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Beginn der Entscheidung

Gericht: Brandenburgisches Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 16.09.2008
Aktenzeichen: 1 Ss 60/08
Rechtsgebiete: JGG, StPO


Vorschriften:

JGG § 31 Abs. 2
JGG § 31 Abs. 3 Satz 1
StPO § 331
Die Ersetzung einer nicht zur Bewährung ausgesetzten Strafe durch einen längeren Freiheitsentzug unter - völliger oder teilweiser - Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung widerspricht dem Zweck des § 331 StPO.

Bildung einer Einheitsjugendstrafe nach § 31 Abs. 2 JGG oder Anwendung der Ausnahmevorschrift des § 31 Abs. 3 Satz 1 JGG.


Tenor: Auf die Revision der Staatsanwaltschaft Neuruppin wird das Urteil der 2. großen Strafkammer des Landgerichts Neuruppin - Jugendkammer - vom 28. März 2008 im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben.

Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere große Strafkammer des Landgerichts Neuruppin - Jugendkammer - zurückverwiesen.

Gründe: I.

Das Amtsgericht Perleberg - Jugendschöffengericht - hat mit Urteil vom 7. November 2007 gegen den Angeklagten wegen versuchten gemeinschaftlichen Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung der Verurteilung durch das Landgericht Neuruppin vom 25. Mai 2007 (12 Ns - 379 Js 11189/06 - 15/07), in Verbindung mit dem Urteil des Amtsgerichts Perleberg vom 31. Januar 2007 (14 Ls - 379 Js 11189/06 - 71/06), eine Einheitsjugendstrafe von drei Jahren verhängt. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Berufung eingelegt und diese mit dem Ziel, eine Bewährungsstrafe zu erreichen, auf das Strafmaß beschränkt. Die 2. große Strafkammer des Landgerichts Neuruppin als Jugendberufungskammer hat mit Entscheidung vom 28. März 2008 das Urteil des Amtsgerichts Perleberg vom 7. November 2007 im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben und ihn wegen versuchten gemeinschaftlichen Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Von der Einbeziehung des vorauf gegangenen Urteils des Landgerichts Neuruppin vom 25. Mai 2007 (12 Ns - 379 Js 11189/06 - 15/07) zu einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten hat die Berufungskammer gem. § 31 Abs. 3 Satz 1 JGG aus erzieherischen Gründen abgesehen und dazu insbesondere darauf abgestellt, dass der Angeklagte die mit Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 25. Mai 2007 eingeräumte Vorbewährung beanstandungsfrei überstanden und seit seinem letzten Übergriff zum Nachteil der Geschädigten Trostmann im November 2006 keine Straftaten mehr begangen habe.

Gegen diese Entscheidung hat die Staatsanwaltschaft Neuruppin unter dem Datum des 1. April 2008, eingegangen bei Gericht am selben Tag, Revision zum Nachteil des Angeklagten eingelegt, die Verletzung materiellen Rechts gerügt und die Revision mit weiterem, bei Gericht am 4. Juni 2008 eingegangenen Schreiben begründet. Die Staatsanwaltschaft Neuruppin hält die Urteilsgründe insbesondere zur Anwendung von § 31 Abs. 3 JGG für widersprüchlich und nicht tragfähig. Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg ist in ihrer Stellungnahme vom 1. August 2008 der Revision der Staatsanwaltschaft Neuruppin beigetreten, hat die Aufhebung des Urteils des Landgerichts Neuruppin - Jugendkammer - vom 28. März 2008 und Zurückverweisung der Sache beantragt, sowie ergänzend zur Sachrüge ausgeführt, dass sich das angegriffene Urteil nicht hinreichend mit dem vorauf gegangenen Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 25. Mai 2007 auseinandergesetzt habe sowie gegen das Verbot der Schlechterstellung gem. §§ 331 StPO, 2 JGG verstoße.

II.

1. Die Revision der Staatsanwaltschaft Neuruppin ist gem. § 333 StPO, § 55 JGG statthaft und gem. §§ 341, 344, 345 StPO frist- und formgerecht bei Gericht angebracht worden.

2. Die Revision hat mit der Sachrüge Erfolg und führt zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs.

a) Mit der Verhängung einer Jugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, hat die Jugendkammer gegen das Verbot der Schlechterstellung (§ 331 StPO, § 2 JGG) verstoßen, was das Revisionsgericht von Amts wegen zu beachten hat (vgl. BGH LM StPO § 358 Nr. 21; BGHSt 14, 5, 7). Bei dem Verbot der Schlechterstellung (reformatio in peius) handelt es sich um eine dem Angeklagten durch den Gesetzgeber gewährte Rechtswohltat (BGHSt 9, 324, 332). Der Angeklagte soll bei seiner Entscheidung darüber, ob er von einem ihm zustehenden Rechtsmittel Gebrauch machen will, nicht durch die Besorgnis beeinträchtigt werden, es könne ihm durch die Einlegung des Rechtsmittels ein Nachteil in Gestalt härterer Bestrafung entstehen (BGHSt 27, 176, 178 m. w. N.). Ein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot liegt stets dann vor, wenn die Gesamtschau aller verhängten Ahndungsmaßnahmen eine dem allgemeinen Berufungsführer nachteilige Veränderung erkennen lässt (BGHSt 24, 11, 14; BGHSt 29, 269, 270; BGH NStZ 1983, 168).

Ein solcher Fall liegt hier vor. Vorliegend würde ein Nachteil für den Angeklagten, der allein Berufung eingelegt hatte, dadurch eintreten, dass er im Falle des Widerrufs der gewährten Aussetzungen der Vollstreckung zur Bewährung aus dem Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 25. Mai 2007 in Verbindung mit dem des Amtsgerichts Perleberg vom 31. Januar 2007 ein Jahr sechs Monate und dem Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 28. März 2008 ein Jahr zehn Monate, mithin vier Monate Jugendstrafe zusätzlich zu verbüßen hätte, als dies nach dem erstinstanzlichen Urteil zu drei Jahren Freiheitsstrafe der Fall war. Zwar hat er durch das Urteil der Jugendkammer die Gelegenheit erhalten, sich zu bewähren, müsste aber im Falle des Widerrufs einen längeren Freiheitsentzug hinnehmen. Die Ersetzung einer nicht zur Bewährung ausgesetzten Strafe durch einen längeren Freiheitsentzug unter - völliger oder teilweiser - Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung widerspricht dem Zweck des § 331 StPO (vgl. BGH JR 1954, 227, 228; BGH JZ 1956, 100; OLG Frankfurt NJW 1964, 368; OLG Oldenburg MDR 1955, 436; OLG Köln VRS 50, 97; LR-Gössel, StPO, 25. Auflage 2003, § 331 Rdnr. 78; Meyer-Goßner, StPO, 51. Auflage 2008, § 331 Rdnr. 17; Eisenberg, JGG, 12. Auflage 2007, § 55 Rdnr. 24, 73).

Der Senat ist zu einer Abänderung des angefochtenen Urteils entsprechend § 354 Abs. 1 StPO nicht im Stande, so dass eine Zurückverweisung der Sache insoweit erfolgen muss. Auch eine Herabsetzung der bedingten Freiheitsstrafe auf das unter Beachtung des § 331 StPO zulässige Maß von einem Jahr und sechs Monaten ist dem Senat nicht möglich, da nicht überprüfbar ist, ob die durch die Jugendkammer in dem angefochtenen Urteil vom 28. März 2008 dargestellte günstige Prognose weiterhin gilt.

b) Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass sich die Gründe des Berufungsurteils - entgegen der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg vom 1. August 2008 - durch die Bezugnahme auf das insoweit sehr ausführliche Urteil des Amtsgerichts Perleberg vom 7. November 2007 hinreichend zu den Ausführungen im voraufgegangenen Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 25. Mai 2007 verhalten.

c) Soweit die Jugendkammer von der Einbeziehung der Verurteilung durch das Amtsgericht Perleberg vom 31. Januar 2007 in Verbindung mit dem Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 25. Mai 2007 gem. § 31 Abs. 3 JGG abgesehen hat, tragen die Urteilsgründe diese Entscheidung.

Gem. § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG i. V. m. § 105 Abs. 1 JGG ist bei Ahndung von Straftaten eines Heranwachsenden nach Jugendrecht, wenn eine anderweitig bereits rechtskräftig verhängte Erziehungsmaßregel, ein Zuchtmittel oder eine Jugendstrafe noch nicht vollständig erledigt sind, grundsätzlich auf eine einheitliche Rechtsfolge zu erkennen. Diese Vorschrift dient dem erzieherisch begründeten Prinzip der einheitlichen Maßnahme bzw. Rechtsfolgenentscheidung (vgl. Eisenberg, JGG, 12. Auflage 2007, § 31 Rdnr. 3). Es handelt sich um eine abschließende jugendstrafrechtliche Sondervorschrift im Verhältnis zu den Voraussetzungen einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung gem. § 55 StGB. Von der Einbeziehung der früheren Verurteilung darf nur ausnahmsweise dann abgesehen werden, wenn dies aus erzieherischen Gründen zweckmäßig ist (§ 31 Abs. 3 Satz 1 JGG). Die Entscheidung hat sich ausschließlich an dem Erziehungszweck zu orientieren und ist nach den Umständen des konkreten Einzelfalls zu treffen (vgl. BGHSt 22, 21, 23; BGHSt 36, 47, 42). Um die Ausnahmevorschrift des § 31 Abs. 3 JGG anwenden zu können, müssen Gründe gegeben sein und in den Urteilsgründen dargestellt werden, die unter dem Gesichtspunkt der Erziehung von ganz besonderem Gewicht sind und zur Verfolgung dieses Zweckes über die üblichen Strafzumessungsgesichtspunkte hinaus das Nebeneinander zweier Ahndungen notwendig erscheinen lassen (für Jugendstrafen: vgl. BGHSt 36, 37, 42; BGH StV 1996, 273). Hierbei ist anerkannt, dass von der Einbeziehung der früheren Verurteilung aus Gründen der erzieherischen Zweckmäßigkeit dann abgesehen werden kann, wenn bei einer Einheitsstrafe wegen deren Höhe eine Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung nicht mehr zulässig wäre (§ 21 Abs. 1, 2 JGG), eine solche Aussetzung aus erzieherischen Gründen jedoch noch zu vertreten ist (vgl. BGH NStZ 1997, 387; BGH NStZ-RR 1996, 120). Soweit das Landgericht Neuruppin seine für den Angeklagten positive Prognose damit begründet hat, dass er erstmals in seinem Leben in eine Berufseingliederungsmaßnahme mit verschiedenen Praktika integriert sei und die ihm mit Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 25. Mai 2007 (12 Ns 15/07) ermöglichte Vorbewährungszeit beanstandungsfrei überstanden habe sowie seit seiner letzten Straftat nicht mehr straffällig geworden sei, ist dies nicht zu beanstanden. Widersprüchlichkeiten in der Begründung der Anwendung der Ausnahmevorschrift des § 31 Abs. 3 Satz 1 JGG sind nicht auszumachen. Insbesondere hat die Jugendkammer nachvollziehbar begründet, dass der Angeklagte aufgrund seiner Teilnahme am Antiaggressionstraining den Kontakt zur Suchtberatung der Suchthilfe Prignitz e.V. als Teil der Bewährungsauflage aus dem Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 25. Mai 2007 hatte abreißen lassen müssen, mithin ein Widerspruch zur Feststellung, er habe die Weisungen und Auflagen erfüllt, nicht vorliegt.

Ende der Entscheidung

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