Handlungen zu durchdenken und zu steuern und neige zu Affektausbrüchen, in deren Verlauf Körperverletzungen bereits vorgekommen und mit großer Wahrscheinlichkeit auch noch zu erwarten seien.

Daher bestand die konkrete Gefahr der Wiederholung von ähnlichen Vorfällen, wenn der Betroffene nicht behandelt wurde. Im Hinblick auf das aggressive und uneinsichtige Verhalten des Betroffenen gab es nicht die Möglichkeit eines geringeren Eingriffs in seine Rechte als die geschlossene Unterbringung.

c) Der Beschluss vom 19.2.2001 enthielt zwar nicht ausdrücklich, jedoch stillschweigend die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit (§ 70g Abs. 3 Satz 2 FGG). Der Richter wollte mit seinem Beschluss, wie dies nach der gegebenen Situation auf der Hand liegt, die Fortdauer der Freiheitsentziehung bewirken. Der Betroffene befand sich bereits im Freiheitsentzug. Das Bezirkskrankenhaus hatte ihn dem Richter mit dem Ziel vorgestellt, ihn im Hinblick auf die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nicht entlassen zu müssen. Der Richter hatte die materiellen Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung ausdrücklich bejaht. Er unternahm nichts, um die Entlassung des Betroffenen herbeizuführen, wozu er ohne Anordnung der sofortigen Wirksamkeit verpflichtet gewesen wäre. Auch aus der Wahl des Mittels der einstweiligen Anordnung wird deutlich, dass der Richter ein Eingreifen mit sofortigen Konsequenzen für die Freiheit des Betroffenen als dringend geboten ansah.

Unter diesen Umständen beruht es auf einem offensichtlichen Versehen, dass der Richter den Ausspruch der sofortigen Wirksamkeit nicht ausdrücklich in die schriftliche Fassung des Beschlusses aufgenommen hat. Dem wurde mit dem in entsprechender Anwendung von § 319 Abs. 1 ZPO (BGHZ 78, 22; BGH NJW-RR 2001, 61) zulässigen Berichtigungsbeschluss vom 6.3.2001 Rechnung getragen.

Die berichtigte Entscheidung ist damit so zu behandeln, als ob sie von Anfang an den berichtigten Inhalt gehabt hätte (BGHZ 127, 74/81; Bassenge/Herbst § 18 FGG Rn. 24).

Ende der Entscheidung

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