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Beginn der Entscheidung

Gericht: Brandenburgisches Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 19.03.2003
Aktenzeichen: 1 Ws 27/03
Rechtsgebiete: StPO, BRAGO


Vorschriften:

StPO § 137 Abs. 1 S. 2
StPO §§ 140 ff.
StPO § 141
StPO § 141 Abs. 4
StPO § 142
StPO § 145 Abs. 1 S. 1
StPO § 229
StPO § 231 c
StPO § 238 Abs. 2
StPO § 304 Abs. 1
StPO § 305
StPO § 305 S. 1
BRAGO § 53 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Brandenburgisches Oberlandesgericht Beschluss

1 Ws 27/03 Brandenburgisches Oberlandesgericht

In der Strafsache

wegen Betruges u.a.

hat der 1. Strafsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts durch

die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht ..., den Richter am Oberlandesgericht ... und den Richter am Oberlandesgericht ...

am 19. März 2003

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Angeklagten zu 2. gegen den Beschluss der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Neuruppin vom 21. Januar 2003 wird auf seine Kosten als unbegründet zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Die 3. große Strafkammer des Landgerichts Neuruppin - Wirtschaftsstrafkammer - verurteilte den Beschwerdeführer nach 15-tägiger Hauptverhandlung am 18. Juli 2001 wegen Betruges in neun Fällen, versuchten Betruges in drei Fällen, Vorenthaltens von Arbeitsentgelt in fünf Fällen, falscher Angaben zum Zweck der Eintragung einer GmbH in zwei Fällen und wegen Verstoßes gegen ein Berufsverbot zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren. Auf die Revision des Beschwerdeführers hob der Bundesgerichtshof das Urteil im Schuldspruch insoweit auf, als der Angeklagte wegen Betruges und versuchten Betruges sowie Vorenthaltens von Arbeitsentgelt verurteilt worden war; insoweit verwies es die Sache unter gleichzeitiger Aufhebung des Rechtsfolgenausspruches an eine andere Strafkammer des Landgerichts Neuruppin zurück.

Die Hauptverhandlung vor der nunmehr zuständigen ersten großen Strafkammer des Landgerichts hat am 14. Januar 2003 begonnen und wird jedenfalls bis 7. April 2003 in mindestens 15 Sitzungsterminen durchgeführt werden.

Am 15. Januar 2003 hat der Pflichtverteidiger des Beschwerdeführers in dessen Namen beantragt, diesem Rechtsanwalt W... aus B... als zweiten Pflichtverteidiger beizuordnen. Der Vorsitzende der Strafkammer hat dies im Sitzungstermin vom 21. Januar 2003 mit der Begründung abgelehnt, weder auf Grund des Umfangs noch wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage bestehe ein unabweisbares Bedürfnis, zur Sicherstellung einer ausreichenden Verteidigung einen weiteren Verteidiger zu bestellen. Auch die voraussichtliche Verfahrensdauer berge mit etwa 12 Verhandlungstagen nicht die ernsthafte Gefahr, dass es infolge einer Verhinderung des bereits bestellten Pflichtverteidigers zu maßgeblichen Verfahrensverzögerungen komme. Einzelnen Terminskollisionen habe der Pflichtverteidiger "mit Nachdruck entgegenzutreten;" notfalls müsse er weitere Mandate ablehnen. Im Übrigen sei das Gericht bereit, "gut instruierte Rechtsanwälte an einzelne Verhandlungstagen ersatzweise zum Pflichtverteidiger zu bestellen, oder - als letztes Mittel - einzelne Fortsetzungstermine aufzuheben."

Hiergegen wendet sich der Angeklagte zu 2. mit seiner Beschwerde vom 22. Januar 2003. Er macht geltend, die endgültige Dauer der Verhandlung stehe derzeit noch nicht fest; vielmehr sei zu befürchten, dass sich die Hauptverhandlung über erhebliche Zeiträume erstrecken werde, hinsichtlich derer Terminskollisionen mit vom Pflichtverteidiger übernommenen Mandaten in sogenannten Haftsachen entstehen könnten. Die Sach- und Rechtslage sei zudem schwierig, da nach den Anklagevorwürfen "komplexe rechtsgebietsübergreifende Probleme" zu bewältigen seien und der Verfahrensstoff "mit 8 Bänden Strafakten, 7 Sonderheften, 1 Ladungssonderheft, 1 Protokollheft sowie 3 Sonderbänden äußerst umfangreich" sei.

II.

Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg. Zu Recht hat der Strafkammervorsitzende die Beiordnung von Rechtsanwalt W... als weiterem notwendigen Verteidiger des Angeklagten zu 2. abgelehnt.

1. Die Beschwerde ist allerdings nicht bereits unzulässig, insbesondere nicht unstatthaft. Denn Entscheidungen des Gerichtsvorsitzenden über die Bestellung bzw. Abbestellung eines Pflichtverteidigers unterliegen in jeder Lage des Verfahrens - auch wenn sie in der Hauptverhandlung ergehen - nach § 304 Abs. 1 StPO der Beschwerde. § 305 S. 1 StPO steht ihrer Zulässigkeit nicht entgegen. Denn es handelt sich vorliegend nicht um eine Entscheidung des "erkennenden Gerichts, die der Urteilsfällung vorausgeht" (vgl. RGSt 67, 310, 312; OLG Hamm NJW 1973, 818; OLG Zweibrücken VRS 50, 437; Karlsruhe NJW 1978, 1064). Dies folgt indes nicht schon daraus, dass sich das Rechtsmittel gegen eine Entscheidung des Gerichtsvorsitzenden richtet. § 305 StPO unterfallen nämlich nicht lediglich Entscheidungen des erkennenden "Gerichts", sondern auch Entscheidungen, die von dessen Vorstand getroffen worden sind (OLG Stuttgart NJW 1976, 1647; OLG Düsseldorf StV 1986, 239, 240).

Entscheidend ist aber, dass der angegriffene Beschluss nicht in dem in § 305 S. 1 StPO vorausgesetzten inneren Zusammenhang mit der Urteilsfällung steht. Die prozessuale Bedeutung der Nichtzulassung eines weiteren Pflichtverteidigers geht über die Vorbereitung der Endentscheidung der Kammer vielmehr hinaus; sie sichert das justizförmige Verfahren (vgl. Löwe/Rosenberg, StPO, § 141 Rz. 47; a.a.O. § 305 Rz. 18).

Auch § 238 Abs. 2 StPO steht der Statthaftigkeit der Beschwerde nicht entgegen, weil der darin normierte "Zwischenrechtsbehelf" auf die durch §§ 140 ff. StPO speziell dem Gerichtsvorsitzenden übertragenen Entscheidungen über die Pflichtverteidigerbestellung keine Anwendung findet (vgl. OLG Hamm StV 1995, 64).

2. Das Rechtsmittel ist jedoch in der Sache nicht begründet.

a) Nach § 140 StPO ist unter dort näher bestimmten Voraussetzungen die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich, der, falls der Angeklagte noch keinen Verteidiger hat, gemäß §§ 141 Abs. 4, 142 StPO durch den Vorsitzenden zu bestellen ist. Ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen über den Wortlaut der skizzierten Vorschriften hinaus ein weiterer Pflichtverteidiger bestellt werden kann und muss, ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Insbesondere lässt sich nicht aus § 137 Abs. 1 S. 2 StPO, wonach die Zahl der gewählten Verteidiger drei nicht übersteigen darf, herleiten, einem Beschuldigten könnten bis zu drei Verteidiger beigeordnet werden; § 137 Abs. 1 S. 2 StPO soll nämlich lediglich verhindern, dass durch die Mitwirkung einer Vielzahl von Verteidigern das Verfahren verschleppt oder vereitelt wird (vgl. BGHSt 27, 124, 128; BVerfGE 39, 156, 163).

Die normativen Grundlagen für die Beiordnung eines zweiten Verteidigers in Ausnahmefällen sind vielmehr aus dem Zweck des Rechtsinstitutes der notwendigen Verteidigung herzuleiten; die Pflichtverteidigung bezweckt, dem Beschuldigten einen rechtskundigen Beistand zu sichern und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten (BVerfGE 68, 237, 254; BGHSt 3, 395, 398; OLG Düsseldorf JZ 1986, 204). Hieraus folgt, dass - unter näher zu bestimmenden Voraussetzungen - die außergewöhnliche Schwierigkeit der Sache, der außergewöhnliche Umfang des Verfahrensstoffes oder die außergewöhnlich lange Dauer der Hauptverhandlung die Bestellung eines zweiten Verteidigers rechtfertigen können (vgl. OLG Celle StV 1988, 379, 380; OLG Düsseldorf JZ 1986, 204; OLG Frankfurt/Main, StV 1993, 348; OLG Hamburg StraFo 2000, 383).

b) Für die Abgrenzung, wann der Verfahrensstoff derart außergewöhnlich umfangreich oder schwierig ist, dass ein unabwendbares Bedürfnis zur Mitwirkung eines zweiten Verteidigers entsteht, um eine ausreichende Verteidigung des Angeklagten zu gewährleisten, ist von Bedeutung, dass jeder Verteidiger voll eingearbeitet sein muss, um sachgerecht verteidigen zu können. Deshalb hat der Pflichtverteidiger jedenfalls in umfangreichen Verfahren grundsätzlich kontinuierlich an der Hauptverhandlung teilzunehmen (OLG Celle StV 1988, 379, 380; OLG Frankfurt/Main NJW 1972, 1964, 1965; BVerfGE 68, 237, 254). Damit verträgt sich nicht die Vorstellung, die Verteidiger würden die Vor- und Nachbereitung des Verfahrensstoffes untereinander aufteilen, also nicht jeder vollen Umfanges mit dem Aktenmaterial und dem Verlauf der Hauptverhandlung vertraut sein. Nur wenn der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich und schwierig ist, dass er - auch nach Ausschöpfung aller Hilfsmittel - ausschließlich bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden kann, vermag die Beistandsfunktion die Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers zu gebieten (OLG Düsseldorf NStZ 1990, 47; OLG Hamburg StV 2000, 409, 410).

Die so umrissene Aufgabe des Verteidigers schließt es aus, einen zweiten Verteidiger zu bestellen, um den Wunsch zu gegenseitiger Vertretung beider Pflichtverteidiger zu erfüllen (vgl. OLG Frankfurt/Main StV 1995, 68, 69; OLG Celle a.a.O.).

c) Die Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers bei Durchführung einer außergewöhnlich langen Hauptverhandlung beruht auf der Erfahrung, dass eine höhere Zahl von Verfahrensbeteiligten bzw. eine längere Dauer der Hauptverhandlung die Wahrscheinlichkeit erhöht, ein Verteidiger werde planwidrig verhindert sein, und beruht auf der allgemeinen Prozessmaxime der Verfahrensbeschleunigung sowie im Einzelfall dem Gebot der besonderen Beschleunigung in Haftsachen (OLG Hamburg StV 2000, 409, 410). Die ausnahmsweise Bestellung eines zweiten Verteidigers ist aber nur geboten, wenn und soweit andere gesetzliche Reaktionsmöglichkeiten auf die unvorhergesehene Verhinderung eines Verteidigers nicht ausreichen. In Betracht kommen insbesondere die Unterbrechung der Hauptverhandlung nach § 229 StPO, die Beurlaubung gemäß § 231 c StPO, das Tätigwerden des Vertreters gemäß § 53 Abs. 1 BRAGO und die Bestellung eines anderen Verteidigers bei Eintritt der Verhinderung oder Ausbleiben des zunächst bestellten Verteidigers; die letztgenannte Möglichkeit einer Verteidigerbestellung in der laufenden Hauptverhandlung ist in § 145 Abs. 1 S. 1 StPO ausdrücklich vorgesehen. Ihre Grenzen findet diese Verfahrensweise indes in dem Gebot sachgerechter Verteidigung, die gerade in umfangreichen und schwierigen Sachen Einarbeitung und kontinuierliche Begleitung der Hauptverhandlung voraussetzt. Gleichwohl bleibt auch in Komplexverfahren die Mitwirkung eines ad hoc bestellten und noch nicht voll eingearbeiteten Verteidigers für Hauptverhandlungstage zulässig, an denen lediglich einfach gelagerte Teile des Verfahrensstoffes verhandelt werden, die keine umfassende Vorbereitung des Verteidigers erfordern, so lange überhaupt zur Sache verhandelt und die Verhandlung nicht lediglich aus Gründen der Wahrung prozessualer Fristen fortgesetzt wird (vgl. Karlsruher-Kommentar zu StPO/Treier, § 229 Rz. 6 m.w.N.).

Aus allem folgt, dass es die lediglich abstrakt-theoretische Möglichkeit einer späteren Verfahrensgefährdung durch Ausbleiben des Verteidigers nicht rechtfertigt, von Anbeginn an einen zweiten Verteidiger zu bestellen. Vielmehr müssen konkreten Anhaltspunkte für ein Ausbleiben des Verteidigers hinzutreten, die sich vor allem aus einer besonders langen Dauer der Hauptverhandlung ergeben können.

d) Die Anwendung dieser Grundsätze ergibt, dass der Vorsitzende der 1. großen Strafkammer das ihm im Rahmen von §§ 141, 142 StPO zustehende Ermessen nicht missbraucht bzw. seinen Beurteilungsspielraum nicht überschritten hat.

Der Verfahrensstoff ist nicht derart außergewöhnlich schwierig oder umfangreich, dass ein Verteidiger allein ihn nicht beherrschen könnte. Zwar stehen noch 17 Tatvorwürfe (vornehmlich Betrug und Vorenthalten von Arbeitsentgelt) zur Verhandlung an, doch weisen die Taten weitgehend gleichartige Strukturen sowie einen beschränkten Kreis betroffener Personen auf. Der Aktenumfang (1674 Blatt Hauptakten, 4 Band Beweismittelordner, 1 Protokollband, 1 Ladungssonderheft sowie mehrere weitere Sonderhefte) ist überdies für erstinstanzliche Strafkammersachen, insbesondere für Wirtschaftssachen, nicht als überdurchschnittlich anzusehen.

Eine besonders lange Hauptverhandlung gegen den Rechtsmittelführer zeichnet sich ebensowenig ab. Nach Abstimmung mit den Verteidigern hat der Vorsitzende, wie der Senat durch Rückfragen bei der Geschäftsstelle der zuständigen Kammer in Erfahrung gebracht hat, 15 Hauptverhandlungstermine für den Zeitraum vom 24. Januar bis zum 7. April 2003 bestimmt. Weder aus der Frequenz der Hauptverhandlungstage noch aus der Anzahl zu vernehmender Zeugen (in der Anklageschrift sind 59 benannt, wobei nur ein Teil der Anklagevorwürfe noch zur Verhandlung ansteht) bzw. aus anderen Umständen wie Reisewegen notwendiger Verfahrensbeteiligter erwachsen über theoretische Möglichkeiten hinausgehende Anhaltspunkte für Gefährdungen des Verhandlungs- und Verfahrensablaufes, denen nicht mehr mit anderen gesetzlichen Möglichkeiten bis hin zur ad-hoc-Bestellung eines Verteidigers für Überbrückungstermine begegnet werden könnte. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der dem Beschwerdeführer bestellte notwendige Verteidiger in absehbarer Zeit aus dringenden Gründen nicht in der Lage sein könnte, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, sind schließlich ebenfalls weder dargetan noch anderweitig ersichtlich.

III.

Das Rechtsmittel danach mit der sich aus § 473 Abs. 1 S. 1 StPO ergebenen Kostenfolge als unbegründet zu verwerfen.

Ende der Entscheidung

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