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Beginn der Entscheidung

Gericht: Brandenburgisches Oberlandesgericht
Urteil verkündet am 28.11.2001
Aktenzeichen: 1 Ss 46/01
Rechtsgebiete: StPO, JGG


Vorschriften:

StPO § 140 Abs. 2
StPO § 338 Nr. 5
StPO § 341
StPO § 344
StPO § 345
JGG § 68 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Brandenburgisches Oberlandesgericht Im Namen des Volkes Urteil

1 Ss 46/01 Brandenburgisches Oberlandesgericht

In der Strafsache

wegen besonders schwerer Fall des Diebstahls

hat der 1. Strafsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts in der öffentlichen Sitzung vom 28. November 2001, an der teilgenommen haben:

Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht ... als Vorsitzender,

Richterin am Landgericht ... Richter am Amtsgericht ... und als beisitzende Richter,

Staatsanwalt ... als Beamter der Staatsanwaltschaft,

Rechtsanwältin ... als Verteidigerin des Angeklagten,

Justizobersekretärin ... als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten S... wird das Urteil des Amtsgerichts Neuruppin vom 7. Mai 2001, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Neuruppin zurückverwiesen.

Gründe:

Das Amtsgericht Neuruppin - Jugendschöffengericht - hat den Angeklagten S... am 7. Mai 2001 wegen gemeinschaftlichen Diebstahls im besonders schweren Fall zu einer Jugendstrafe von sechs Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Sprungrevision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.

Die Revision ist zulässig. Sie ist insbesondere gemäß §§ 341, 344, 345 StPO form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

Die Revision hat auch in der Sache Erfolg.

Die Rüge, die Berufungshauptverhandlung sei entgegen §§ 338 Nr. 5, 140 Abs. 2 StPO, 68 Nr. 1 JGG ohne Verteidiger durchgeführt worden, obwohl ein Fall notwendiger Verteidigung vorgelegen habe, ist begründet. Im Jugendgerichtsverfahren ist dem Jugendlichen oder Heranwachsenden u.a. immer dann ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Bestellung auch für einen Erwachsenen geboten gewesen wäre (§ 68 Nr. 1 JGG). Die Bestellung eines Verteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO war erforderlich. Nach dieser Vorschrift bestellt der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen einen Verteidiger, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Der Vorsitzende, der insoweit einen Beurteilungsspielraum hat, entscheidet über die Verteidigerbestellung nach pflichtgemäßem Ermessen (BGHSt 6, 199; BayObLG NStZ 1990, 142; Kleinknecht/Meyer-Großner StPO, 45. Aufl., § 140 Rdnr. 22). Dieses Ermessen hat der Vorsitzende rechtsfehlerhaft ausgeübt. Dem Angeklagten S... , der einen Antrag auf Beiordnung eines Verteidigers nicht gestellt hatte, hätte von Amts wegen ein Verteidiger bestellt werden müssen.

§ 140 Abs. 2 StPO enthält mit den Begriffen "Schwere der Tat" und "Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage" unbestimmte Rechtsbegriffe, die im Jugendstrafverfahren einer jugendspezifischen Auslegung bedürfen. Jugendliche und ihnen gleichgestellte Heranwachsende sind aufgrund ihrer geringeren Lebenserfahrung und der intensiven psychischen und körperlichen Entwicklungsprozesse, in denen sie sich befinden, zur Wahrnehmung ihrer Interessen in der Regel weit weniger in der Lage als Erwachsene. Es kommt hinzu, dass das Jugendgerichtsgesetz für die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Jungendlichen (§ 3 JGG), für die Rechtsfolgen (§5 JGG) und die Rechtsmittelbeschränkung (§ 55 JGG) komplizierte Sonderregelungen enthält. Es ist daher eine extensive Auslegung des § 140 Abs. 2 StPO zugunsten des jugendlichen oder heranwachsenden Angeklagten geboten (LG Gera StV 1999, 654; Ostendorf, 5. Aufl. 2000, § 68 JGG Rdnr. 7).

Dies rechtfertigt indes nicht, abweichend von der nach heute überwiegender und zutreffender Ansicht aufgestellten Regel, wonach bei einer Straferwartung von mindestens einem Jahr in der Regel eine Verteidigerbestellung wegen der "Schwere der Tat" angezeigt ist (BayObLG a.a.O.; KG a.a.O.; OLG Hamm StV 1993, 180; Senatsbeschluß vom 15. Juni 2000 - 1 Ss 44/00), einen Fall der notwendigen Verteidigung immer schon dann zu bejahen, wenn Anklage vor dem Jugendschöffengericht erhoben wird und daher eine Jugendstrafe mit dem Mindestmaß von 6 Monaten zu erwarten ist (so aber die "Kölner Richtlinien" zur notwendigen Verteidigung in Jugendstrafverfahren NJW 1989, 1024 ff.). Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, sind die schweren Folgen, die bereits eine sechsmonatige Jugendstrafe für einen jungen Menschen hat, im Rahmen einer Gesamtschau neben den sonstigen schwerwiegenden Nachteilen, die der jugendliche oder heranwachsende Angeklagte in dem Strafverfahren zu erwarten hat, zu berücksichtigen. Im allgemeinen wird ein Verteidiger um so eher notwendig sein, je jünger der Angeklagte ist. Letztlich kommt es aber immer auf die Umstände des Einzelfalles an.

Unter Anwendung dieser Grundsätze war dem Angeklagten S... hier von Amts wegen ein Verteidiger beizuordnen. Gegen den Angeklagten wurde zwar eine Jugendstrafe von nur 6 Monaten und damit ein Freiheitsentzug deutlich unter einem Jahr verhängt. Er war zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung aber erst 18 Jahre alt und verfügte, da er zuvor nur einmal wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr und vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verwarnt worden war, über keine nennenswerte Erfahrung im Umgang mit Justizbehörden und Gerichten. Die Auswirkungen einer sechsmonatigen Jugendstrafe auf das Leben des Angeklagten, der zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch die 13. Klasse des Oberstufenzentrums in ... besuchte, die er nach den Urteilsfeststellungen wahrscheinlich wiederholen muß, stellen sich als erheblich gravierender dar als ein Freiheitsentzug von gleicher Dauer bei einem Erwachsenen. Von entscheidender Bedeutung ist aber, dass dem erwachsenen Mitangeklagten ein Verteidiger zur Seite stand. Der Angeklagte S... mußte sich hierdurch nicht nur subjektiv seinem sechs Jahre älteren, erwachsenen Mitangeklagten gegenüber benachteiligt fühlen, er war auch objektiv in seiner Verteidigungsmöglichkeit dadurch eingeschränkt, dass der Mitangeklagte seine Verteidigung aufgrund des Akteneinsichtsrechts ungleich besser vorbereiten und seine Rechte in der Hauptverhandlung mit professioneller Hilfe wahrnehmen konnte. Unter diesen Umständen war es nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens geboten, dem 18jährigen Angeklagten S... auch ohne Antrag einen Pflichtverteidiger zu bestellen.

Die Verletzung des § 140 Abs. 2 StPO bildet einen absoluten Revisionsgrund im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO, so dass auf die Verfahrensrüge hin das Urteil aufzuheben war.

Ende der Entscheidung

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