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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 29.10.2002
Aktenzeichen: 4 St RR 104/02
Rechtsgebiete: GG, StPO


Vorschriften:

GG Art. 13
StPO § 81a
StPO § 102
StPO § 105 Abs. 1
1. Die Staatsanwaltschaft ist wegen Gefahr in Verzug zur Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung regelmäßig auch dann zuständig, wenn zu befürchten ist, dass der vorübergehend festgenommene, aber mangels Haftgrunds unverzüglich zu entlassende Verdächtige vor dem Erlass der richterlichen Durchsuchungsanordnung die in der Wohnung zu vermutenden Beweismittel beseitigt haben wird.

2. In einem solchen Fall wird das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung durch die verfassungsrechtlich gebotene Gewährleistung einer wirksamen Strafverfolgung beschränkt.


Gründe:

I.

Das Schöffengericht bei dem Amtsgericht verurteilte den Angeklagten am 21.1.2002 wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zugleich wurde er schuldig befunden, fahrlässig im Straßenverkehr unter der Wirkung eines in der Anlage zu § 24 a StVG genannten berauschenden Mittels ein Kraftfahrzeug geführt zu haben. Insoweit wurden gegen ihn eine Geldbuße von 200 DM und ein Fahrverbot von 1 Monat verhängt.

Die Berufungen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten verwarf das Landgericht am 6.6.2002 als unbegründet mit der Maßgabe, dass die Geldbuße auf 100 Euro festgesetzt wurde.

Mit seiner Revision beanstandet der Angeklagte das Verfahren und rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Er wendet sich insbesondere gegen die Durchsuchung seiner Wohnung und die Verwertung der dabei aufgefundenen Beweismittel.

II.

Das zulässige Rechtsmittel (§§ 333, 341, 344, 345 StPO) hat in der Sache keinen Erfolg.

1. Die Strafkammer hat im wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

Der wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln vorgeahndete Angeklagte wurde am frühen Abend des 24.6.2001 (Sonntag) als Fahrer eines Pkw im Gemeindebereich I einer polizeilichen Verkehrskontrolle unterzogen. Dabei wurde anhand körperlicher Symptome festgestellt und vom Angeklagten auch eingeräumt, dass er kurz zuvor gegen 17.30 Uhr Cannabis konsumiert hatte. Daraufhin durchsuchten die Polizeibeamten - erfolglos - den Angeklagten und sein Fahrzeug nach weiteren Betäubungsmitteln und ließen eine Blutentnahme durchführen.

Im Anschluss an die Blutentnahme setzte sich die polizeiliche Sachbearbeiterin gegen 20.00 Uhr mit dem zuständigen Bereitschaftsstaatsanwalt in Verbindung. Dieser ordnete, ohne zuvor versucht zu haben, den zuständigen Ermittlungsrichter zu erreichen, unter Bejahung von Gefahr im Verzug die Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten nach Betäubungsmitteln/Betäubungsmittelutensilien an. Die Vollziehung dieser Anordnung führte zur Auffindung von 96,03 g Haschisch mit einem Wirkstoffgehalt von 7,5 %, 4,4 g Haschisch mit einem Wirkstoffgehalt von 3 % sowie 4,53 g Haschisch mit einem Wirkstoffgehalt von 18 %.

2. Die Verfahrensrügen greifen nicht durch.

2.1 Die zulässig erhobene Rüge, die als Blatt 20 bei den Akten befindliche staatsanwaltschaftliche Durchsuchungsanordnung vom 24.6.2001 sei unter Verstoß gegen § 261 StPO nicht ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden, ist unbegründet. Ausweislich des Protokolls wurden "Bl. 19/21 der Akten" gemäß § 249 StPO verlesen, Bl. 20 der Akten wurde in Augenschein genommen (S. 3 des Protokolls vom 6.6.2002, Bl. 89 der Akten). Damit wurde protokolliert, dass Blatt 20 der Akten sowohl verlesen als auch in Augenschein genommen wurde. Zwei mit Schrägstrich verbundene Blattangaben bezeichnen nach eindeutiger behördlicher Praxis nicht die Einzelblätter, sondern die gesamte durch sie begrenzte Blattfolge.

2.2 Die zulässig erhobene Rüge des Verstoßes gegen § 102, § 105 Abs. 1 Satz 1 StPO erweist sich ebenfalls als nicht begründet. Die Bejahung der staatsanwaltschaftlichen Anordnungskompetenz gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 StPO wegen Gefahr im Verzug hält auch im Lichte neuerer verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung (vgl. BVerfG 103, 142 = NJW 2001, 1121 = NStZ 2001, 382 = StV 2001, 207) rechtlicher Überprüfung stand.

2.2.1 Das Bundesverfassungsgericht knüpft in der genannten grundlegenden Entscheidung an die von der Rechtsprechung geprägte Begriffsbestimmung an, wonach Gefahr im Verzug vorliegt, wenn die vorherige richterliche Anordnung den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde (BVerfG NJW 2001, 1121/1123; BGH JZ 1962, 609/610). Es unterzieht diesen Begriffsgehalt aber im Hinblick auf das gesetzgeberisch gewollte und verfassungsrechtlich gebotene Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Richtervorbehalt und Eilzuständigkeit im Rahmen des § 105 Abs. 1 Satz 1 StPO einer engen, der umfassenden fachgerichtlichen Überprüfung zugänglichen Auslegung (BVerfG NJW 2001, 1121/1122 f.). Die Annahme von Gefahr im Verzug ist durch die Benennung konkreter fallbezogener, über reine Spekulationen, hypothetische Erwägungen oder auf kriminalistische Alltagserfahrungen gestützte Vermutungen hinausgehende Tatsachen zu begründen und aktenmäßig zu dokumentieren (BVerfG NJW 2001, 1121/1123 f.). Die Ermittlungsbehörden müssen, unbeschadet allgemeiner Erwägungen zur (Un-)Erreichbarkeit des zuständigen Richters zu bestimmten Zeiten, regelmäßig versuchen, dessen Anordnung zu erlangen, bevor sie eine Durchsuchung beginnen (BVerfG NJW 2001, 1121/1123).

Dem korrespondiert die verfassungsrechtliche Verpflichtung der Gerichte, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters, auch durch die Einrichtung eines Eil- und Notdienstes, zu sichern (BVerfG NJW 2001, 1121/1123). Ob dies die Notwendigkeit bedingt, für jedes Gericht - gegebenenfalls nach Maßgabe von § 22 c GVG - einen ermittlungsrichterlichen Eildienst über 24 Stunden an 7 Tagen der Woche vorzuhalten, bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung durch den Senat (vgl. insoweit zum Meinungsstand DRiZ 2001, 482; bejahend: Krehl JR 2001, 491/492 f.; Einmahl NJW 2001, 1393/1394; Sendler NJW 2001, 1256/1257; Asbrock StV 2001, 322/324; offengelassen: Amelung NStZ 2001, 337/339 f.; ablehnend: Bittmann wistra 2001, 451/453). Die Staatsanwaltschaft hat nämlich in rechtlich nicht zu beanstandender Weise wegen Gefahr im Verzug davon abgesehen, zunächst eine ermittlungsrichterliche Anordnung zu erholen (vgl. unten 2.2.3, S. 8/9).

2.2.2 Die materiellen Voraussetzungen einer Durchsuchung beim Verdächtigen gemäß § 102 StPO lagen vor. Da der betäubungsmittelrechtlich bereits in Erscheinung getretene Angeklagte in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Konsum von Betäubungsmitteln betroffen wurde, bestanden zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme, dass er weitere derartige Stoffe unerlaubt im Besitz hatte (vgl. zu den Anforderungen an den Tatverdacht Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 45. Aufl. § 102 Rn. 2 m.w.N.). Entgegen der Auffassung der Revision handelte es sich nicht lediglich um eine auf die früheren Betäubungsmittelkontakte gestützte rein spekulative Erwägung. Die Tatumstände, die keinerlei Hinweis auf einen isolierten Erwerb des konsumierten Joints gaben, und die betäubungsmittelrechtliche Vorbelastung des Angeklagten begründeten die konkrete, durch die genannten Tatsachen belegte Erwartung, dass er selbst über eine gewisse Betäubungsmittelmenge zum Eigenkonsum verfügte und damit den Straftatbestand des § 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG erfüllt hatte. Da sich in seinem Fahrzeug keine Betäubungsmittel befanden, bestand für das Auffinden in seiner Wohnung eine durch kriminalistische Erfahrung belegte Vermutung. Diese reicht im Rahmen des § 102 StPO hinsichtlich des mit der Durchsuchung verfolgten Sicherungszwecks aus (vgl. BVerfG StV 1994, 353/354; BGH StV 1988, 90). Insoweit verkennt die Revision, dass sich die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung vom 20.2.2001 zur Unzulänglichkeit kriminalistischer Alltagserfahrungen (BVerfG NJW 2001, 1121/1123) nicht auf die Durchsuchungsziele des § 102 StPO beziehen, sondern auf die Feststellung der tatsächlichen Gründe einer Eilzuständigkeit gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 StPO.

2.2.3 Auch die Voraussetzungen der Eilzuständigkeit gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 StPO wurden ohne Rechtsfehler bejaht.

Der von der Polizei mit der Angelegenheit befasste zuständige Bereitschaftsstaatsanwalt hat den drohenden Beweismittelverlust auf die Erwägung gestützt, bei Entlassung des Beschuldigten (nach durchgeführter Blutentnahme) sei mit sofortiger Beseitigung eventueller Beweismittel/Betäubungsmittelgegenstände zu rechnen, und diese Erwägung schriftlich in den Akten dokumentiert. Zwar enthält dieser Hinweis für sich allein betrachtet lediglich die abstrakte Wiedergabe der Alltagserfahrung, wonach ein Beschuldigter, falls er von den Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden Kenntnis erlangt, sofort alle Beweismittel vernichten wird. Damit würde er den verfassungsrechtlich vorgegebenen Dokumentations- und Begründungsanforderungen nicht entsprechen und vermöchte eine Eilzuständigkeit nicht zu begründen (BVerfG NJW 2001, 1121/1124; vgl. auch Krehl in JR 2001, 491/493). Der Vermerk erhält hier aber im Kontext mit dem ebenfalls schriftlich niedergelegten Sachverhalt und der bisherigen Ermittlungstätigkeit seine konkreten verfahrensgegenständlichen Bezüge. Der Angeklagte war seinerzeit bereits mit dem Vorwurf der Betäubungsmitteldelinquenz konfrontiert und konkreten Ermittlungshandlungen, nämlich einer Blutentnahme und der Durchsuchung seines Fahrzeugs nach Betäubungsmitteln, unterworfen worden. Die Möglichkeit einer Beweismittelbeeinträchtigung nach seiner Entlassung aus dem Gewahrsam erhielt dadurch eine höhere, in dem Tatgeschehen selbst verankerte Dimension, die sie über die bloße Alltagserfahrung hinaus zu einem konkreten Verdacht verdichtete.

Die Bejahung der Eilzuständigkeit erweist sich auch nicht deshalb als rechtswidrig, weil nicht zunächst versucht wurde, eine richterliche Anordnung zu erholen.

Ein solcher Versuch ist in der Regel unverzichtbar und kann nicht durch den abstrakten Hinweis ersetzt werden, eine richterliche Entscheidung sei gewöhnlicherweise zu einem bestimmten Zeitpunkt oder innerhalb einer bestimmten Zeitspanne nicht zu erreichen (BVerfG NJW 2001, 1121/1123). Ein vorheriges Bemühen um eine richterliche Entscheidung ist nur dann entbehrlich, wenn schon die zeitliche Verzögerung wegen eines solchen Versuchs den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde (BVerfG aaO).

Ein solcher Ausnahmefall liegt hier vor.

Nach Durchführung der Blutentnahme endete die Berechtigung aus § 81 a StPO, den Angeklagten weiterhin in Gewahrsam zu halten (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner § 81 a Rn. 29 m.w.N.). Der Richtervorbehalt bezüglich der Durchsuchung der Wohnung durfte nicht dazu führen, die Freiheitsentziehung über das gemäß § 81 a StPO gebotene Maß hinaus andauern zu lassen. Da auch sonstige Haftgründe nicht vorlagen, hatte deshalb unter Berücksichtigung des gegenüber Art. 13 Grundgesetz gewichtigeren Freiheitsgrundrechts unverzüglich die Entlassung zu erfolgen.

Damit bestand die Gefahr drohenden Beweisverlustes. Angesichts der Gesamtumstände, insbesondere aufgrund der Vorwarnung des Angeklagten durch den Vorwurf betäubungsmittelrechtlicher Delinquenz und die insoweit bereits getätigten Ermittlungshandlungen (vgl. oben S. 7), hätte schon das Bemühen um Erreichen des Richters den Erfolg der Untersuchung gefährdet. Bereits kurzzeitige Verzögerungen hätten dem Angeklagten - zumindest aus damaliger Sicht, vgl. BVerfG NJW 2001, 1121/1124 - die Möglichkeit eröffnet, Beweismittel selbst zu beseitigen oder durch einen Dritten beseitigen zu lassen. Es lag deshalb Gefahr im Verzug vor, die eine Eilanordnung für die Durchsuchung rechtfertigte (vgl. auch Krehl JR 2001, 491/493; Bittmann wistra 2001, 451/455).

3. Die aufgrund der allgemeinen Sachrüge gebotene umfassende Überprüfung des Urteils lässt ebenfalls keine Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erkennen (§ 337 StPO). Auch die Revision zeigt solche nicht auf.

III.

Die Revision wird daher gemäß § 349 Abs. 2 StPO auf Antrag der Staatsanwaltschaft durch einstimmig gefassten Beschluss verworfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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