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Beginn der Entscheidung

Gericht: Brandenburgisches Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 05.03.2007
Aktenzeichen: 9 UF 214/06
Rechtsgebiete: ZPO, BGB


Vorschriften:

ZPO § 517
ZPO § 520 Abs. 2 S. 1
ZPO § 567 Abs. 1
ZPO § 620 b
ZPO § 620 c
ZPO § 620 e
ZPO § 621 Abs. 1 Nr. 3
ZPO § 621 e S. 1
ZPO § 621 e Abs. 3 S. 1
ZPO § 621 e Abs. 3 S. 2
BGB § 1632 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Brandenburgisches Oberlandesgericht Beschluss

9 UF 214/06 Brandenburgisches Oberlandesgericht

In der Familiensache

betreffend die Herausgabe des minderjährigen Kindes S... R..., geboren am ... 1996,

hat der 1. Senat für Familiensachen des Brandenburgischen Oberlandesgerichts durch die Richterinnen am Oberlandesgericht Dr. Werr und Rohrbach-Rödding und den Richter am Oberlandesgericht Götsche auf das als befristete Beschwerde zu wertende Rechtsmittel des Antragstellers vom 16. November 2006 gegen den Beschluss des Amtsgerichts Senftenberg vom 3. November 2006

am 5. März 2007

beschlossen:

Tenor:

Die befristete Beschwerde des Antragstellers vom 16. November 2006 gegen den Beschluss des Amtsgerichts Senftenberg vom 3. November 2006 (32 F 308/06) wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Antragsteller zu tragen.

Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 3.000 € festgesetzt.

Gründe:

I.

Zwischen den Kindeseltern, die am 15. September 1995 die Ehe miteinander eingingen, aus der das betroffene Kind stammt, ist unter dem Aktenzeichen 32 F 260/05 beim Amtsgericht Senftenberg das Ehescheidungsverfahren anhängig. Im Rahmen dieses Verbundverfahrens beantragte die Kindesmutter mit Antragsschrift vom 13. September 2006 den Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Gewährung eines Umgangsrechts für das seit der Trennung der Kindeseltern im März 2004 beim Kindesvater lebende betroffene Kind. Über diesen Antrag beschloss das Amtsgericht Senftenberg am 14. September 2006 nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden zu wollen und beraumte einen Termin auf den 27. September 2006 an. In diesem Termin wurden das Kind und eine Vertreterin des zuständigen Jugendamtes angehört, wo nach die Parteien eine Vereinbarung zum Umgangsrecht der Kindesmutter, sowohl turnusmäßig wie auch hinsichtlich der Herbstferien 2006, schlossen sowie ihr (gemeinsames) Aufenthaltsbestimmungsrecht dahingehend ausübten, dass sie darin übereinstimmten, dass S... weiterhin seinen Aufenthalt beim Vater haben sollte. Diese Vereinbarung wurde familiengerichtlich genehmigt.

Während des in der hier vorstehend genannten Vereinbarung festgelegten Besuchs des betroffenen Kindes bei der Mutter in den Herbstferien, dem ersten Kontakt zwischen Mutter und Kind seit mehr als zwei Jahren, äußerte S..., nicht mehr in den väterlichen Haushalt zurückkehren zu wollen. Die Kindesmutter wandte sich darauf hin zunächst an das für sie örtlich zuständige Jugendamt, um sich Rat bezüglich ihres weiteren Vorgehens einzuholen. Außerdem teilte der Junge seinen Wunsch, im mütterlichen Haushalt zu bleiben, telefonisch dem Vater mit, der daraufhin ankündigte es, zum verabredeten Übergabetermin am 15. Oktober 2006 ggf. auch gegen seinen Willen abholen zu wollen. Die Kindesmutter entschloss sich daher, S... trotz dessen Widerstandes nach L... zurückzubringen, wobei das betroffene Kind auf der Fahrt mehrfach ankündigte, bei nächster Gelegenheit aus dem väterlichen Haushalt weglaufen und zur Mutter zurückkehren zu wollen. Daraufhin bat die Kindesmutter in der Polizeistation L... um Unterstützung bei der Übergabe; als es den Polizeibeamten ebenfalls nicht gelang, S... von seiner Meinung abzubringen, und das Kind sich vor der Wohnung des Vaters weigerte, das Auto der Mutter zu verlassen, fuhr diese nach einem Gespräch mit dem Kindesvater zu ihrem Wohnort in N... zurück, wo S... seither bei ihr lebt und die Schule besucht.

Mit Schriftsatz vom 19. Oktober 2006 stellte der Kindesvater beim Amtsgericht Senftenberg einen Antrag auf Herausgabe des Kindes, ggf. auch unter Gewaltanwendung, und begründete sein Begehren damit, dass die Kindesmutter ihm den gemeinsamen Sohn unter Verstoß gegen die geschlossene Vereinbarung widerrechtlich vorenthalte. Das Amtsgericht bestellte zunächst die Verfahrenspflegerin und bestimmte einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 3. November 2006. An diesem Tag hörte die Amtsrichterin das Kind S... an, das sich nachdrücklich dahingehend äußerte, nicht in den väterlichen Haushalt zurückkehren zu wollen; der Vater habe ihn oft angeschrieen und seine Telefonate mit der Mutter mitgehört und sich abfällig über sie geäußert. Außerdem sei am 20. September 2006 von der jetzigen Lebensgefährtin des Vaters eine kleine Schwester geboren worden, um die sich nun alles drehe. Zudem wiederholte er seine Ankündigung, notfalls vom Vater weglaufen zu wollen. In der Anhörung der übrigen Beteiligten befürwortete die Verfahrenspflegerin und die Vertreterin des Jugendamtes einen Verbleib des betroffenen Kindes im mütterlichen Haushalt und beantragten die Zurückweisung des Herausgabeantrages.

Mit am selben Tag verkündetem Beschluss des Amtsgerichts Senftenberg den Antrag des Kindesvaters auf Herausgabe des Kindes zurückgewiesen und die Vereinbarung der Kindeseltern vom 27. September 2006 bezüglich des Aufenthaltsbestimmungsrechtes außer Vollzug gesetzt. Zur Begründung hat das Amtsgericht im Wesentlichen ausgeführt, das Herausgabebegehren des Kindesvaters sei unbegründet. Angesichts des von S... sehr nachdrücklich geäußerten Willens widerspreche es dem Kindeswohl, ihn unter Zwang in den väterlichen Haushalt zurückzuführen.

Gegen diese ihm am 24. November 2006 zugestellte Entscheidung hat der Kindesvater eingehend beim Amtsgericht Senftenberg am 16. November 2006 sowie beim Brandenburgischen Oberlandesgericht am 27. Dezember 2006 Beschwerde eingelegt, mit der er sein erstinstanzliches Begehren weiterverfolgt und sein Rechtsmittel mit Schriftsatz vom 5. Dezember 2006 im Wesentlichen dahingehend begründet, dass die familiengerichtlich genehmigte Vereinbarung der Kindeseltern bindend sei und nicht von einem abweichenden Willen des Kindes abhängig gemacht werden könne. Es sei Aufgabe der Kindesmutter, entsprechend auf das Kind einzuwirken, was diese unterlassen habe. Im Übrigen sei im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens der Kindeswillen durch das Amtsgericht und die Verfahrenspflegerin nicht hinreichend ermittelt und hinterfragt worden.

Die Kindesmutter hat die angefochtene Entscheidung unter Hinweis darauf, dass der Kindesvater den Sohn seit seinem Aufenthalt bei ihr massiv zu einer Rückkehr zu beeinflussen versuche, verteidigt.

Das beteiligte Jugendamt und die Verfahrenspflegerin erhielten im Rahmen des Beschwerdeverfahrens Gelegenheit zur Stellungnahme; in diesem Zusammenhang hat sich die Verfahrenspflegerin für eine Zurückweisung der Beschwerde ausgesprochen.

II.

Das Rechtsmittel des Antragstellers ist als befristete Beschwerde nach § 621 e S. 1 ZPO statthaft, da es sich gegen eine Endentscheidung in einer Familiensache gemäß § 621 Abs. 1 Nr. 3 ZPO richtet. Wenngleich die familiengerichtlich genehmigte Vereinbarung der Kindeseltern vom 27. September 2006, die im Rahmen eines dem Scheidungsverbund zugehörigen einstweiligen Anordnungsverfahrens geschlossen wurde, der Hintergrund des vorliegenden Rechtsstreits bildet, ist diese Auseinandersetzung dennoch vom Amtsgericht als selbständige Herausgabesache behandelt und durch die angefochtene Entscheidung ersichtlich - wie sich bereits an dem Kostenausspruch zeigt - als Endentscheidung erstinstanzlich abgeschlossen worden. Die Beschwerdeberechtigung des sorgeberechtigten Antragstellers steht außer Frage, nachdem sein Antrag auf Herausgabe des betroffenen Kindes zurückgewiesen wurde. Sein Rechtsmittel ist außerdem form- und fristgerecht im Sinne der §§ 621 e Abs. 3 S. 1 und 2, 517 ZPO eingelegt und gemäß §§ 621 e Abs. 3 S. 2, 520 Abs. 2 S. 1 ZPO begründet worden und folglich zulässig.

Die befristete Beschwerde führt in der Sache jedoch nicht zum Erfolg. Das Amtsgericht hat das Herausgabebegehren des Kindesvaters zu Recht zurückgewiesen. Die Voraussetzungen des § 1632 Abs. 1 BGB liegen nicht vor.

Nach der genannten Vorschrift hat derjenige, dem - wie vorliegend dem Kindesvater - die Personensorge für ein Kind zusteht, das Recht die Herausgabe des Kindes zu verlangen. Üben die Kindeseltern die Personensorge gemeinsam aus, so kann dennoch einer von ihnen den erforderlichen Antrag auf Herausgabe allein stellen, wenn der anderen Elternteil zur Mitwirkung nicht bereit ist (vgl. OLG Celle, FamRZ 1970, 201), wovon in denjenigen Fällen, in denen sich der Herausgabeanspruch gerade gegen den anderen Elternteil richtet, auszugehen ist.

Herausgabepflichtig ist hingegen nur derjenige andere Elternteil oder ein Dritter, der dem Berechtigten das Kind widerrechtlich vorenthält, also wer es ohne rechtfertigenden Grund in seiner unmittelbaren oder mittelbaren Gewalt hat und die Wiedererlangung durch den Berechtigten verhindert (vgl. Palandt-Diederichsen, BGB, 65. Auflage, § 1632 Rn. 5 m.w.N.; Oelkers in: Handbuch des Fachanwalts für Familienrecht, 3. Auflage, 4. Kapitel, Rn. 795 m.w.N.). Im Verhältnis zweier sorgeberechtigter Elternteile zu einander ist insoweit ausschließlich das Kindeswohl oberstes Gebot und alleinige Richtschnur für ein Herausgabeverfahren (vgl. OLG Düsseldorf, FamRZ 1974, 99; OLG Hamburg, FamRZ 1993, 1937), das unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles zu ermitteln ist. Dies gilt umso mehr, als in derartigen Fällen davon auszugehen ist, dass die Kindeseltern miteinander zerstritten sind. Zwar dient die Anordnung der Herausgabe eines Kindes der Durchsetzung des Personensorgerechts, sie ist aber keine bloße Vollstreckungsmaßnahme, die ohne sachliche Prüfung allein auf das Sorgerecht abstellt. Bei einer Entscheidung nach § 1632 Abs. 1 BGB sind deshalb neue, auch nach einer zuvor getroffenen Regelung zu Tage getretene, das Kindeswohl nachhaltig berührende Umstände, die eine Abänderung erforderlich machen, zu berücksichtigen. Es muss deshalb selbst ein vom anderen Elternteil verbrachtes Kind ohne Rücksicht auf dessen Wohl nicht ohne weiteres wieder herausgegeben werden (so Kammergericht NJW 1970, 149). Deshalb fehlt es an einem widerrechtlichen Vorenthalten, wenn das Herausgabeverlangen selbst einen Rechtsmissbrauch darstellt, was dann anzunehmen ist, wenn Anlass zu der Befürchtung besteht, dass das Kind durch die Trennung und den Umgebungswechsel einen gesundheitlichen oder seelischen Schaden erleiden würde (BayObLG, FamRZ 1990, 1379).

Gemessen an den vorstehenden Maßstäben hat das Amtsgericht in der angefochtenen Entscheidung zu Recht nicht auf die von den Eltern geschlossene Vereinbarung abgestellt und bei der vielmehr gebotenen Prüfung des Kindeswohls eine zutreffende Abwägung vorgenommen. In diesem Zusammenhang kommt sehr wohl - entgegen der vom Beschwerdeführer vertretenen Auffassung - dem Kindeswillen eine erhebliche Bedeutung zu. Der Junge hat sich nicht nur gegenüber der Beschwerdegegnerin, sondern auch gegenüber sämtlichen mit der Sache befassten Dritten, etwa der Verfahrenspflegerin, den Mitarbeitern des Jugendamtes, den eingeschalteten Polizeibeamten, der Amtsrichterin und nicht zuletzt auch seinem Vater selbst gegenüber, konstant und mit für sein Alter erstaunlich klarer Begründung für einen Aufenthalt im mütterlichen Haushalt ausgesprochen. Selbst für die Tatsache, dass er sich bei seiner gerichtlichen Anhörung vor Abschluss der Vereinbarung der Eltern vom 27. September 2006 noch nicht für die Mutter entscheiden konnte, hat er eine nachvollziehbare Erklärung abgegeben, nämlich zunächst nach mehrjähriger Unterbrechung den ersten Kontakt mit der Mutter abwarten und deren Umfeld in Augenschein nehmen zu wollen. Nachdem dies während der Herbstferien geschehen war, hat er unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, nicht zum Vater zurückzuwollen, nachdem er sich wegen dessen häufigen Anschreiens und der negativen Darstellung der Mutter zu fürchten angab. Selbst dem Umstand, dass sich infolge der Geburt eines weiteren Kindes im September 2006 die familiäre Situation im Haushalt des Vaters aus nahe liegenden Gründen verändert hat, schilderte der zehneinhalb Jahre alte Junge mit bemerkenswerter Klarheit und Offenheit. Dass er sich neben einem weiteren Kind der Lebensgefährtin des Vaters und dem Baby zurückgesetzt vorkam, stellt nichts Ungewöhnliches dar und mag seine Entscheidung beeinflusst haben. Die Festigkeit mit der er seine Ansicht allen Beteiligten gegenüber vertreten hat, offenbart in Verbindung mit seiner Ankündigung, ggf. wegzulaufen, um zur Mutter zurückkehren zu können, dass seine zwangsweise Rückführung in den väterlichen Haushalt mit dem Kindeswohl nicht vereinbar erscheint. Vielmehr wäre im Falle es erneuten Umgebungswechsels vor abschließender Entscheidung über das Sorgerecht im Rahmen des Scheidungsverbundsverfahrens zu befürchten, dass S... einen seelischen Schaden erleiden würde.

Soweit der Beschwerdeführer die seines Erachtens unzureichende und unreflektierte Ermittlung des Kindeswillens im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens rügt, kann dies nicht nachvollzogen werden. Selbst wenn die Verfahrenspflegerin in Anbetracht der Eilbedürftigkeit der Sache vor dem Anhörungstermin am 3. November 2006 nur Gelegenheit hatte, das Kind allein auf dem Gerichtsflur zu sprechen, so kann doch nicht übersehen werden, dass die Amtsrichterin ausweislich der Niederschrift hierzu eine längere und intensive Unterredung mit dem Kind geführt hat, an der die Verfahrenspflegerin gleichfalls teilnahm. Damit bestand ausreichend Gelegenheit, den Willen des sich offen und stringent äußernden Kindes zu erkunden. Seiner erneuten Anhörung durch den Senat bedürfte es wegen des geringen zeitlichen Abstandes zu der erstinstanzlichen nicht, da neue Erkenntnisse nicht zu erwarten waren.

Soweit das Amtsgericht in der angefochtenen Entscheidung nicht nur über das Herausgabeverlangen des Kindesvaters befunden hat, sondern außerdem die Aussetzung der Vollziehung der familiengerichtlich genehmigten Vereinbarung der Kindeseltern zum Aufenthaltsbestimmungsrecht anordnete, ist hierfür zwar eine Rechtsgrundlage nicht erkennbar. Die Vereinbarung wurde im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens geschlossen, steht jedoch auf Grund ihrer Genehmigung durch das Familiengericht einer gerichtlichen Entscheidung zum einstweiligen Rechtsschutz gleich. Insoweit kommt eine Aussetzung der Vollziehung aber nur nach § 620 e ZPO in Betracht, das heißt bei Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 620 b bzw. 620 c ZPO. Beides ist jedoch nicht gegeben. Die insoweit getroffene Entscheidung ist indes nach § 567 Abs. 1 ZPO unanfechtbar (vgl. Zöller-Philippi, ZPO, 26. Auflage, § 620 e Rn. 4 m.w.N.).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 131 Abs. 1 Nr. 1 KostO, 13 a Abs. 1 S. 2 FGG.

Die Festsetzung des Beschwerdewerts beruht auf §§ 94 Abs. 2 S. 1, 30 Abs. 2 und 3, 131 Abs. 2 KostO.

Ende der Entscheidung

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