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Beginn der Entscheidung

Gericht: Brandenburgisches Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 20.12.2001
Aktenzeichen: 2 Ws 420/01
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 473 Abs. 1 S. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Brandenburgisches Oberlandesgericht Beschluss

2 Ws 420/01 Brandenburgisches Oberlandesgericht

In der Strafsache

wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen u. a.

hat der 2. Strafsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ..., den Richter am Oberlandesgericht ... und die Richterin am Landgericht ...

am 20. Dezember 2001

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde, die sich gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Senftenberg vom 25. Dezember 1998 und hilfsweise gegen die Auflagen aus dem Haftverschonungsbeschluss des Amtsgerichts Senftenberg vom gleichen Tag in der Fassung des Beschlusses des Landgerichts Cottbus vom 4. Januar 2001 richtet, wird mit der Maßgabe verworfen, dass die Meldeauflage aus dem Haftverschonungsbeschluss entfällt.

Der Beschwerdeführer trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und seine notwendigen Auslagen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat am 25. Dezember 1998 gegen den Beschwerdeführer einen Haftbefehl erlassen, in dem es ihm vorwirft, er habe in der Zeit von Mitte 1990 bis Sommer 1998 in M..., S... und K... in 52 Fällen Sexualdelikte an seiner Stieftochter begangen. Zu Beginn der Handlung an dem 10jährigen Mädchen habe er den Beischlaf vollzogen. In weiteren 51 Fällen habe er gegen den Willen seiner Stieftochter geschlechtlich mit ihr verkehrt. Das Amtsgericht ist vom Haftgrund der Verdunklungsgefahr ausgegangen, weil der Beschwerdeführer auch nach seinen eigenen Angaben jähzornig sei und zu Gewalttaten neige und nicht auszuschließen sei, dass er auf seine Stieftochter in unlauterer Weise einwirken werde. Deshalb drohe die Gefahr, dass die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde. Auch gegenüber seiner Ehefrau habe er sich ungehalten gezeigt, als sie ihn mit den Vorwürfen, ihre Tochter sexuell missbraucht und vergewaltigt zu haben, konfrontiert habe. Mit Beschluss vom gleichen Tage hat das Amtsgericht den Beschwerdeführer vom Vollzug der Untersuchungshaft verschont, da es der Auffassung war, durch die Auferlegung einer wöchentlichen Meldepflicht, eines Kontaktverbots zu seiner Ehefrau und seinen Kindern und Stiefkindern, insbesondere zur Geschädigten, eines Verbots, die Familienwohnung in M... aufzusuchen und seine eigene Wohnung in B... ohne Genehmigung des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft zu wechseln, könne der Verdunklungsgefahr begegnet werden.

Unter dem 21. Juni 1999 hat die Staatsanwaltschaft Cottbus den Beschwerdeführer angeklagt, er habe von Sommer 1990 bis Dezember 1998 in M... und anderen Orts in einem Fall nach ehemaligem DDR-Recht ein Mädchen unter 16 Jahren mit Gewalt zum außerehelichen Geschlechtsverkehr gezwungen und tateinheitlich ein Kind zu sexuellen Handlungen missbraucht; in sieben Fällen habe er sexuelle Handlungen an einer Person unter 16 Jahren vorgenommen, die ihm zur Erziehung und Betreuung in der Lebensführung anvertraut gewesen sei; tateinheitlich habe er in vier Fällen sexuelle Handlungen an einer Person unter 14 Jahren vorgenommen; in weiteren 40 Fällen habe er sexuelle Handlungen an einer Person vorgenommen, die ihm zur Erziehung und Betreuung in der Lebensführung anvertraut gewesen sei; in zehn Fällen habe er unter Missbrauch der Abhängigkeit sexuelle Handlungen an einer Person unter 18 Jahren vorgenommen, die ihm zur Erziehung und Betreuung in der Lebensführung anvertraut gewesen sei; in sieben Fällen habe er mit einer anderen Person unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert gewesen sei, den Beischlaf vollzogen und tateinheitlich damit eine Schutzbefohlene unter 18 Jahren missbraucht; in weiteren drei Fällen habe er eine andere Person genötigt, sexuelle Handlungen an ihm vorzunehmen; in einem Fall habe er mit einer anderen Person unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert gewesen sei, den Beischlaf vollzogen; in einem Fall habe er einen Menschen mit der Begehung eines gegen ihn gerichteten Verbrechens bedroht; in einem Fall habe er eine andere Person körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt sowie tateinheitlich versucht, einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung zu nötigen; schließlich habe er in 18 Fällen auf öffentlichen Straßen und Plätzen ein Kraftfahrzeug geführt, obwohl er nicht im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis gewesen sei. Alle Missbrauchshandlungen habe der Beschwerdeführer an seiner zu Beginn 10jährigen Stieftochter K... begangen. Zum ersten Mal habe er zwischen dem 12. und 19. Juli 1990 an seiner damals 10jährigen Stieftochter gegen ihren Willen den Beischlaf bis zum Samenerguss vollzogen. Aus Angst vor seiner allgemeinen Unbeherrschtheit habe sich seine Stieftochter ihm gefügt. In den Jahren 1994 bis 1997 habe er seine Stieftochter in einer großen Anzahl von Fällen von der Schule abgeholt und anschließend in einem Waldstück bei M... an ihr den Geschlechtsverkehr vollzogen. In mehreren Fällen habe er sich vom Mädchen oral befriedigen lassen. Seit 14. September 1996 sei der Beschwerdeführer nicht mehr im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis gewesen, habe aber trotzdem mit seinem Pkw öffentliche Straßen befahren, unter anderem zu dem Zweck, seine Stieftochter von der Schule abzuholen und sich an ihr zu vergehen. Im Sommer 1998 habe er zum letzten Mal an seiner Stieftochter gegen deren Willen den Beischlaf durchgeführt. Zuletzt habe er am 22. Dezember 1998 in stark angetrunkenem Zustand seine Ehefrau B... F... und seine Stieftochter K... mit dem Messer bedroht, seine Stieftochter einen Schlag in das Gesicht versetzt und gegen beide Opfer Todesdrohungen ausgestoßen. Aus der Anklage ergibt sich im Übrigen, dass der Beschwerdeführer bereits erheblich vorbestraft ist. Er ist am 12. Februar 1991 vom Bezirksgericht Cottbus wegen Körperverletzung mit Todesfolge und Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden, weil er am 15. April 1990 seinen damals 8jährigen Stiefsohn B... in mindestens 70 Grad Celsius heißes Badewasser gesteckt und ihn gezwungen hatte, dort eine längere Zeit zu bleiben. An den Verbrühungen verstarb das Kind. Nur drei Monate nach dieser Tat soll der Beschwerdeführer mit den sexuellen Handlungen an seiner damals 10jährigen Stieftochter K... begonnen haben.

Der Sachverständige Dr. R..., der unter dem 22. Juli 1999 über den Beschwerdeführer ein vorläufiges psychiatrisches Gutachten erstellt hat, hat zwar festgestellt, dass der Beschwerdeführer von jahrelangem Alkoholmissbrauch gezeichnet war, hat aber keine Anhaltspunkte für eine erhebliche Beeinträchtigung seiner Schuldfähigkeit gefunden.

Die Anklage ist dem Beschwerdeführer durch Verfügung der Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer des Landgerichts Cottbus vom 12. Juli 1999 zugestellt worden. Erst am 10. April 2000 hat die Strafkammer das Hauptverfahren eröffnet. Seit dem ist nichts mehr geschehen. Ein Hauptverhandlungstermin ist nicht anberaumt worden und steht auch nicht in Aussicht. Die Strafkammer hat lediglich jeweils auf Antrag des Beschwerdeführers mit Beschlüssen vom 26. August 1999 und vom 4. Januar 2001 den Haftverschonungsbeschluss abgeändert, so dass nunmehr nur noch zwei Auflagen bestehen: Das Kontaktverbot des Beschwerdeführers mit seiner Ehefrau B... F... und den Kindern K..., C..., P..., A... und L... und die Pflicht, sich einmal im Monat polizeilich zu melden.

Der Beschwerdeführer hat sich unter dem 6. März 2001 mit einer Beschwerde an das Landgericht gewandt und beantragt, den Haftbefehl aufzuheben, da die Strafkammer das Verfahren nicht gefördert habe und deshalb die Aufrechterhaltung des Haftbefehls nicht mehr verhältnismäßig sei, auch wenn der Haftbefehl nicht vollzogen werde. Hilfsweise wendet sich der Beschwerdeführer gegen die mit der Haftverschonung verbundenen Auflagen. Erst mit Beschluss vom 19. November 2001 hat die Strafkammer auf die zutreffenden Gründe der genannten Entscheidungen verwiesen, der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem Senat vorgelegt.

Die Generalstaatsanwaltschaft hält die Aufrechterhaltung des Haftbefehls noch für verhältnismäßig, obwohl die Strafkammer das Verfahren zurzeit mehr als zwei Jahren nicht mehr gefördert habe. Das Beschleunigungsgebot sei zweifellos verletzt. Da die Auflagen aus dem Haftverschonungsbeschluss den Beschwerdeführer jedoch nur geringfügig belasteten, sei die Aufrechterhaltung sowohl des Haftbefehls als auch der Auflagen noch verhältnismäßig.

II.

Die Aufrechterhaltung des Haftbefehls ist noch verhältnismäßig.

Zwar hat die Strafkammer das Beschleunigungsgebot erheblich verletzt. Sie hat sich nach Erhebung der Anklage und Eingang der Anklageschrift mit der Eröffnung des Hauptverfahrens fast 10 Monate Zeit gelassen. Danach hat sie nichts mehr unternommen, um das Verfahren zu fördern. Sogar auf die vorliegende Haftbeschwerde hat sie ein halbes Jahr lang nicht reagiert. Aus den Akten ergeben sich keine Gründe, die dies rechtfertigen könnten. Eine Verletzung des Beschleunigungsgebots, wie sie hier vorliegt, muss in der Regel zur Aufhebung eines Haftbefehls auch dann führen, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird (vgl. die ständige Rechtsprechung des Senats, z. B. im Beschluss vom 10. Februar 1997 - 2 Ws 35/97 - und im Beschluss vom 9. Oktober 2001 - 2 Ws 342/01 -). Das Beschleunigungsgebot, das das gesamte Strafprozessrecht durchzieht, hat deswegen einen derart hohen Stellenwert, weil es geboten ist, staatliche Eingriffe in das grundgesetzlich garantierte Freiheitsrecht möglichst gering zu halten. Deshalb ist es in jedem Verfahrensstadium zu beachten, auch wenn ein Haftbefehl nicht vollzogen wird.

Die Verletzung des Beschleunigungsgebots durch die Strafkammer führt hier jedoch ausnahmsweise nicht zur Aufhebung des Haftbefehls. Dem Beschwerdeführer droht bei Bestätigung der Anklage eine derart gravierende, langjährige Freiheitsstrafe, dass auch das nicht ohne weiteres verständliche Untätigbleiben der Strafkammer noch nicht zur Unverhältnismäßigkeit des Haftbefehls führt. Der Beschwerdeführer ist wegen einer schweren Gewalttat in der Familie, die zum Tod seines achtjährigen Stiefsohnes geführt hat, bereits erheblich vorbestraft und hat Strafhaft verbüßt. Die Sexualdelikte zu Lasten seiner damals 10jährigen Stieftochter K... soll er nur wenige Monate nach dem von ihm verschuldeten Tod seines Stiefsohnes begangen haben. Über die Dauer von acht Jahren hinweg soll der Beschwerdeführer in einer Vielzahl von Fällen seine Stieftochter sexuell genötigt, vergewaltigt und missbraucht haben. Er soll sie und seine Ehefrau auch mit dem Tod bedroht haben. Sollte sich die Richtigkeit der Anklagevorwürfe bestätigen, hält es der Senat durchaus für möglich, dass den Beschwerdeführer eine etwa 10jährige Gesamtfreiheitsstrafe treffen kann. Unter diesen Umständen erscheint die Aufrechterhaltung des Haftbefehls noch geboten und auch noch verhältnismäßig.

Der vorliegende, ganz außergewöhnliche Fall veranlaßt den Senat allerdings zu folgenden Bemerkungen:

Der Angeklagte hat einen gesetzlichen Anspruch darauf, daß in seiner Sache in angemessener Zeit entschieden wird (Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK). Die Geschädigte kann von der Strafjustiz erwarten, daß ihr, falls sich die Vorwürfe bestätigen, in angemessener Zeit für die an ihr begangenen Gewaltverbrechen Genugtuung gewährt wird. Sinn und Zweck der Straf- und des Strafverfahrensrechts endlich machen es unerläßlich, daß schwere Gewalttaten, namentlich wenn sie durch einen wegen einer beinahe unfaßbaren Gewalttat Vorbestraften begangen worden sind, alsbald untersucht und, falls sie erweislich sind, abgeurteilt werden; das ist auch erforderlich, um das Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung zu erhalten und künftige Gewalttaten zu bekämpfen. Unter diesen Gesichtspunkten kann der Senat den bisherigen Verfahrensverlauf nicht verstehen. Falls dieser, was zu vermuten ist, auf personellen Engpässen beruht, haben Präsidium und Justizverwaltung nach Auffassung des Senats Anlaß, sofort für Abhilfe zu sorgen. Das gilt umso mehr, als nicht ausgeschlossen werden kann, daß weitere, ähnlich schwerwiegende Fälle existieren.

III.

Auch die Auflage aus dem Haftverschonungsbeschluss, der das Verbot der Kontaktaufnahme des Beschwerdeführers mit seiner Ehefrau und seinen Kindern und Stiefkindern vorsieht, hat unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit noch Bestand. Der Haftbefehl gibt als einzigen Haftgrund Verdunklungsgefahr an. Der naheliegende Haftgrund der Fluchtgefahr ist vom Amtsgericht nicht einmal erörtert worden und wird auch vom Landgericht nicht aufgeführt. Für den Haftgrund der Verdunklungsgefahr gibt es jetzt noch konkrete Anhaltspunkte. So hat nach der Anklageschrift der Beschwerdeführer seiner Ehefrau gegenüber seinen Zorn darüber gezeigt, dass sie ihm Vorhaltungen wegen seiner sexuellen Attacken auf die Geschädigte K... F... gemacht hat. Er hat nach der Anklageschrift B... und K... F... im angetrunkenen Zustand mit dem Messer bedroht und Todesdrohungen gegen sie ausgesprochen. Der Beschwerdeführer hat in der Vergangenheit bereits ein Kind der Familie zu Tode gebracht und soll gemäß Anklage sich über einen langen Zeitraum hinweg in einer Vielzahl von Fällen gewaltsam an seiner Stieftochter vergangen haben. Unter diesen Umständen reicht die Möglichkeit aus, dass er bereits durch seine Anwesenheit in der Familie, die wahrscheinlich Furcht vor ihm empfindet, die Gefahr heraufbeschwört, die Geschädigte und auch seine Ehefrau würden sich nicht wagen, sich zu den ihm vorgeworfenen Straftaten zu äußern.

Eine gesetzliche Grundlage für eine Meldeauflage, wie sie im Haftverschonungsbeschluss vom 4. Januar 2001 vorgesehen ist, gibt es dagegen nicht. Da der Haftbefehl als einzigen Haftgrund für die Verdunklungsgefahr aufführt und eine Fluchtgefahr nicht für gegeben hält, besteht kein Grund für eine Meldeauflage. Der Verdunklungsgefahr kann nämlich durch eine Meldeauflage nicht begegnet werden. Jedenfalls ist die Meldeauflage nicht geeignet, der vom Landgericht offenbar als einzigen Haftgrund angesehenen Verdunklungsgefahr entgegenzuwirken. Deshalb hatte der Senat die Meldeauflage aufzuheben.

IV.

Die Kostenentscheidung und die Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers ergibt sich aus § 473 Abs. 1 S. 1 StPO. Es bestand keine Veranlassung dafür, der Staatskasse einen Teil der Kosten des Beschwerdeverfahrens aufzuerlegen, da der vom Beschwerdeführer erzielte Erfolg nur von geringem Gewicht ist.

Ende der Entscheidung

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