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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 19.05.2003
Aktenzeichen: 3Z BR 79/03
Rechtsgebiete: FGG


Vorschriften:

FGG § 19 Abs. 1
FGG § 27 Abs. 1
Zur Frage, wann das Gericht der weiteren Beschwerde in einem Unterbringungsverfahren über einen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Unterbringungsanordnung selbst in der Sache entscheiden kann.
Gründe:

I.

Der Betroffene wurde am 23.2.2003 von der Verkehrspolizei auf der Bundesautobahn A 8 aufgegriffen, weil er versuchte, dort Fahrzeuge anzuhalten. Die Polizei lieferte den Betroffenen in das Bezirkskrankenhaus ein. Am 24.2.2003 ordnete das Amtsgericht die vorläufige Unterbringung des Betroffenen in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses an. Der Betroffene legte hiergegen sofortige Beschwerde ein. Das Landgericht hat das Rechtsmittel mit Beschluss vom 7.3.2003 zurückgewiesen. Der Beschluss ist am 11.3.2003 zum Zwecke der Zustellung bzw. formlosen Übersendung hinaus gegeben worden. Bereits am 7.3.2003 hatte der Betroffene erklärt, sich nunmehr auf freiwilliger Basis weiterhin im Bezirkskrankenhaus behandeln zu lassen. Am 10.3.2003 wurde der Betroffene aus dem Bezirkskrankenhaus entlassen.

Mit Schriftsatz vom 26.3.2003 legte der Betroffene sofortige weitere Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts ein. Er beantragt u.a. hilfsweise festzustellen, dass die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts zu Unrecht erlassen wurden.

II.

Die zulässige sofortige weitere Beschwerde ist im Ergebnis unbegründet.

1. Die Hauptsache hat sich vorliegend jedenfalls dadurch erledigt, dass der Betroffene am 10.3.2003 aus dem Bezirkskrankenhaus entlassen wurde. Erledigt sich die Hauptsache, wird das zuvor mit dem Zweck der Entlassung aus der Unterbringung eingelegte Rechtsmittel unzulässig; eine Sachentscheidung kann nicht mehr ergehen (vgl. Keidel/Kahl FGG 15. Aufl. § 19 Rn. 94). Der Rechtsmittelführer ist allerdings berechtigt, seine Beschwerde auf die Kostenfrage zu beschränken (Keidel/ Kahl aaO). Zudem gebietet es die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes in Fällen, in denen der durch eine geschlossene Unterbringung bewirkte, tiefgreifende Eingriff in das Grundrecht der Freiheit beendet ist, die Schutzwürdigkeit des Interesses des Betroffenen an einer Feststellung der Rechtswidrigkeit des Grundrechtseingriffes zu bejahen (vgl. zuletzt BVerfG NJW 2002, 2456; BayObLGZ 2000, 220; 2002, 304/306 ff.). Hierzu bedarf es allerdings eines ausdrücklich auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der angegriffenen Entscheidung gerichteten Antrages. Dem Betroffenen ist Gelegenheit zu geben, einen solchen Antrag zu stellen; das Beschwerdegericht darf nicht so kurzfristig entscheiden, dass dem Beschwerdeführer eine Weiterführung des Verfahrens nicht möglich ist (BayObLG NJW-RR 2001, 724).

Ergeht trotz Erledigung der Hauptsache im Beschwerdeverfahren eine Hauptsacheentscheidung, so ist hiergegen die (sofortige) weitere Beschwerde zulässig; die Erstbeschwerde ist unter Aufhebung der Entscheidung des Beschwerdegerichtes als unzulässig zu verwerfen, wenn sie der Beschwerdeführer nicht entsprechend den zuvor dargestellten Grundsätzen umgestellt hat (vgl. BayObLG MDR 1998, 1116/1117; Keidel/Meyer-Holz § 27 Rn. 51).

Im vorliegenden Fall ist die Endentscheidung des Beschwerdegerichts erst mit Hinausgabe an die Beteiligten am 11.3.2003 im Rechtssinne erlassen worden und damit existent geworden (vgl. Keidel/Schmidt § 16 Rn. 6 m. w. N.). Die Erledigung des Verfahrens in der Hauptsache durch Entlassung des Betroffenen ist daher noch während der Anhängigkeit des Beschwerdeverfahrens eingetreten. Damit ist die Beschwerdeentscheidung als Entscheidung in der Hauptsache in jedem Falle verfahrensrechtswidrig ergangen. Auf etwaige weitere Verfahrensfehler kommt es in diesem Zusammenhang nicht an; insbesondere kann deshalb auch zunächst dahinstehen, ob es unter dem Gesichtspunkt der Gewährung rechtlichen Gehörs veranlasst gewesen wäre, dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen nach dessen Anhörung im Beschwerdeverfahren noch Gelegenheit zu weiteren Äußerungen zu geben.

2. Die Beschwerdeentscheidung wäre hiernach aufzuheben. Da der Betroffene zwischenzeitlich einen zulässigen Feststellungsantrag gestellt hat, kommt aber eine Verwerfung seiner sofortigen Beschwerde als unzulässig nicht in Betracht. Vielmehr hätte das Beschwerdegericht nach Zurückverweisung über den Feststellungsantrag betreffend die Entscheidung des Vormundschaftsgerichtes in der Sache zu entscheiden. Der Senat trifft diese Entscheidung unter Verzicht auf eine Zurückverweisung hier selbst. Die Beschwerdeentscheidung ist trotz des festgestellten Verfahrensfehlers im Ergebnis richtig (vgl. § 27 Abs. 1 FGG, § 561 ZPO). Der Senat ist insoweit befugt, die festgestellten Tatsachen sowie vom Beschwerdegericht nicht festgestellte, aber feststehende Tatsachen selbst zu würdigen (vgl. Bassenge/Herbst/Roth FGG/RPflG 9. Aufl. § 27 FGG Rn. 28 i.V.m. Rn. 32; BGH NJW 1955, 1070). Weitere Ermittlungen sind nicht erforderlich. Der Antrag des Betroffenen auf Rechtswidrigkeitsfeststellung erweist sich hiernach als unbegründet.

a) Das Landgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet.

Bei dem Betroffenen liege ausweislich der Darlegungen zweier psychiatrischer Sachverständiger eine Psychose vor, infolge derer die freie Willensbestimmung des Betroffenen erheblich eingeschränkt sei; Krankheitseinsicht liege nicht vor. Im Übrigen habe sich der Betroffene bei seinen Versuchen, seine Verhaltensweise zu erklären, immer wieder in Widersprüche verwickelt. Sein Verhalten auf der Autobahn habe, wie das Landgericht näher ausführt, zu einer erheblichen Gefährdung der eigenen Person wie auch Dritter geführt. Der Betroffene habe sich dies offensichtlich in Folge seiner Erkrankung nicht vor Augen halten können. Nach seinem derzeitigen Persönlichkeitsbild müsse damit gerechnet werden, dass sich der Betroffene auch in Zukunft fremdgefährdend verhalte.

Die zu beachtenden Verfahrensvorschriften habe das Amtsgericht eingehalten.

b) Nach Aktenlage ist die vorläufige Unterbringung des Betroffenen zu Recht angeordnet worden.

(1) Gegen seinen Willen kann in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden, wer psychisch krank oder infolge Geistesschwäche oder Sucht psychisch gestört ist und dadurch in erheblichem Maße die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 UnterbrG). Kann die Gefährdung durch weniger einschneidende Maßnahmen abgewendet werden, darf die Unterbringung nicht angeordnet werden (Art. 1 Abs. 1 Satz 3 UnterbrG). Da die Freiheit der Person ein so hohes Rechtsgut ist, dass sie nur aus besonders wichtigem Grunde angetastet werden darf, ist bei einer Unterbringungsanordnung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit streng zu beachten (vgl. BVerfG NJW 1998, 1774/1775). Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur zentrales Auslegungskriterium für die einzelnen Unterbringungsvoraussetzungen, sondern auch Maßstab für die Sachverhaltsaufklärung; er verlangt eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles, bei der die vom Betroffenen ausgehenden Gefahren zur Schwere des Eingriffs in seine persönliche Freiheit ins Verhältnis zu setzen sind (vgl. BVerfGE 70, 297, 313; BayObLGZ 1998, 116/118).

Bestehen dringende Gründe für die Annahme, dass diese Voraussetzungen gegeben sind und mit dem Aufschub der Unterbringung Gefahr verbunden ist, kann das Vormundschaftsgericht gemäß § 9 UnterbrG, § 70h FGG die Unterbringung vorläufig anordnen. Für den Erlass einer vorläufigen Anordnung müssen konkrete Umstände mit erheblicher Wahrscheinlichkeit (vgl. BayObLGZ 1997, 142/145) darauf hindeuten, dass die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 1 UnterbrG vorliegen und konkrete Tatsachen nahe legen, dass mit dem Aufschub der Unterbringung Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bestehen würde (vgl. BayObLGZ 1999, 267/269).

(2) Im vorliegenden Falle ergibt sich aus dem Inhalt der Akten, dass dringende Gründe für die Annahme der Unterbringungsvoraussetzungen vorgelegen haben. Schon nach dem ersten in dieser Sache vorgelegten fachärztlichen Zeugnis vom 23.2.2003 war davon auszugehen, dass der Betroffene an einer Psychose litt, aufgrund derer mit erheblichen selbst- wie fremdgefährdenden Handlungen zu rechnen war. Diese Diagnose wurde ärztlicherseits im Rahmen der Anhörung des Betroffenen durch das Beschwerdegericht nochmals bestätigt. Der Betroffene habe eine "ganz andere Einschätzung von der Realität". Maßgeblich gestützt war die ärztliche Diagnose zum einen auf das nur schwer verständliche Verhalten des Betroffenen am 23.2.2003 auf der Bundesautobahn A 8, zum anderen auf irrationale, zum Teil widersprüchliche Erklärungen, die der Betroffene in der Folge abgegeben hat. Für den Senat ist diese Einschätzung in vollem Umfang nachvollziehbar. Unabhängig von der Frage, was letztlich der Auslöser für das Verhalten des Betroffenen auf der Autobahn war, liegt es für jeden Erwachsenen, der sich im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte befindet, auf der Hand, dass der Versuch, auf einer Autobahn fremde Fahrzeuge anzuhalten, in jedem Falle lebensgefährlich für alle Beteiligten ist. Der Betroffene hat Glück gehabt, dass sein Verhalten nicht zu einem schwerwiegenden Verkehrsunfall geführt hat. In der Situation des Betroffenen konnte man sinnvoller weise nur in Betracht ziehen, entweder auf einem Rastplatz dritte Personen um Hilfe zu bitten oder eine der an der Autobahn aufgestellten Notrufsäulen zu betätigen. So, wie der Betroffene reagiert hat, kann dies nur darauf zurückzuführen sein, dass er die Realitäten völlig verkannt hat. Hinzu kommt das Verhalten des Betroffenen nach seinem Aufgreifen. So gab der Betroffene bei seiner Anhörung durch die Erstrichterin an, seine Jacke trotz der bestehenden Minustemperaturen über eine Messstation gehängt zu haben, weil er sich für die Station "interessiert" habe; er habe die Öffentlichkeit auf die Station aufmerksam machen wollen (?). Zudem sei es ihm ein Anliegen gewesen, eine "politische Aktion" dagegen durchzuführen, dass Autobahnen keinen Ausgang für Fußgänger hätten. Später gab der Betroffene dann zu Protokoll, er habe seine Jacke über die Messstation gehängt, um dadurch eine Störung herbeizuführen, in der Absicht, so auf sich aufmerksam machen zu können. Auch das Verhalten des Betroffenen im Bezirkskrankenhaus war in mehrfacher Weise auffällig (Werfen mit einem Blumenkübel gegen eine Tür, "Experimente" mit einem nagelgespickten Softball u.a.). Vor diesem Hintergrund gab und gibt es keinen Anlass, an der ärztlichen Diagnose hinsichtlich des psychischen Zustands und der Gefährlichkeit des Verhaltens des Betroffenen zu zweifeln, zumal die Entscheidung über eine vorläufige Unterbringung des Betroffenen im Rahmen eines Verfahrens über den Erlass einer einstweiligen Anordnung erging (§ 70 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, § 70h Abs. 1 FGG), in dem sich die Gerichte nicht Gewissheit über die Unterbringungsvoraussetzungen verschaffen müssen, sondern lediglich zu prüfen haben, ob dringende Gründe für deren Annahme vorliegen (s.o.; § 69f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGG).

Weniger einschneidende Maßnahmen als eine vorläufige Unterbringung des Betroffenen waren nach den getroffenen Feststellungen nicht geeignet, den Zweck der Unterbringung zu erreichen; insbesondere hätte es erkennbar nicht ausgereicht, dem Betroffenen lediglich sein Fahrzeug abzunehmen, um ihn an weiteren "Aktionen" zu hindern. Gleiches gilt für eine lediglich ambulante ärztliche Versorgung des Betroffenen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist gewahrt. Die vom Betroffenen ausgehende Gefährdung des öffentlichen Verkehrs war so erheblich, dass sie auch eine Unterbringung des Betroffenen, die im vorliegenden Falle geboten erschien, zu rechtfertigen vermochte.

(3) Verfahrensfehler stellen das gewonnene Ergebnis nicht in Frage.

Eines verfahrensauslösenden Antrages der Kreisverwaltungsbehörde hat es im vorliegenden Falle nicht bedurft, weil die Polizei von ihrer Eilkompetenz nach Art. 10 Abs. 2 UnterbrG Gebrauch gemacht hat (vgl. BayObLGZ 1992, 208/209). Die Erholung eines förmlichen Sachverständigengutachtens war im Verfahren der einstweiligen Anordnung nicht erforderlich; es genügte hier ein ärztliches Zeugnis (§ 70h Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 69f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FGG). Der Betroffene wurde sowohl von der Erstrichterin als auch vom Beschwerdegericht angehört, wobei im Beschwerdeverfahren die Anhörung durch eine beauftragte Richterin erfolgen konnte (§ 69g Abs. 5 Satz 2 FGG). Soweit der Betroffene bemängelt, in der Folge seiner Anhörung durch das Beschwerdegericht keine Gelegenheit mehr zu weiteren Ausführungen gehabt zu haben (s.o.), bleibt dies ohne Bedeutung. Zum einen kann das Gericht im Verfahren der einstweiligen Anordnung bei Gefahr in Verzug wie im vorliegenden Fall ohnehin eine Unterbringung vor der persönlichen Anhörung des Betroffenen aussprechen; es besteht lediglich die Verpflichtung, die gebotene Anhörung unverzüglich nachzuholen (§ 69f Abs. 1 Satz 4 FGG). Entsprechendes muss auch für Stellungnahmen gelten, die für den Betroffenen noch in Aussicht gestellt sind. Zum anderen hatte der Betroffene mittlerweile Gelegenheit, sich umfassend zur Sache zu äußern. Es sind aber keine neuen Aspekte vorgetragen worden, die für die Entscheidung von Belang wären, so dass selbst ein Verstoß der bisher tätigen Instanzgerichte gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs irrelevant, weil für das Ergebnis nicht kausal wäre.

Zutreffend war im Übrigen der Hinweis des Beschwerdegerichts, dass es Sache des Betroffenen bzw. seines Verfahrensbevollmächtigten war, sich die erwünschte Einsicht in die Akten des Bezirkskrankenhauses zu verschaffen. Auch der Senat sieht keine Rechtsgrundlage dafür, dem Betroffenen im Rahmen des vorliegenden Verfahrens einen Titel auf Einsicht in die Krankenakten zuzusprechen.

Für die Bestellung eines Verfahrenspflegers bestand im vorliegenden Falle kein Anlass. Das Amtsgericht hatte zunächst wegen Gefahr im Verzuge eine Sofortentscheidung zu treffen; die Frage der Bestellung eines Verfahrenspflegers konnte hiernach zunächst zurückgestellt werden (vgl. § 70h Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 69f Abs. 1 Satz 4 FGG). Schon wenige Tage später meldete sich dann der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen und zeigte an, dessen Interessen nunmehr zu vertreten. Die Bestellung eines Verfahrenspflegers war ab diesem Zeitpunkt nicht mehr erforderlich; eine etwaige Bestellung wäre aufzuheben gewesen (§ 70b Abs. 3 FGG).

In der Folge wurde das Verfahren dann - wie beantragt - dem Beschwerdegericht vorgelegt. Den Akten ist nicht zu entnehmen, dass der "Einspruch" des Betroffenen gegen die ergangene einstweilige Anordnung missachtet worden wäre.

Ende der Entscheidung

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