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Beginn der Entscheidung

Gericht: Brandenburgisches Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 06.04.2006
Aktenzeichen: 1 AR 12/06
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 36
ZPO § 37
ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6
ZPO § 36 Abs. 2
ZPO § 281 Abs. 2 Satz 2
ZPO § 281 Abs. 2 Satz 4
ZPO § 281
ZPO § 29
ZPO § 35
ZPO § 486 Abs. 2
ZPO § 12
ZPO § 17
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Brandenburgisches Oberlandesgericht

Beschluss

1 AR 12/06

In dem selbständigen Beweisverfahren

hat der 1. Zivilsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts durch den Richter am Oberlandesgericht Tombrink, die Richterin am Oberlandesgericht Feles und die Richterin am Landgericht Behnert am 6. April 2006 beschlossen:

Tenor:

Der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Eberswalde vom 10. November 2005 und der zuständigkeitsverneinende Beschluss des Landgerichts Osnabrück vom 23. Februar 2006 werden aufgehoben. Die Sache wird zur weiteren Sachbehandlung an das Amtsgericht Eberswalde zurückgegeben.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin, die im Bezirk des Landgerichts Osnabrück ansässig ist, hat bei dem Amtsgericht Eberswalde einen Antrag auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens betreffend von ihr behauptete Mängel an den von der Antragsgegnerin durchgeführten Elektroarbeiten im Gebäude ...straße 30 in E... eingereicht. Die Antragsgegnerin hat ihren Sitz ebenfalls im Bezirk des Landgerichts Osnabrück. Mit Verfügung vom 24. Oktober 2005 hat das Amtsgericht Eberswalde Bedenken gegen seine sachliche Zuständigkeit mitgeteilt und angefragt, ob die Antragstellerin einen Antrag auf Verweisung an das Landgericht Frankfurt (Oder) stelle. Mit Schriftsatz vom 26. Oktober 2005 hat die Antragstellerin sinngemäß einen Antrag auf Verweisung des Verfahrens an das Landgericht Frankfurt (Oder) gestellt. Mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2005 hat die Antragsgegnerin die örtliche Unzuständigkeit des Amtsgerichts Eberswalde gerügt und ausgeführt, dass die Parteien die Zuständigkeit des Landgerichts Osnabrück vereinbart hätten; sie hat beantragt, die Sache an das Landgericht Osnabrück abzugeben. Hierauf hat das Amtsgericht Eberswalde der Antragstellerin Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Tagen (bis zum 7. November 2005) gegeben. Mit Be-schluss vom 10. November 2005 hat das Amtsgericht Eberswalde sich für örtlich (und sachlich) unzuständig erklärt und das Verfahren an das Landgericht Osnabrück verwiesen. Mit Eingang vom 11. November 2005 hat die Antragstellerin bestritten, dass die Parteien die Zuständigkeit des Landgerichts Osnabrück vereinbart hätten, und mitgeteilt, dass das Verfahren vor dem Landgericht Frankfurt (Oder) durchgeführt werden solle. Diesen Standpunkt hat sie mit Schriftsatz vom 12. Januar 2006 aufrecht erhalten. Die Antragsgegnerin hat mit Schriftsatz vom 20. Januar 2006 entgegnet, dass "die Sache abgegeben werden" möge, wenn die Gerichtsstandsvereinbarung bestritten werde. Mit Beschluss vom 23. Februar 2006 hat sich das Landgericht Osnabrück für örtlich unzuständig erklärt und die Sache dem Oberlandesgericht Oldenburg vorgelegt. Dieses hat das Ersuchen des Landgerichts Osnabrück unter Hinweis auf seine fehlende Zuständigkeit nach §§ 36, 37 ZPO mit Beschluss vom 1. März 2006 zurückgewiesen (5 AR 9/06). Hierauf hat das Landgericht Osnabrück das Verfahren mit Beschluss vom 8. März 2006 dem Brandenburgischen Oberlandesgericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.

II.

1. Der Zuständigkeitsstreit ist gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 2 ZPO durch das Brandenburgische Oberlandesgericht zu entscheiden, weil das zu seinem Bezirk gehörende Amtsgericht Eberswalde unter den Zuständigkeitsstreit beteiligten Gerichten zuerst mit der Sache befasst gewesen ist.

§ 36 ZPO ist anerkanntermaßen auch auf Zuständigkeitsbestimmungen im selbständigen Beweisverfahren anwendbar (s. etwa OLG Frankfurt am Main, NJW-RR 1998, S. 1610; OLG Zweibrücken, NJW-RR 2000, S. 1084; BayObLG, NJW-RR 1998, S. 209; NJW-RR 1999, S. 1010; Zöller/Vollkommer, ZPO, 25. Aufl. 2005, § 36 Rdn. 2; Baumbach/Hartmann, ZPO, 64. Aufl. 2006, § 36 Rdn. 6; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, 27. Aufl. 2005, § 36 Rdn. 1; Musielak/Heinrich, ZPO, 4. Aufl. 2005, § 36 Rdn. 4).

2. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen vor. Sowohl das Amtsgericht Eberswalde als auch das Landgericht Osnabrück haben sich im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO rechtskräftig für unzuständig erklärt, nämlich das Amtsgericht Eberswalde durch nach § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 10. November 2005 und das Landgericht Osnabrück durch die seine Zuständigkeit abschließend verneinende Entscheidung vom 23. Februar 2006, die als solche den Anforderungen genügt, die an das Merkmal "rechtskräftig" im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu stellen sind, weil es insoweit allein darauf ankommt, dass eine den Parteien bekannt gemachte ausdrückliche beiderseitige Kompetenzleugnung vorliegt (vgl. BGHZ Bd. 102, S. 338, 340; Bd. 104, S. 363, 366; BGH NJW 2002, S. 3634, 3635; Senat, OLGR 2005, S. 1004 f.; OLG-NL 2005, S. 16, 17; NJW 2004, S. 780; OLG-NL 2001, S. 70 und S. 214; Zöller/Vollkommer, a.a.O., Baumbach/Hartmann, a.a.O., § 36 Rdn. 36; Thomas/Putzo/Hüßtege, a.a.O., § 36 Rdn. 23).

3. Der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Eberswalde vom 10. November 2005 ist klarstellend aufzuheben. Die Verweisung erweist sich als objektiv willkürlich, sodass ihr keine Bindungswirkung nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO zukommt.

§ 281 ZPO ist für das selbständige Beweisverfahren anwendbar (s. OLG Frankfurt am Main, NJW-RR 1998, S. 1610; Baumbach/Hartmann, a.a.O., § 281 Rdn. 11; Thomas/Putzo/Reichold, a.a.O., § 281 Rdn. 1; Musielak/Foerste, a.a.O., § 281 Rdn. 2).

Die Bindungswirkung nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO entfällt - ausnahmsweise - bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und bei objektiver Willkür, die etwa dann gegeben sein kann, wenn die Verweisung offenbar gesetzeswidrig oder sonst grob rechtsfehlerhaft erfolgt ist (s. BGHZ Bd. 71, S. 69, 72; Bd. 102, S. 338, 341; BGH NJW 1993, S. 1273; NJW 2002, S. 3634, 3635; BayObLG, NJW-RR 2000, S. 589; Senat, a.a.O.; Zöller/Greger, a.a.O., § 281 Rdn. 17, 17 a m.w.Nw.; Baumbach/Hartmann, a.a.O., § 281 Rdn. 39 ff. m.w.Nw.; Thomas/Putzo/Reichold, a.a.O., § 281 Rdn. 12). Der Anspruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist zwar beachtet worden. Die Verweisungsentscheidung des Amtsgerichts Eberswalde ist jedoch objektiv willkürlich, weil sie entgegen dem ausdrücklichen Antrag der Antragstellerin ergangen ist.

Im Interesse an einer baldigen Klärung der Gerichtszuständigkeit und der Vermeidung von wechselseitigen (Rück-)Verweisungen zwischen Gerichten sind an die Annahme einer objektiven Willkür allerdings im Allgemeinen strenge Anforderungen zu stellen. Der Gesetzgeber hat sich für die grundsätzliche Bindungswirkung und Unanfechtbarkeit von - auch: fehlerhaften - Verweisungsbeschlüssen entschieden (§ 281 Abs. 2 Satz 2 und 4 ZPO). Deshalb kann objektive "Willkür" nur unter bestimmten - engen - Voraussetzungen bejaht werden, und zwar dann, wenn die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) eine Durchbrechung der Bindungswirkung erfordert (s. Senat, NJW 2004, S. 780; OLGR 2005, S. 1004, 1005). Einfache Rechtsfehler genügen daher für die Annahme der Willkür nicht (BGH NJW-RR 1992, S. 902, 903; NJW 1993, S. 1273 und S. 2810; NJW-RR 1994, S. 126; NJW 2003, S. 3201 f.; BayObLGZ 1991, S. 387, 389; BayObLG, NJW-RR 2000, S. 589; NJW-RR 2001, S. 646, 647; Senat, ebd.; Zöller/Greger, a.a.O., § 281 Rdn. 17; Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 36 Rdn. 28; Musielak/Foerste, a.a.O., § 281 Rdn. 17). Dies gilt erst recht für im Ergebnis - noch - vertretbare Entscheidungen. Die Abweichung von einer (bisher) "herrschenden Meinung" oder einer "(fast) einhelligen Ansicht" rechtfertigt für sich allein die Annahme von objektiver Willkür nicht; entscheidend ist, ob die Verweisung im Ergebnis noch "vertretbar" ist (vgl. etwa BGH MDR 2002, S. 1450, 1451; NJW-RR 2002, S. 1498 f.; NJW 2003, S. 3201 f.; BayObLG NJW 2003, S. 1196, 1197; Senat, ebd.; Baumbach/ Hartmann, a.a.O., § 281 Rdn. 39 m.w.Nw.; vgl. auch OLG Hamburg, MDR 2002, S. 1210 f.; Zöller/Greger, a.a.O., § 281 Rdn. 17; Musielak/Foerste, a.a.O., § 281 Rdn. 17; Thomas/Putzo/ Reichold, a.a.O., § 281 Rdn. 12). - So liegt es hier aber nicht. Die Verweisungsentscheidung des Amtsgerichts Eberswalde stellt sich insgesamt als nicht mehr vertretbar und damit als objektiv willkürlich dar.

Das Amtsgericht Eberswalde hat das Verfahren entgegen dem Antrag der Antragstellerin - auf "Antrag" der Antragsgegnerin - an das Landgericht Osnabrück verwiesen, und zwar allein aufgrund der pauschalen, in keiner Weise näher dargelegten Behauptung der Antragsgegnerin, dass die Parteien die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Osnabrück vereinbart hätten. Das Amtsgericht Eberswalde durfte das Verfahren nicht auf Antrag der Antragsgegnerin an das Landgericht Osnabrück verweisen, weil die Antragsgegnerin nicht die Befugnis hat, einen solchen Antrag zu stellen (arg. §§ 281, 506 ZPO; s. etwa auch OLG Frankfurt am Main, NJW-RR 1998, S. 1610 f.; vgl. auch Baumbach/Hartmann, a.a.O., § 281 Rdn. 39 m.w.Nw.). Eine solche Antragsbefugnis kam hier allein der Antragstellerin zu. Die Antragstellerin hatte ihrerseits keinen Antrag auf Verweisung an das Landgericht Osnabrück gestellt, sondern auf Verweisung an das Landgericht Frankfurt (Oder). Bei dieser Sachlage ist eine Verweisung des Verfahrens an das Landgericht Osnabrück schlechterdings nicht mehr vertretbar gewesen und daher - wegen objektiver Willkür - ohne Bindungswirkung.

4. Nach (klarstellender) Aufhebung der Verweisungsentscheidung des Amtsgerichts Eberswalde vom 10. November 2005 ist die Sache an das Amtsgericht Eberswalde zur weiteren Sachbehandlung zurückzugeben. Das - sachlich unzuständige (§ 23 Nr. 1, § 71 Abs. 1 GVG, § 486 Abs. 2 ZPO) - Amtsgericht Eberswalde wird nun erneut über den Antrag der Antragstellerin auf Verweisung des Verfahrens an das Landgericht Frankfurt (Oder) zu befinden haben. Sollte das Amtsgericht Eberswalde eine örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Frankfurt (Oder) nach §§ 29, 35, 486 Abs. 2 ZPO verneinen, so bleibt der Antragstellerin die Möglichkeit, die Verweisung des Verfahrens an das gemäß §§ 12, 17, 35, 486 Abs. 2 ZPO örtlich zuständige Landgericht Osnabrück zu beantragen. Aus diesem Grunde ist die zuständigkeitsverneinende Entscheidung des Landgerichts Osnabrück vom 23. Februar 2006 vorsorglich ebenfalls aufzuheben.

Dem Senat ist es verwehrt, die Sache selbst an das Landgericht Frankfurt (Oder) zu verweisen. Im Rahmen des Verfahrens nach 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO kann grundsätzlich nur eines der am Zuständigkeitsstreit beteiligten Gerichte als zuständig bestimmt werden, nicht aber ein drittes Gericht. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz wird für Fälle anerkannt, in denen ein drittes Gericht ausschließlich zuständig ist und der erforderliche Antrag auf Verweisung an dieses dritte Gericht vorliegt (s. BGHZ Bd. 71, S. 69, 74 f.; BayObLG NJW-RR 2000, S. 67 f.; Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 36 Rdn. 27; Musielak/Heinrich, a.a.O., § 36 Rdn. 28). Hier hat die Antragstellerin zwar (mehrfach) die Verweisung des Verfahrens an das Landgericht Frankfurt (Oder) beantragt. Das Landgericht Frankfurt (Oder) ist jedoch - jedenfalls - nicht ausschließlich zuständig (s. §§ 12, 17, 29, 35, 486 Abs. 2 ZPO).



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