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Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Urteil verkündet am 22.09.2004
Aktenzeichen: 4St RR 93/04
Rechtsgebiete: AsylverfG


Vorschriften:

AsylverfG § 58 Abs. 4
1. Ein dauerndes Abschiebehindernis im Sinne des § 58 Abs. 4 AsylverfG liegt dann vor, wenn aus tatsächlichen Gründen die Abschiebung nicht möglich ist und dieser Zustand auf noch nicht absehbare, voraussichtlich längere Zeit fortbestehen wird.

2. Sind aus der Bundesrepublik in einen bestimmten Staat (hier: in den Irak) seit mehr als 10 Jahren keine Abschiebungen mehr erfolgt, so bildet dieser Umstand ein Indiz für das Bestehen eines dauerhaften Abschiebehindernisses.

3. Diese Indizwirkung kann nur durch Tatsachen beseitigt werden, die den Schluss auf eine dauerhafte Änderung der für die Durchführung von Abschiebungen maßgeblichen Umstände zulassen.


Tatbestand:

Das Amtsgericht sprach den Angeklagten, einen irakischen Staatsangehörigen, mit Urteil vom 16. März 2004 vom Vorwurf der wiederholten Zuwiderhandlung gegen eine räumliche Beschränkung nach dem Asylverfahrensgesetz frei, weil er nach § 58 Abs.4 Satz 1 Asylverfahrensgesetz wegen eines dauernden Abschiebehindernisses berechtigt gewesen sei, den Geltungsbereich der Aufenthaltsgestattung vorübergehend zu verlassen. Hiergegen wandte sich die Staatsanwaltschaft mit der Revision und rügte die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel erwies sich als unbegründet.

Gründe:

1. Das Amtsgericht hat zur Frage eines dauernden Abschiebehindernisses folgende Feststellungen getroffen: "Tatsächlich werden Abschiebungen in den Irak seit über zehn Jahren nicht vorgenommen. Es werden auch derzeit keine Abschiebungen durchgeführt. Insbesondere war nicht zu erwarten, dass vor dem kriegerischen Angriff der USA auf den Irak im März 2003, nämlich zur Tatzeit hier am 18.02.2003 eine Abschiebung zu erwarten gewesen wäre."

Das Urteil enthält über die Feststellung der Tatsache hinaus, dass keine Abschiebungen erfolgen, nichts zu der Frage, weshalb diese Abschiebungen seit über 10 Jahren unterbleiben. Auch führt das Amtsgericht nicht aus, wie es zu seinen Feststellungen gelangt ist. Sind die Urteilsgründe aber lückenhaft und enthalten sie z. B. keine Beweisgründe, bzw. Beweiswürdigung, wäre das Urteil auf die Sachrüge hin aufzuheben (vgl. Meyer-Goßner StPO 47. Aufl. § 267 Rn. 42 m.w.N.). Die Beweiswürdigung muss die Tatsachenfeststellung für das Revisionsgericht insgesamt plausibel und nachvollziehbar machen (Meyer-Goßner a.a.O. § 337 Rdn.26).

Vorliegend war jedoch eine genauere Begründung der getroffenen Tatsachenfeststellung ausnahmsweise entbehrlich. Es handelt sich hierbei nämlich um allgemeinkundige Tatsachen, die auch vom Revisionsgericht zu beachten sind (vgl. Meyer-Goßner a.a.O. § 244 Rn. 50 ff; § 337 Rn. 25) und die eine Beweiserhebung, bzw. Beweiswürdigung überflüssig machen. Es ist allgemein - auch durch Veröffentlichung in zahlreichen Gerichtsentscheidungen - bekannt, dass Abschiebungen in den Irak seit 1990 wegen tatsächlicher Abschiebungshindernisse nicht möglich waren. Auch die Staatsanwaltschaft wendet sich in ihrem Revisionsvorbringen nicht gegen diese Feststellungen, sondern lediglich gegen die vom Amtsgericht hieraus gezogenen rechtlichen Schlussfolgerungen.

2. Aufgrund der getroffenen Tatsachenfeststellungen ist das Amtsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass der Abschiebung des Angeklagten zur Tatzeit "auf Dauer" ein tatsächliches Hindernis entgegensteht, § 58 Abs.4 Satz 1 Halbsatz 2 Asylverfahrensgesetz. Bei dem Tatbestandsmerkmal "auf Dauer" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Der unbestimmte Rechtsbegriff bezeichnet im Verwaltungsrecht ein Merkmal innerhalb einer gesetzlichen Bestimmung, das aus sprachlicher Sicht für sich betrachtet keinen eindeutigen Inhalt zu haben scheint, das gewissermaßen "unscharf" ist. Erst durch Auslegung gewinnt der unbestimmte Rechtsbegriff an Schärfe. Die Auslegung schließt dabei stets eine Bewertung aller Umstände des Einzelfalles ein, in dem der Begriff konkret angewandt werden soll.

In der Kommentarliteratur zum Ausländerrecht (vgl. Renner Ausländerrecht 7.Aufl. § 58 AsylVfG Rdn.6; Hailbronner Ausländerrecht 20. Erg.-Lfg. § 58 Rdn.9; Marx Kommentar zum Asylverfahrensgesetz 3. Aufl. § 58 Rdn.25 ff;) erfolgt keine Definition des Tatbestandsmerkmals "auf Dauer". Vielmehr findet sich der immer wiederkehrende Hinweis, dass das Vorliegen dieser Voraussetzung "schwierig" bzw. "problematisch" festzustellen sei. Als Beispiele für dauernde tatsächliche Abschiebehindernisse werden die Schließung der Grenzen oder des einzigen Flughafens eines Staates oder lang dauernde schwere Krankheit des Asylbewerbers genannt. Einigkeit scheint aber darüber zu bestehen, dass "auf Dauer" jedenfalls nicht "auf Lebenszeit des Ausländers" oder gar "bis in alle Ewigkeit" oder "für immer" zu bedeuten hat (OLG Celle StV 1995, 474). Der Rechtsbegriff eines Abschiebehindernisses "auf Dauer" ist vielmehr im Gegensatz zu dem im Ausländerrecht bzw. der Rechtsprechung verwandten Begriff "vorübergehendes Abschiebehindernis" zu verstehen (vgl. VG Ansbach Urteil vom 16.12. 2003 AN 4 K03.05072), das sich dadurch auszeichnet, dass sein Wegfall in nicht allzu ferner Zukunft absehbar ist. Ein "dauerndes" Abschiebehindernis liegt dann vor, wenn zum maßgeblichen Tatzeitpunkt ein tatsächliches Abschiebungshindernis besteht und auf noch nicht absehbare, voraussichtlich längere Zeit weiter fortbestehen wird. Bei der Beurteilung der Frage, ob von einem Fortbestehen dieses Hindernisses auf unabsehbare Zeit auszugehen ist, kann auch auf die in der Vergangenheit stattgefundene Entwicklung zurückgegriffen werden. Wenn - wie im vorliegenden Fall - bereits seit über 10 Jahren keine Abschiebungen mehr erfolgt sind, spricht vieles dafür, dass eine gewisse "Verfestigung" des Zustandes eingetreten ist, die auch in die Zukunft fortwirkt, es sei denn, dass bereits konkrete gegenteilige Entwicklungen stattgefunden haben.

Das Amtsgericht hat im hier zu entscheidenden Fall zu Recht ein dauerhaftes Abschiebungshindernis bejaht. Es ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass bei der Beantwortung dieser Frage auf den 18.2.2003 abzustellen ist, also den Tag, an dem der Angeklagte den ihm zugewiesenen Bezirk verlassen hat. Die von der Revision angestellte Überlegung, mit Kriegsbeginn im März 2003 und Festnahme des Staatsoberhauptes Saddam Hussein erscheine die Möglichkeit von Abschiebungen in greifbare Nähe gerückt, trägt zur Beurteilung der Lage im Februar 2003 nichts bei, weil diese in der Zukunft liegenden Tatsachen damals noch nicht bekannt waren.

Das Amtsgericht durfte aus dem Umstand, dass seit über 10 Jahren keine Abschiebungen mehr durchgeführt werden konnten, den Schluss ziehen, es habe ein dauerhaftes Abschiebehindernis vorgelegen. Dagegen spricht auch nicht - wie von der Revision ausgeführt - dass jederzeit damit gerechnet werden konnte, dass das durch Saddam Hussein geführte Regime irgendwann die Macht abgeben oder verlieren würde. Richtig an dieser Überlegung ist zwar, dass, wie die Geschichte beweist, jede Regierung - sei sie demokratisch oder diktatorisch - irgendwann ihre Macht wieder verlieren wird. Dies spricht aber gerade nicht dagegen, dass in einer "ex-ante-Betrachtung" hinsichtlich des Saddam-Regimes von einem dauerhaften Zustand auszugehen war, da völlig ungewiss war, zu welchem Zeitpunkt dieses Regime sein Ende finden würde. Nur ergänzend sei erwähnt, dass dieses Regime nicht ausschließlich mit der Person des Saddam stehen und fallen musste, sondern dass auch die Söhne des Saddam bereits als potenzielle Nachfolger bereitstanden, so dass auch im Hinblick darauf von einer Herrschaft auf unbestimmte Dauer auszugehen war. Ein dauerhaftes Abschiebehindernis scheint bei einem ähnlich gelagerten Fall zur Tatzeit September 2000 im Übrigen auch das Bundesverfassungsgericht anzunehmen (BVerfG StV 2003, 225 - 226).

Allerdings stand im Februar 2003, also zum Tatzeitpunkt, der Ausbruch des zweiten Irakkrieges unmittelbar bevor, wobei es sich die USA zum Ziel gesetzt hatten, das gesamte Saddam-Regime zu stürzen. Zwar fehlen auch hierzu Feststellungen des Amtsgerichts; auch diese Tatsachen können vom Revisionsgericht aber als allgemeinkundig herangezogen werden. Sie führen indes nicht dazu, dass bereits im Februar 2003 konkret von einem Ende des Regimes im Irak und einem Ende des Abschiebestopps auszugehen war, weil die weitere tatsächliche Entwicklung im Februar 2003 noch nicht vorhergesehen werden konnte. Einerseits wurden zu diesem Zeitpunkt noch vielfältige diplomatische Aktivitäten entfaltet, um einen Einmarsch der USA und ihrer Verbündeter in den Irak zu verhindern. Auch schien es nicht völlig ausgeschlossen, dass das dortige Regime durch eine Auskunft über den Verbleib der angeblich gelagerten Massenvernichtungswaffen die Krise entschärft und sich am Leben erhält. Andererseits konnte aber auch niemand vorhersehen, wie sich die Lage nach einem Kriegsausbruch im Irak entwickeln würde. Zwar schien ein Sieg der USA durchaus als wahrscheinlich, die Dauer des Konfliktes war jedoch in keiner Weise konkret abzuschätzen, zumal der Einsatz von Massenvernichtungswaffen durch den Irak befürchtet wurde. Selbst bis zum heutigen Tag sind noch immer keine Abschiebungen erfolgt. Es bestand deshalb zum Tatzeitpunkt ein tatsächliches Abschiebehindernis von völlig ungewisser Dauer.

Auf die Frage, ob der Angeklagte durch seine Aufenthalte vom 11.01., 28.02 und 20.10.2001 gegen seine Aufenthaltsbeschränkung verstoßen hatte - erst hierdurch hätte der Verstoß vom 18.02.2003 zu einem "wiederholten" im Sinne der §§ 56, 85 Nr. 2 Asylverfahrensgesetz werden können - oder ob insoweit ebenfalls § 58 Abs. 4 Satz 1 Halbs. 2 Asylverfahrensgesetz zu Gunsten des Angeklagten eingegriffen hätte, kommt es daher nicht mehr an.



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