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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 30.11.2001
Aktenzeichen: BR 360/01
Rechtsgebiete: UnterbrG


Vorschriften:

UnterbrG Art. 1 Abs. 1 Satz 1
Eine Person darf nur dann nach Art. 1 Abs. 1 Satz 1 UnterbrG untergebracht werden, wenn seine Persönlichkeitsstörung für die von ihm ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung kausal ist.
Gründe:

I.

Der 53 Jahre alte Betroffene ist vielfach vorbestraft. Zuletzt wurde er am 16.1.1990 wegen sexueller Nötigung und anderem zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren zwei Monaten und am 24.4.1996 wegen sexueller Nötigung, versuchter Vergewaltigung und anderem zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren sechs Monaten verurteilt.

Im Hinblick auf seine bevorstehende Entlassung aus der Strafhaft beantragte die Kreisverwaltungsbehörde die Unterbringung des Betroffenen nach dem Gesetz über die Unterbringung psychisch Kranker und deren Betreuung (UnterbrG). Es müsse mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Betroffene weiterhin Alkoholmissbrauch betreiben und unter Alkoholeinwirkung erneut schwerwiegende Straftaten begehen werde.

Mit Beschluss vom 2.8.2001 ordnete das Amtsgericht mit sofortiger Wirksamkeit die vorläufige Unterbringung des Betroffenen in einem Bezirkskrankenhaus bis längstens 13.9.2001 sowie die Erholung eines weiteren Gutachtens an.

Nach dessen Eingang hob das Amtsgericht am 12.9.2001 die einstweilige Anordnung auf und stellte das Unterbringungsverfahren ein. Gemäß dem Gutachten vom 5.9.2001 seien die Voraussetzungen für eine Unterbringung des Betroffenen auf der Grundlage des Unterbringungsgesetzes nicht gegeben.

Die sofortige Beschwerde der Kreisverwaltungsbehörde ist vom Landgericht mit Beschluss vom 25.9.2001 zurückgewiesen worden.

Hiergegen wendet sich die Kreisverwaltungsbehörde mit der sofortigen weiteren Beschwerde.

II.

Das zulässige Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

1. Das Landgericht hat seine Entscheidung, teils durch Bezugnahme auf den angefochtenen amtsgerichtlichen Beschluss und das Sachverständigengutachten vom 5.9.2001, wie folgt begründet:

Der Betroffene leide an keiner psychischen Erkrankung. Die festgestellte Intelligenzminderung sei forensisch nicht relevant. Aufgrund der diagnostizierten dissozialen Persönlichkeitsstörung sei zwar von einer negativen Prognose hinsichtlich der Delinquenz auszugehen. Die psychische Störung habe jedoch keinen pathologischen Hintergrund und sei nicht so schwerwiegend, dass sie die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Betroffenen herabsetzen würde. Ferner bestehe zwar der Verdacht auf eine Alkoholabhängigkeit. Ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Alkoholkonsum des Betroffenen mit einem eventuellen Alkoholmissbrauch sowie einer eventuellen Alkoholabhängigkeit und den Sexualstraftaten sowie der überwiegenden Mehrzahl der vom Betroffenen sonst begangenen Delikte sei aber nicht gegeben gewesen. Die vom Gesetz vorausgesetzte Bindung der Gefährlichkeit des Betroffenen an eine definierte psychische Störung lasse sich demnach nicht konstatieren.

2. Die Entscheidung des Landgerichts hält der rechtlichen Nachprüfung stand (§ 27 Abs. 1 FGG, § 550 ZPO).

a) Nach dem bayerischen Unterbringungsgesetz kann gegen oder ohne seinen Willen in einem psychiatrischen Krankenhaus oder sonst in geeigneter Weise untergebracht werden, wer psychisch krank oder infolge Geistesschwäche oder Sucht psychisch gestört ist und dadurch in erheblichem Maß die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 UnterbrG), ohne dass die Gefährdung durch weniger einschneidende Mittel abgewendet werden kann (Art. 1 Abs. 1 Satz 3 UnterbrG).

Inhalt und Reichweite dieser Rechtsgrundlage für eine Freiheitsentziehung sind so auszulegen, dass sie der Bedeutung der Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 GG gerecht werden (vgl. BVerfG NJW 1998, 1774; BayObLGZ 1999, 216/217). Die Freiheit der Person ist ein so hohes Rechtsgut, dass sie nur aus besonders gewichtigem Grund angetastet werden darf (vgl. BVerfG NJW 1998, 1774/1775), d. h. wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten (vgl. BVerfG NJW 1984, 1806). Der dem gemäß streng zu beachtende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfG NJW 1998, 1774/1775; BayVerfGH 45, 125/132) ist zentrales Auslegungskriterium für die einzelnen Unterbringungsvoraussetzungen, setzt den Maßstab für die Aufklärung des Sachverhalts und verlangt eine Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalles, bei der die vom Betroffenen ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Unterbringung verbundenen Eingriffs in seine persönliche Freiheit ins Verhältnis zu setzen sind (vgl. BverfGE 70, 297/313; BayObLGZ 1999, 216/217 f.).

aa) Für den Begriff der psychischen Krankheit gibt es keine allgemein anerkannte Definition. Im Sinne des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 UnterbrG erfasst er alle Arten geistiger Abnormität, alle psychischen Abweichungen von der Norm, gleichgültig, welche Ursache sie haben oder wie sie zustande gekommen sind (vgl. BayLT-Drucks. 9/2431 S. 16; Zimmermann Bayerisches Unterbringungsgesetz Art. 1 Rn. 2). Es muss nicht eine Geisteskrankheit oder echte Psychose im medizinischen Sinn vorliegen (vgl. Zimmermann aaO), vielmehr fallen unter den genannten Begriff auch die sog. Psychopathien, d. h. Störungen des Willens-, Gefühls- und Trieblebens, welche die bei einem normalen und geistig reifen Menschen vorhandenen, zur Willensbildung befähigenden Vorstellungen und Gefühle beeinträchtigen (vgl. BayLT-Drucks. 9/2431 S. 16; Zimmermann aaO).

Eine psychische Störung infolge von Alkoholsucht liegt vor, wenn der Betroffene unter dem inneren Zwang steht, im Übermaß Alkohol zu sich zu nehmen, und die Kraft verloren hat, diesem Zwang zu nicht mehr kontrolliertem Genuss alkoholischer Getränke zu widerstehen (vgl. BayObLGZ 1986, 224/228; Marschner/Volckart Freiheitsentziehung und Unterbringung 4. Aufl. Kap. B Rn. 110).

Um zu vermeiden, dass in unverhältnismäßiger Weise in die Freiheit des Betroffenen eingegriffen wird, ist dessen psychische Krankheit bzw. psychische Störung fachpsychiatrisch zu konkretisieren (vgl. BayObLG NJW 1992, 2100/2101). Ferner ist erforderlich, dass der Persönlichkeitsstörung ein die Freiheitsentziehung rechtfertigender Schweregrad zukommt (vgl. BVerfG NJW 1984, 1806; BayObLGZ 1999, 216/218; Marschner/Volckart Kap. A Rn. 27, 103, 114; Kap. B Rn. 111, 112).

bb) Die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ist in erheblichem Maß gefährdet, wenn mit der Beeinträchtigung eines entsprechenden Rechtsguts mit hoher Wahrscheinlichkeit und jederzeit zu rechnen ist und die Schutzwürdigkeit des gefährdeten Rechtsguts der Schwere des mit einer Unterbringung verbundenen Eingriffs in die persönliche Freiheit entspricht (BayObLGZ 1999, 216/218).

cc) Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung muss aus der psychischen Krankheit oder der auf Geistesschwäche oder Sucht beruhenden psychischen Störung des Betroffenen resultieren, die Persönlichkeitsstörung des Betroffenen muss für die von ihm ausgehende Gefahr kausal sein (vgl. Alperstedt BtPrax 2000, 149/152; Marschner/Volckart Kap. B Rn. 116, 142). Ursächlicher Zusammenhang in diesem Sinne setzt voraus, dass die psychische Krankheit bzw. psychische Störung die Einsichts-, Urteils- oder Steuerungsfähigkeit des Betroffenen so erheblich beeinträchtigt, dass er seinen Willen in Bezug auf ein die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdendes Verhalten nicht mehr frei bestimmen kann (vgl. BayObLG FamRZ 1998, 1327/1328; Marschner/Volckart Kap. B Rn. 142).

b) Die Beurteilung, ob der ermittelte medizinische Sachverhalt die gesetzlichen Begriffe der psychischen Krankheit oder der auf Geistesschwäche oder Sucht beruhenden psychischen Störung ausfüllt, ob der Betroffene infolge der psychischen Krankheit oder psychischen Störung die öffentliche Sicherheit oder Ordnung erheblich gefährdet und ob seine zwangsweise Unterbringung deshalb erforderlich ist, obliegt dem Tatrichter. Das Rechtsbeschwerdegericht kann dessen Beurteilung nur auf Rechtsfehler überprüfen, d. h. dahin, ob der Tatrichter die in Art. 1 Abs. 1 UnterbrG enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe verkannt hat, von ungenügenden oder verfahrenswidrig zustande gekommenen Feststellungen ausgegangen ist, wesentliche Umstände außer acht gelassen, der Bewertung maßgeblicher Umstände unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt, gegen die Denkgesetze verstoßen oder Erfahrungssätze nicht beachtet hat (vgl. BayObLGZ 1999, 216/218 f.).

c) Solche Rechtsfehler der Beschwerdeentscheidung sind nicht ersichtlich.

Das Landgericht hat den entscheidungserheblichen Sachverhalt verfahrensfehlerfrei festgestellt, weshalb der Senat bei der materiell-rechtlichen Überprüfung der angefochtenen Entscheidung von den Tatsachenfeststellungen des Landgerichts auszugehen hat (§ 27 Abs. 1 Satz 1 FGG, § 561 ZPO; vgl. BayObLGZ 1999, 17/20). Für die Kammer bestand insbesondere kein Anlass zur Einholung eines weiteren Gutachtens (§ 12 FGG). Vielmehr stellte das psychiatrische Gutachten vom 5.9.2001 eine tragfähige Grundlage für die Entscheidung über die sofortige Beschwerde der Kreisverwaltungsbehörde dar. An der Sachkunde des Gutachters, eines an einem Bezirksklinikum als Oberarzt tätigen Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie, brauchte die Kammer keine Zweifel zu hegen. Die Anforderungen an die juristischen Begriffe der psychischen Krankheit bzw. der auf Geistesschwäche oder Sucht beruhenden psychischen Störung sind dem Sachverständigen aufgrund seiner beruflichen Erfahrung ersichtlich geläufig. Die Folgerungen des Sachverständigen beruhen auf einer breiten Tatsachenbasis, insbesondere auf einer eigenen Exploration und Verhaltensbeobachtung des Betroffenen sowie auf früher erstellten Gutachten. Sie knüpfen an die sich daraus ergebenden Befundtatsachen an und legen deren Auswirkungen auf die Willensbildung des Betroffenen umfassend, widerspruchsfrei und einleuchtend dar. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin kann das Gutachten auch nicht deshalb als unzureichend angesehen werden, weil dem Sachverständigen die Strafakten über die Verfahren, die zu den Verurteilungen des Betroffenen wegen der Sexualdelikte geführt haben, nur auszugsweise zur Verfügung standen. Die für die Begutachtung wichtigsten Aktenbestandteile, die in dem letzten Verfahren erstellten Gutachten, waren dem Sachverständigen bekannt. Wie der Senat im Rahmen der Überprüfung der angefochtenen Entscheidung auf Verfahrensfehler festgestellt hat, ergeben sich aus den Akten keine wesentlichen zusätzlichen Erkenntnisse. Die Antragstellerin hat auch selbst keine entsprechenden Hinweise gegeben.

Keinen rechtlichen Bedenken begegnet die Würdigung des Landgerichts, dass es bei dem Betroffenen an der für eine Unterbringung erforderlichen Kausalität zwischen der diagnostizierten dissozialen Persönlichkeitsstörung und der prognostizierten Gefahr weiterer Delinquenz fehle. Die psychische Störung hat nach den verfahrensfehlerfreien Feststellungen keinen pathologischen Hintergrund und ist nicht so schwerwiegend, dass sie die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Betroffenen herabsetzen würde. Hieraus durfte das Landgericht den Schluss ziehen, dass eine mögliche weitere Delinquenz des Betroffenen ihre Ursache nicht in dieser Persönlichkeitsstörung hat. Ebenso durfte die Kammer einen kausalen Zusammenhang zwischen einer möglichen Alkoholabhängigkeit des Betroffenen und der Gefahr, der Betroffene werde eventuell weitere Sexualdelikte begehen, verneinen. Eine Alkoholabhängigkeit im Sinn einer Sucht, die in diesem Fall Voraussetzung einer Unterbringung wäre, konnte der Gutachter gerade nicht feststellen. Dies deckt sich im übrigen mit den Ausführungen in dem letzten gegen den Betroffenen ergangenen Strafurteil, das ebenfalls davon ausgeht, dass bei dem Betroffenen Alkoholabhängigkeit nicht gegeben sei. Soweit der Gutachter ausführt, dass, eine Alkoholabhängigkeit unterstellt, diese keine relevanten Auswirkungen auf die Begehung der seinerzeitigen Sexualstraftaten gehabt habe, wird dies durch die Feststellungen in dem letzten Strafurteil nicht in Frage gestellt. Besteht jedoch kein innerer Zusammenhang zwischen einer eventuellen Alkoholabhängigkeit und der Begehung von Straftaten, fehlt es an der für eine Unterbringung notwendigen Kausalität.

Ende der Entscheidung

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