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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 17.12.2001
Aktenzeichen: 3Z BR 386/01
Rechtsgebiete: UnterbrG, FGG


Vorschriften:

UnterbrG Art.1 Abs. 1 Satz 1
FGG § 70m Abs. 3
FGG § 69g Abs. 5 Satz 1
FGG § 70g Abs. 2 Satz 1
Selbst bei einer psychischen Anomalie und der Gefahr krimineller Handlungen kann ein Betroffener nicht nach Art.1 Abs. 1 Satz 1 UnterbrG untergebracht werden, soweit er noch seinen Willen frei bestimmen kann.
Gründe:

I.

Der 46 Jahre alte Betroffene ist mehrfach wegen Sexualdelikten an Kindern vorbestraft. Zuletzt wurde er am 5.2.1999 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt; Sicherungsverwahrung wurde nicht angeordnet. Das Restdrittel der Strafe ist seit 17.4.2001 zur Bewährung ausgesetzt; der Betroffene steht unter Führungsaufsicht.

Im Hinblick auf seine bevorstehende Entlassung aus der Strafhaft beantragte die Kreisverwaltungsbehörde die Unterbringung des Betroffenen nach dem Gesetz über die Unterbringung psychisch Kranker und deren Betreuung (UnterbrG). Der Betroffene leide an einer Psychopathie mit pädophiler Ausprägung als einer schweren Persönlichkeits- und Verhaltensstörung. Wegen der massiven sexuellen Deviation, der fehlenden Krankheitseinsicht und Ablehnung sämtlicher Therapieangebote bestehe bei ihm nicht nur eine hohe Wiederholungsgefahr im Hinblick auf Sexualdelikte gegenüber Kindern, sondern generell auf Straftaten.

Mit Beschluss vom 12.4.2001 ordnete das Amtsgericht nach Erholung eines Gutachtens mit sofortiger Wirksamkeit die Unterbringung des Betroffenen in einer geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses bis längstens 11.4.2003 an

Auf die sofortige Beschwerde des Betroffenen gegen diesen Beschluss hin hat das Landgericht nach Erholung eines weiteren Gutachtens am 20.11.2001 den Beschluss des Amtsgerichts aufgehoben.

Gegen diesen Beschluss wendet sich die Kreisverwaltungsbehörde mit ihrer sofortigen weiteren Beschwerde. Vorsorglich stellt sie zusätzlich den Antrag, die Vollziehung des landgerichtlichen Beschlusses auszusetzen. Der am 21.11.2001 entlassene Betroffene befindet sich seit 1.12.2001 wieder im Bezirksklinikum Regensburg.

II.

Das zulässige Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

1. Das Landgericht hat seine Entscheidung folgendermaßen begründet:

Eine Unterbringung gegen den Willen des Betroffenen setze voraus, dass dieser aufgrund seiner Krankheit seinen Willen nicht frei bestimmen könne. Dieser Grundsatz gelte ebenso wie für die bürgerlich-rechtliche Unterbringung auch für die öffentlich-rechtliche Unterbringung. Zwar sei bei dem Betroffenen eine Persönlichkeitsstörung vom Subtypus der dissozialen Persönlichkeitsstörung, eine Pädophilie sowie eine leichte Intelligenzminderung festgestellt worden, doch seien diese Störungen nicht von einem derartigen psychiatrischen Schweregrad, dass sie zur Annahme einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit berechtigen würden. An der Richtigkeit des dieser Beurteilung zugrunde liegenden Gutachtens bestehe kein Zweifel, nachdem der Sachverständige alle entscheidungserheblichen Erkenntnisquellen ausgewertet und eingehend und nachvollziehbar bewertet habe. Bei der persönlichen Anhörung des Betroffenen durch die Kammer habe sich dieser Eindruck gleichfalls ergeben.

2. Die Entscheidung des Landgerichts hält der rechtlichen Nachprüfung stand (§ 27 Abs. 1 FGG, § 550 ZPO).

a) Nach dem bayerischen Unterbringungsgesetz kann gegen oder ohne seinen Willen in einem psychiatrischen Krankenhaus oder sonst in geeigneter Weise untergebracht werden, wer psychisch krank oder infolge Geistesschwäche oder Sucht psychisch gestört ist und dadurch in erheblichem Maß die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet (Art.1 Abs. 1 Satz 1 UnterbrG), ohne dass die Gefährdung durch weniger einschneidende Mittel abgewendet werden kann (Art.1 Abs. 1 Satz 3 UnterbrG).

aa) Inhalt und Reichweite dieser Rechtsgrundlage für eine Freiheitsentziehung sind so auszulegen, dass sie der Bedeutung der Freiheitsgarantie des Art.2 Abs. 2 GG gerecht werden (vgl. BVerfG NJW 1998, 1774; BayObLGZ 1999, 216/217). Die Freiheit der Person ist ein so hohes Rechtsgut, dass sie nur aus besonders wichtigem Grund angetastet werden darf (vgl. BVerfG NJW 1998, 1774/1775), d.h. wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten (vgl. BVerfG NJW 1994, 1806). Der dem gemäß streng zu beachtende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfG NJW 1998, 1774/1775; BayVerfGH 45, 125/132) ist zentrales Auslegungskriterium für die einzelnen Unterbringungsvoraussetzungen, setzt den Maßstab für die Aufklärung des Sachverhalts und verlangt eine Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalles, bei der die vom Betroffenen ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Unterbringung verbundenen Eingriffs in seine persönliche Freiheit ins Verhältnis zu setzen sind (vgl. BVerfGE 70, 297/313; BayObLGZ 1999, 216/217 f.).

bb) Für den Begriff der psychischen Krankheit gibt es keine allgemein anerkannte Definition.

Die psychische Krankheit im Sinne des Art.1 Abs. 1 Satz 1 UnterbrG erfasst alle Arten geistiger Abnormität, alle psychischen Abweichungen von der Norm, gleichgültig, welche Ursache sie haben oder wie sie zustande gekommen sind (vgl. BayLT-Drucks. 9/2431 S.16; Zimmermann Bayerisches Unterbringungsgesetz Art.1 Rn.2). Es muss nicht eine Geisteskrankheit oder eine Psychose im medizinischen Sinn vorliegen (vgl. Zimmermann aaO), vielmehr fallen unter den genannten Begriff auch die sogenannten Psychopathien, d.h. Störungen des Willens-, Gefühls- und Trieblebens, welche die bei einem normalen und geistig reifen Menschen vorhandenen, zur Willensbildung befähigenden Vorstellungen und Gefühle beeinträchtigen (vgl. BayLT-Drucks.9/2431 S.16; Zimmermann aaO).

Die psychische Störung im Sinn von Art. 1 Abs. 1 Satz 1 UnterbrG unterscheidet sich von der psychischen Krankheit nur graduell-quantitativ, nicht qualitativ (BayLT-Drucks. 9/2431, Zimmermann jeweils aaO). Liegt lediglich ein solcher geringerer Grad der psychischen Beeinträchtigung vor, fordert das Gesetz zusätzlich, dass diese auf Geistesschwäche oder Sucht beruht. Auch darin kommt zum Ausdruck, dass für die Unterbringung nicht jede psychische Abweichung von der Norm genügen soll, die diagnostizierte Störung vielmehr wegen der von ihr ausgehenden verminderten Erkenntnis- und Einsichtsfähigkeit (Geistesschwäche) oder Zwangswirkung (Sucht) erheblichen Einfluss auf die Willensbildung und Steuerungsfähigkeit des Betroffenen haben muss. Auch um zu vermeiden, dass in unverhältnismäßiger Weise in die Freiheit des Betroffenen eingegriffen wird, ist es erforderlich, dass der Persönlichkeitsstörung ein die Freiheitsentziehung rechtfertigender Schweregrad zukommt (vgl. BVerfG NJW 1984, 1806; BayObLGZ 1999, 216/218; Marschner/Volckart Freiheitsentziehung und Unterbringung 4.Aufl. Kap. A Rn.27, 103, 114; Kap.B Rn.111, 112). Handlungen, die eine Person in freier Verantwortung und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte vornimmt, rechtfertigen daher nicht die Unterbringung nach Art.1 Abs. 1 Satz 1 UnterbrG (BayVfGH 41, 151/155, 157). Deshalb reicht auch der Umstand, dass eine Person zu kriminellen Handlungen neigt, für sich genommen keinesfalls aus (Zimmermann aaO).

cc) Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung muss sich aus der psychischen Krankheit oder der auf Geistesschwäche oder Sucht beruhenden psychischen Störung des Betroffenen ergeben, die Persönlichkeitsstörung des Betroffenen muss für die von ihm ausgehende Gefahr kausal sein (vgl. BayObLGZ 2001, Nr.69; Alperstedt BtPrax 2000, 149/152; Marschner/Volckart Kap. B Rn.116, 142).

b) Die Beurteilung, ob der ermittelte medizinische Sachverhalt die gesetzlichen Begriffe der psychischen Krankheit oder der auf Geistesschwäche oder Sucht beruhenden psychischen Störung ausfüllt, ob der Betroffene infolge der Krankheit oder psychischen Störung die öffentliche Sicherheit oder Ordnung erheblich gefährdet und ob seine zwangsweise Unterbringung deshalb erforderlich ist, obliegt dem Tatrichter. Das Rechtsbeschwerdegericht kann dessen Beurteilung nur auf Rechtsfehler überprüfen, d.h. dahin, ob der Tatrichter die in Art.1 Abs. 1 UnterbrG enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe verkannt hat, von ungenügenden oder verfahrenswidrig zustande gekommenen Feststellungen ausgegangen ist, wesentliche Umstände außer acht gelassen, der Bewertung maßgeblicher Umstände unrichtige Maßstäbe zugrundegelegt, gegen die Denkgesetze verstoßen oder Erfahrungssätze nicht beachtet hat (vgl. BayObLGZ 1999, 216/218; 2001 Nr.69).

c) Ausgehend von diesen Grundsätzen weist die Entscheidung des Landgerichts keinen Rechtsfehler auf.

aa) Das Landgericht hat den für die genannten Voraussetzungen entscheidungserheblichen Sachverhalt verfahrensfehlerfrei festgestellt.

Die Kammer hat den Betroffenen persönlich angehört und ein zweites Gutachten eingeholt; damit ist sie ihrer Aufklärungs- und Ermittlungspflicht (§ 12 FGG) nachgekommen. Auch wenn sich Widersprüche zwischen Erst- und Zweitgutachten ergeben haben, musste das Gericht keinen weiteren Gutachter zuziehen. Nach beiden Gutachten hat der Betroffene eine dissoziale Persönlichkeitsstruktur und ist pädophil veranlagt; der Zweitgutachter konstatiert zusätzlich eine gewisse Intelligenzminderung. Die Gutachten unterscheiden sich im Grunde genommen nur in ihren (rechtlichen) Schlussfolgerungen aus dieser Diagnose. Der Erstgutachter sieht die Pädophilie vor dem Hintergrund der schweren Persönlichkeits- und Verhaltensstörung als Störung des Willens-, Gefühls- und Trieblebens an und geht von einer hohen Wiederholungsgefahr mit dadurch bedingter Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung aus. Der Zweitgutachter misst weder der dissozialen Persönlichkeitsstruktur noch der Pädophilie noch der verminderten Intelligenz Krankheitswert bei, weil alle diese Symptome die Verantwortungsfähigkeit des Betroffenen und damit die Freiheit seiner Entscheidungsfindung nicht soweit beeinträchtigten, dass der Betroffene seine Handlungen nicht mehr zu steuern vermöge und ihm eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit zu bescheinigen sei. Auch verneint er trotz einer Rückfalltendenz eine kausale Beziehung zwischen psychischer Störung und Gefährlichkeit. Die Straftaten seien nicht durch die psychischen Störungen bedingt, da die Verantwortungsfähigkeit des Betroffenen durch die psychischen Störungen nicht beeinträchtigt sei.

In Anbetracht dieser Ergebnisse bestanden keine Anhaltspunkte dafür, dass ein weiteres Gutachten zusätzliche Erkenntnisse gebracht hätte, zumal beide vorliegenden Gutachten von anerkannten und sachkundigen Fachärzten für Psychiatrie anhand von durchgeführten Tests und Explorationen erstellt worden sind und nichts dafür ersichtlich ist, dass ein anderer Sachverständiger über eine überlegene Sachkunde verfügt hätte.

Auch die Würdigung des Landgerichts dahin, dass bei dem Betroffenen keine psychische Störung von eine Unterbringung rechtfertigender Erheblichkeit vorliegt, begegnet keinen Bedenken. Das Landgericht hat sich in seiner Entscheidung auf den Zweitgutachter gestützt und eine Unterbringung deshalb abgelehnt, weil keine psychische Störung von einem Schweregrad vorliege, welche zur Annahme einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit berechtige. Der Erstgutachter hat zur Frage der freien Willensbestimmung und zur Frage der erheblich verminderten Schuldfähigkeit nicht fundiert Stellung genommen, sondern nur von einer Störung des Willens-, Gefühls- und Trieblebens gesprochen. Demgegenüber hat der Zweitgutachter sich intensiv mit dieser Frage beschäftigt und nachvollziehbar in Übereinstimmung mit den Vorgutachtern und Richtern aus den Strafverfahren eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit und der Beeinträchtigung der Verantwortungsfähigkeit sowie ein Suchtverhalten des Betroffenen, gerade auch im Hinblick auf die Pädophilie, verneint. Es kommt hinzu, dass der Betroffene während der Dauer der Bewährungsfrist einer Führungsaufsicht unterstellt worden ist, im Strafvollstreckungsverfahren also gleichfalls von der vollen Verantwortlichkeit des Betroffenen ausgegangen worden ist.

bb) Aus diesen Feststellungen, von denen auch der Senat bei der materiell-rechtlichen Überprüfung der angefochtenen Entscheidung auszugehen hat (§ 27 Abs. 1 Satz 1 FGG; § 561 ZPO; vgl. BayObLGZ 1999, 17/20), hat das Landgericht zutreffend den Schluss gezogen, dass eine Unterbringung nicht in Betracht kommt, weil eine psychische Krankheit oder Störung des Betroffenen von der nach Art.1 Abs. 1 Satz 1 UnterbrG geforderten Art und Erheblichkeit nicht vorliegt. Dem steht nicht entgegen, dass eine Rückfallgefahr besteht. Das Unterbringungsgesetz dient der Unterbringung Kranker - so die Bezeichnung des Gesetzes -, von denen gerade aufgrund dieser Krankheit oder psychischen Störung eine Gefahr ausgeht. Es dient nicht allgemein der Unterbringung gefährlicher Personen.

d) Da der Senat bereits in der Hauptsache entscheidet, war eine Aussetzung der Vollziehung des landgerichtlichen Beschlusses schon deshalb nicht veranlasst. Davon abgesehen bedurfte es einer Aussetzung der Vollziehung der landgerichtlichen Entscheidung nicht, um die Fortdauer der Unterbringung zu ermöglichen. Das Landgericht hat in seinem Beschluss nicht dessen sofortige Wirksamkeit angeordnet, so dass die Aufhebung der amtsgerichtlichen Anordnung erst mit Rechtskraft der landgerichtlichen Entscheidung wirksam werden konnte (§ 70m Abs. 3, § 69g Abs. 5 Satz 1, § 70g Abs. 3 Satz 1 FGG).

Ende der Entscheidung

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