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Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 21.05.2002
Aktenzeichen: 4 St RR 44/02
Rechtsgebiete: AuslG, VO(EG) Nr. 539/2001 v. 15.3.2001


Vorschriften:

AuslG § 92 Abs. 1 Nr. 1;
VO(EG) Nr. 539/2001 v. 15.3.2001 Art. 1 Abs. 2
VO(EG) Nr. 539/2001 v. 15.3.2001 Art. 4
VO(EG) Nr. 539/2001 v. 15.3.2001 Art. 4 Abs. 3
VO(EG) Nr. 539/2001 v. 15.3.2001 Art. 5
Die Visumspflicht gilt auch für Staatsangehörige der in Anhang II zu Art. 1 Abs. 2 VO(EG) Nr. 539/2001 v. 15.3.2001 (ABlEG Nr. L 81 v. 21.3.2001) aufgeführten Drittländer, wenn sie bei einem Aufenthalt bis zu drei Monaten einer Erwerbstätigkeit nachgehen.
Tatbestand:

Der Angeklagte ist tschechischer Staatsangehöriger und als Lkw-Fahrer im Güterfernverkehr beschäftigt. Am 30.6.2001 wurde er auf einem Parkplatz der Bundesautobahn A7 kontrolliert. Er war gerade dabei, auf einem in Deutschland zugelassenen Lkw eine Ladung von M. und G. nach England zu transportieren. Wie er wusste, besaß er keine Aufenthaltsgenehmigung, glaubte aber in einem vermeidbaren Irrtum, eine solche nicht zu benötigen.

Das Amtsgericht verurteilte ihn am 16.1.2002 wegen unerlaubten Aufenthalts zur Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 7,5 Euro.

Die (Sprung-)Revision des Angeklagten war begründet.

Gründe:

Die Bewertung des Amtsgerichts, der Angeklagte habe sich des unerlaubten Aufenthalts schuldig gemacht, kann nicht bestehen bleiben, weil der Schuldumfang mangels zureichender tatsächlicher Feststellungen den Urteilsgründen nicht zu entnehmen ist.

Gegen den Schuldspruch als solchen bestehen aus Rechtsgründen keine Bedenken.

Wegen unerlaubten Aufenthalts macht sich nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG strafbar, wer sich entgegen § 3 Abs. 1 AuslG ohne Aufenthaltsgenehmigung im Bundesgebiet aufhält und keine Duldung nach § 55 Abs. 1 AuslG besitzt. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AuslG bedürfen Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet einer Aufenthaltsgenehmigung in Form eines Sichtvermerks (Visum), wobei nach § 3 Abs. 1 Satz 2 AuslG das Bundesministerium des Innern zur Erleichterung des Aufenthalts von Ausländern Rechtsverordnungen erlassen kann. § 1 Abs. 1 Satz 1 DVAuslG sieht daher vor, dass Staatsangehörige der in der Anlage 1 zu dieser Verordnung aufgeführten Staaten bei Vorliegen der erforderlichen Personaldokumente bei einem Aufenthalt bis zu drei Monaten keiner Aufenthaltsgenehmigung bedürfen, solange sie keine Erwerbstätigkeit aufnehmen. Das trifft für tschechische Staatsangehörige auch nach Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 (AB1EG Nr. L 81 vom.21.3.2001), geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 2414/2001 des Rates vom 7. Dezember 2001 (ABlEG Nr. L 327 vom 12.12.2001) zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind, im folgenden EU-VisumVO, zu.

Insoweit bestimmt Art. 1 Abs. 2 EU-VisumVO, dass die Staatsangehörigen der in der Liste in Anhang II aufgeführten Drittländer von der Visumpflicht nach Art. 1 Abs. 1 EU-VisumVO für einen Aufenthalt, der insgesamt drei Monate nicht übersteigt, befreit sind. Die EU-VisumVO ist am 10.4.2001 in Kraft getreten (Art. 8 Abs. 1). Die Tschechische Republik ist in der Staatenliste zu Art. 1 Abs. 2 aufgeführt.

An der Visumpflicht für tschechische Staatsangehörige, die in Deutschland erwerbstätig sind, hat sich durch die EU-VisumVO jedoch nichts geändert. Der Begriff der Erwerbstätigkeit ist in § 12 Abs. 1 DVAuslG dahingehend bestimmt, dass hierunter jede selbständige und unselbständige Tätigkeit fällt, die auf die Erzielung von Gewinn gerichtet oder für die ein Entgelt vereinbart oder üblich ist oder für die eine Arbeits- oder sonstige Berufsausübungserlaubnis erforderlich ist. Insoweit sieht Art. 4 Abs. 3 EU-VisumVO ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten für Personen, die während ihres Aufenthalts einer Erwerbstätigkeit nachgehen, Ausnahmen von der Visumbefreiung gemäß Art. 1 Abs. 2 EU-VisumVO vornehmen können. Eine solche Ausnahmeregelung besteht in Deutschland nach § 3 Abs. 1 Satz 2 AuslG i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 12 DVAuslG. Dem steht nicht entgegen, dass die genannten Regelungen nicht als Ausnahmeregelungen zur EU-VisumVO, sondern als Ausnahmebestimmungen zum deutschen Einreise- und Aufenthalts recht konzipiert wurden. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EU-VisumVO sieht insoweit nur vor, dass jeder Mitgliedstaat den anderen Mitgliedstaaten und der Kommission binnen zehn Arbeitstagen nach Inkrafttreten der EU-VisumVO unter anderem die Maßnahmen mitteilt, die er gemäß Art. 4 EU-VisumVO getroffen hat. Das ist geschehen. Die von Deutschland der Kommission gemäß Art. 5 Abs. 1 EU-VisumVO übermittelten Informationen, soweit sie Ausnahmen zu Art. 4 Abs. 3 EU-VisumVO zur Visumfreiheit betreffen, wurden nach dem Stand vom 15.8.2001 im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft veröffentlicht (ABlEG Nr. C 363/21/26 ff. vom 19. Dezember 2001). Hieraus ergibt sich, dass Personen aus denjenigen Staaten, die im wesentlichen auch im Staatenverzeichnis der Anlage I zu § 1 Abs. 1 DVAuslG aufgeführt sind, dann weiterhin visumpflichtig sind, wenn sie in Deutschland entlohnte Tätigkeiten ausüben, also im Sprachgebrauch des deutschen Ausländerrechts erwerbstätig sind. Ausnahmen von diesem Grundsatz, die hier allerdings nicht einschlägig sind, hat Deutschland der Kommission gleichfalls mitgeteilt. Sie entsprechen im wesentlichen der in § 12 Abs. 2 - 6 DVAuslG getroffenen Regelung.

Der Senat teilt daher nicht die von Westphal/Stoppa (InfAus1R 2001, 309/311) vertretene Auffassung, wonach die in Art. 4 Abs. 3 EU-VisumVO vorgesehene nationale Ausnahmeregelung nicht in § 12 DVAuslG gesehen werden könne und somit die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit der visumfreien Einreise und dem genehmigungsfreien Aufenthalt nicht entgegenstehe.

Soweit dies damit begründet wird, dass sich eine Ausnahmeregelung direkt auf die EU-VisumVO beziehen müsse, trifft das nicht zu. Den Regelungen der Art. 4 Abs. 3 und Art. 5 Abs. 1 EU-VisumVO lässt sich eine solche Einschränkung nicht entnehmen. Die Mitgliedstaaten sind gemäß Art. 5 Abs. 1 EU-VisumVO nur gehalten, die von ihnen getroffenen Maßnahmen mitzuteilen. Es steht ihnen daher frei, in welcher Form sie Ausnahmen von der Visumbefreiung vorsehen. Sie können hierbei neue gesetzliche Regelungen schaffen oder auf bereits vorhandene Regelungen Bezug nehmen. Den letzteren Weg hat Deutschland gewählt.

Ebenso wenig stimmt der Senat der Auffassung zu, nur das Fehlen einer der in Art. 5 Abs. 1 lit. a-e des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) genannten Voraussetzungen, nicht aber die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, stehe regelmäßig dem durch Art. 20 SDÜ gewährten Recht auf einen genehmigungsfreien Kurzaufenthalt entgegen,(Westphal/Stoppa S. 310/311). Den genannten Autoren ist zwar darin beizupflichten, dass die EU-VisumVO zu einer Neubewertung des Art. 20 Abs. 1 SDÜ geführt hat. Diese Bestimmung besagt, dass sichtvermerksfreie Drittausländer sich im Hoheitsgebiet der Schengen-Staaten bis zu einem Zeitraum von drei Monaten innerhalb einer Frist von sechs Monaten von dem Datum der ersten Einreise an frei bewegen können, soweit die in Art. 5 Abs. 1 lit. a, c, d und e SDÜ aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllt sind. Handelte es sich hierbei bisher nur um eine völkerrechtliche Staatenverpflichtung (OLG Köln InfAuslR 1997, 459), so ist, sie nun durch die EU-einheitliche Festlegung der visumfreien Drittausländer unmittelbar anwendbar geworden. Unmittelbare Rechtswirkungen kann diese Bestimmung aber nur für diejenigen entfalten, die zum Kreis der sichtvermerksfreien Drittausländer zählen. Das sind grundsätzlich nur die Staatsangehörigen der in der Staatenliste zu Art. 1 Abs. 2 EU-VisumVO aufgeführten Staaten. Deren Sichtvermerksfreiheit wird aber wiederum durch die in Art. 4 Abs. 3 vorgesehenen nationalen Ausnahmeregelungen, soweit eine Erwerbstätigkeit vorgesehen ist, ausgeschlossen. Schon deshalb besteht in diesem Falle kein Kurzaufenthaltsrecht nach Art. 20 Abs. 1 SDÜ. Im übrigen erfasst der Regelungsgehalt des SDÜ nicht die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in einem Vertragsstaat (vgl. hierzu Fehrenbacher ZAR 2002, 58/62).

Damit steht aber fest, dass der Angeklagte den Tatbestand des unerlaubten Aufenthalts nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG erfüllt hat. Ein Ausnahmefall nach § 1 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 12 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG liegt nach den Feststellungen schon deshalb nicht vor, weil der Angeklagte einen in Deutschland zugelassenen Lkw gefahren hat.

Mangels eines ausreichend festgestellten Schuldumfangs fehlt dem Schuldspruch jedoch die Grundlage. Bei einer Verurteilung wegen unerlaubten Aufenthalts muss aus dem Urteil ersichtlich sein, wie lange sich der Angeklagte unerlaubt im Bundesgebiet aufgehalten hat (BayObLGSt 2001, 137/140 NJW 2002, 1282/1283). Insoweit enthält das angegriffene Urteil keine Feststellungen dazu, wann der Angeklagte in das Bundesgebiet eingereist ist und wie lange er dort schon erwerbstätig war. Derart unzureichende Feststellungen lassen weder eine Rechtsfolgenbemessung zu, noch ist im Fall der Rechtskraft nachvollziehbar, worauf sich diese erstreckt. Damit kann das Urteil in seiner Gesamtheit keinen Bestand haben.



Ende der Entscheidung

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