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Beginn der Entscheidung

Gericht: Brandenburgisches Oberlandesgericht
Urteil verkündet am 16.08.2006
Aktenzeichen: 7 U 25/06
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 104 Nr. 2
ZPO § 56 Abs. 1
ZPO § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Brandenburgisches Oberlandesgericht Im Namen des Volkes Urteil

7 U 25/06 Brandenburgisches Oberlandesgericht

Anlage zum Protokoll vom 16.8.2006

Verkündet am 16.8.2006

In dem Rechtsstreit

hat der 7. Zivilsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 19.7.2006 durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Boiczenko, den Richter am Oberlandesgericht Hein und den Richter am Oberlandesgericht Werth

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil der 12. Zivilkammer des Landgerichts Potsdam vom 27.12.2005 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die 12. Zivilkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Für die Berufung werden Gerichtskosten nicht erhoben. Im Übrigen bleibt die Entscheidung über die Kosten der Entscheidung des Landgerichts vorbehalten.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe:

I.

Die Klägerin nimmt die Beklagte, die in der Zeit ab 1987 bis 2000 deren Geschäftsführerin war, auf Zahlung vom 25.000 € nebst 5 % Zinsen über den Basiszinssatz ab 1.1.2002 in Anspruch.

Über diese Forderung hat die Klägerin den Vollstreckungsbescheid des Amtsgerichts Rendsburg vom 9.2.2005, Geschäftsnummer: 5 B 4281/04, erwirkt, der der Beklagten persönlich am 23.2.2005 zugegangen ist. Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 1.4.2005, der am 4.4.2005 beim Amtsgericht Rendsburg eingegangen ist, hat die Beklagte Einspruch eingelegt.

Die Klägerin hat beantragt,

den Vollstreckungsbescheid des Amtsgerichts Rendsburg, Geschäftsnummer: 5 B 4281/04, aufrecht zu erhalten,

hilfsweise,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 25.000 € nebst 5 % Zinsen über den Basiszinssatz ab 1.1.2002 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

den Vollstreckungsbescheid aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen.

Das Landgericht hat durch Urteil vom 27.12.2005 den Einspruch der Beklagten als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Vollstreckungsbescheid am 23.2.2005 wirksam zugestellt und daher der Einspruch am 4.4.2005 verspätet eingelegt worden sei. Die Beklagte sei als prozessfähig anzusehen, nachdem im Betreuungsverfahren ein Einwilligungsvorbehalt nicht angeordnet worden sei. Aus dem Gutachten des Sachverständigen H... im Betreuungsverfahren ergebe sich nicht eine Geschäftsunfähigkeit nach § 104 Nr. 2 BGB. Auch eine partielle Prozessunfähigkeit könne nicht angenommen werden. Sie folge nicht aus dem vom Landgericht Berlin eingeholten Gutachten des Sachverständigen Z.... Dieser führe zwar auf Seite 17 seines Gutachtens aus, dass die Beklagte infolge einer chronifizierten depressiven Verstimmung prozessunfähig sei. Die übrigen Ausführungen des Sachverständigen, insbesondere auf den Seiten 10 und 11 des Gutachtens, ließen jedoch nur den Schluss darauf zu, dass die Beklagte prozessfähig sei.

Gegen dieses Urteil, das ihr am 6.1.2006 zugestellt worden ist, hat die Beklagte am 25.1.2006 Berufung eingelegt und diese am 6.3.2006 begründet.

Die Beklagte beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Potsdam vom 27.12.2005 den Vollstreckungsbescheid des Amtsgerichts Rendsburg vom 9.2.2005, Geschäftsnummer: 5 B 4281/04, aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hat vorsorglich die Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht Potsdam beantragt.

Der Senat hat die Akten des Amtsgerichts Potsdam, Aktenzeichen: 55 XVII 67/03, über das für die Beklagte geführte Betreuungsverfahren beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

II.

Die zulässige Berufung führt gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückweisung der Sache an das Gericht des ersten Rechtszugs.

1.

Das Verfahren im ersten Rechtszug leidet an einem wesentlichen Mangel. Denn das Landgericht hat nicht ohne weitere Ermittlungen das Vorliegen der Prozessfähigkeit der Beklagten am 23.2.2005 bejahen dürfen. In dem Unterlassen gebotener Aufklärungsmaßnahmen liegt ein Verstoß gegen die Verfahrensordnung.

Nach der Lebenserfahrung sind Störungen der Geistestätigkeit als Ausnahmeerscheinungen anzusehen, weshalb regelmäßig von der Prozessfähigkeit der Parteien ausgegangen werden kann (BGH NJW 1996, 1059, 1060). Etwas anderes gilt allerdings, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Prozessunfähigkeit vorliegen könnte (BGH NJW 2000, 289, 290; 1996, 1059, 1060). Dann hat das Gericht gemäß § 56 Abs. 1 ZPO von Amts wegen den Sachverhalt aufzuklären (vgl. BGH a.a.O.). Dazu hat es unabhängig von etwaigen Beweisanträgen der Parteien alle in Betracht kommenden Beweise zu erheben, wobei es nicht an die förmlichen Beweismittel des Zivilprozesses gebunden ist, sondern der Grundsatz des Freibeweises gilt (BGH a.a.O.; Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 56 Rn. 8; a.A.: Stein/Jonas/Bork, ZPO, 22. Auflage, § 56 Rn. 7; MünchKomm./Lindacher, ZPO, 2. Aufl., § 51, 52, Rn. 42) und eine Prozessunfähigkeit regelmäßig nicht ohne eine persönliche Anhörung der Partei, in deren Rahmen sich das Gericht einen unmittelbaren Eindruck von ihrer Person verschaffen kann, festgestellt werden kann (BGH NJW 2000, 289, 290; Zöller/Vollkommer a.a.O.). Erst dann, wenn das Gericht alle erschließbaren Erkenntnisquellen fruchtlos erschöpft hat, ist ihm eine Entscheidung nach der Verteilung der Beweislast eröffnet, die indes dann zu Ungunsten der klagenden Partei zu ergehen hat (BGH a.a.O.; Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 56 Rn. 8, 9; MünchKomm./Lindacher a.a.O.).

Diesen Grundsätzen genügt das Verfahren des Landgerichts nicht.

Ein hinreichender Anlass für eine Überprüfung der Prozessfähigkeit der Beklagten am 23.2.2005 hat bereits deshalb bestanden, weil in dem Gutachten des Sachverständigen Z... vom 21.1.2003, von dem sich eine Ablichtung bei den Akten befindet (Bl. 116 ff d. A.), eine Aufhebung der Prozessfähigkeit festgestellt worden ist. Der Sachverständige hat das auf den Seiten 16 und 17 des Gutachtens (Bl. 131 f d. A.) ausdrücklich so ausgeführt. Zur Begründung hat er darauf verwiesen, dass das Verhalten und die Äußerungen der Beklagten darauf hindeuten, dass sie nicht in der Lage ist, das Prozessgeschehen zu verfolgen und im Zusammenwirken mit ihrem Rechtsanwalt auf das Verfahren einzuwirken; die chronifizierte depressive Verstimmung der Beklagten habe eine verbitterte resignative Dauerfehlhaltung hervorgerufen, die ihr eine konstruktive Wahrnehmung der eigenen Interessen im Verfahren verwehre.

Auf das Vorliegen einer - wenigstens partiellen (vgl. Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 52 Rn. 4) - Prozessunfähigkeit deutet weiter die Einrichtung der Betreuung mit dem Aufgabenkreis der Vertretung der Beklagten in - näher bezeichneten - Rechtsangelegenheiten hin. Denn eine Betreuung wird gemäß § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB eingerichtet, wenn der Betroffene aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann. Dazu hat im Rahmen des Betreuungsverfahrens der Sachverständige H... im Gutachten vom 13.8.2004 festgestellt, dass die Beklagte unter einer Angststörung mit Panikattacken leide, die dazu führe, dass sie ihre Angelegenheiten im gerichtlichen Verfahren nicht selbst wahrnehmen könne. Auch dieser Befund ist dem Landgericht aus den Akten des Amtsgerichts Potsdam über das Betreuungverfahren, die es ebenfalls beigezogen hatte, bekannt gewesen.

Etwas anderes folgt nicht daraus, dass die Einrichtung einer Betreuung weder eine Geschäftsunfähigkeit des Betroffenen voraussetzt (Palandt/Diederichsen, BGB, 64. Aufl., § 1896, Rn. 13) noch zu einer solchen führt (Palandt/Heinrichs, a.a.O., Rn. 2a vor § 104). Das bedeutet nur, dass es im Rahmen des Betreuungsverfahrens einer Überprüfung und Beurteilung der Geschäftsfähigkeit nicht bedarf, ohne dass daraus weitere Schlüsse über den Zustand des Betroffenen gezogen werden können.

Dasselbe gilt für den Umstand, dass das Amtsgericht Potsdam im Betreuungsverfahren einen Einwilligungsvorbehalt nicht angeordnet hat. Auch das sagt über die Geschäfts- und Prozessfähigkeit der Betroffenen nichts aus, sondern bringt lediglich zum Ausdruck, dass diese Maßnahme gemäß § 1903 Abs. 1 Satz 1 BGB zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für ihre Person oder ihr Vermögen nicht erforderlich - gewesen - ist.

Den vorhandenen Anhaltspunkten für eine Prozessunfähigkeit der Beklagten können auch nicht die vom Landgericht in Bezug genommenen Ausführungen auf den Seiten 10 und 11 des Gutachtens des Sachverständigen Z... vom 28.1.2003 (Bl. 125 f d. A.) entgegengehalten werden. Der Senat vermag hier schon nicht eine Dunkelheit oder Unklarheit des Gutachtens zu erkennen; denn der Sachverständige hat in der Zusammenfassung der von ihm erhobenen Befunde auf den Seiten 15 bis 17 des Gutachtens (Bl. 130 bis 132 d. A.) nicht etwa eine Wahnerkrankung oder sonstige Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten der Beklagten festgestellt, sondern - wie erwähnt - eine chronifizierte depressive Verstimmung diagnostiziert, die sie zur Wahrnehmung ihrer Angelegenheiten in gerichtlichen Verfahren nicht in der Lage sein lässt. Aber auch dann, wenn man die Zweifel des Landgerichts an der Richtigkeit und Überzeugungskraft des Gutachtens teilen wollte, würde das den Anhalt für eine Prozessunfähigkeit der Beklagten nicht abschließend ausräumen, sondern - zumindest - eine ergänzende Anhörung des Sachverständigen nach § 411 Abs. 3 ZPO gebieten (vgl. Zöller/Greger, a.a.O., § 411 Rn. 5).

Nach alledem hätte das Landgericht die Frage der Prozessfähigkeit der Beklagten am 23.2.2005 - weiter - aufklären müssen. Dabei durfte es - wie indes geschehen - sich nicht auf die Würdigung der vorhandenen Gutachten der Sachverständigen Z... und H... beschränken. Das folgt bereits daraus, dass die Gutachten die Frage der Prozessfähigkeit zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt nicht zum Gegenstand haben. Die Gutachten sind nämlich am 28.1.2003 und am 13.8.2004 und damit in einem nicht unerheblichen zeitlichen Abstand davor erstellt worden. Da - wie ausgeführt - im Betreuungsverfahren eine Überprüfung der Geschäfts- und Prozessfähigkeit nicht stattfindet, kann ungeachtet dessen aus dem Fehlen entsprechender Ausführungen im Gutachten des Sachverständigen H... nicht darauf geschlossen werden, dass die Beklagte prozessfähig - gewesen - ist. Ebenso kann im Lichte des dargestellten Befunds des Sachverständigen Z... nicht davon ausgegangen werden, dass die Ausführungen des Sachverständigen H... zur Intelligenz und Konzentrations-, Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit der Beklagten auf der Seite 8 seines Gutachtens (Bl. 79 der Betreuungsakten) sowie die Feststellung ihrer Vollmachtsfähigkeit (Bl. 81 der Betreuungsakten) das Vorliegen einer - wenigstens partiellen - Prozessunfähigkeit ausschließen.

Eine weitere Aufklärung ist auch möglich. In Betracht kommen dazu ergänzende Anhörungen der Sachverständigen Z... und H... ebenso wie die Einholung eines - weiteren - Sachverständigengutachtens zur Frage des Vorliegens der Prozessfähigkeit am 23.2.2005 als das im Rahmen der nach § 56 Abs. 1 ZPO gebotenen Prüfung stets probate Mittel (vgl. BGH NJW 1996, 1059, 1060; Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 56 Rn. 8). Ebenso ist an eine Vernehmung von Zeugen zu denken, die über den Zustand der Betroffenen am 23.2.2005 Auskünfte zu geben in der Lage sein könnten. Als Zeugen kommen nach derzeitigem Sach- und Streitstand in Betracht die im Gutachten des Sachverständigen H... genannte Frau W..., die dem Sachverständigen gegenüber fremdanamnestische Angaben über die Beklagte gemacht hat, Herr Rechtsanwalt R... W..., der seit dem Beschluss des Amtsgerichts Potsdam vom 13.2.2004 (Bl. 37 f der Betreuungsakte) als Betreuer fungiert, sowie eine Frau R..., die der Prozessbevollmächtigte der Beklagten in der mündlichen Verhandlung am 19.7.2006 als eine weitere Freundin der Beklagten genannt hat. Ebenso ist die persönliche Anhörung der Beklagten durch das Gericht zu erwägen, auf die - wie dargestellt - für eine Feststellung der Prozessunfähigkeit ohnehin nicht verzichtet werden kann.

Die Frage der Prozessfähigkeit der Beklagten am 23.2.2005 ist auch von entscheidungserheblicher Bedeutung. Ist sie nicht gegeben gewesen, so ist der Beklagten an diesem Tag der Vollstreckungsbescheid gemäß § 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO nicht wirksam zugestellt worden mit der Folge, dass nach §§ 700 Abs. 1, 339 Abs. 1 ZPO der Einspruch am 4.4.2005 trotz des Verstreichens eines Zeitraums von mehr als zwei Wochen rechtzeitig eingelegt worden wäre.

2.

Aufgrund des Mangels des erstinstanzlichen Verfahrens ist eine umfangreiche Beweisaufnahme nötig. Denn es muss - wie dargestellt - unter Erschöpfung aller erschließbaren Erkenntnisquellen die Frage der Prozessfähigkeit der Beklagten am 23.2.2005 aufgeklärt werden. Im Hinblick auf die dazu in Betracht kommenden Maßnahmen wird auf die vorstehenden Ausführungen Bezug genommen, ohne dass abgesehen werden kann, ob es etwa bei der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens oder der ergänzenden Anhörung eines oder beider der im Vorstehenden genannten Sachverständigen sein Bewenden haben kann.

3.

Den nach § 538 Abs. 1 Satz 1 a.E. ZPO erforderlichen Antrag auf Zurückverweisung hat die Beklagte in der Berufungsbegründung (Bl. 175 d. A.) gestellt.

4.

Über die außergerichtlichen Kosten der Parteien in der Berufung ist zusammen mit der Hauptsache durch das Landgericht zu entscheiden. Die Gerichtskosten im Berufungsrechtszug sind nach § 21 GKG niederzuschlagen, weil sie ohne den Verfahrensfehler, der zur Aufhebung und Zurückverweisung führt, nicht angefallen wären.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit gemäß § 708 Nr. 10 ZPO ergeht im Hinblick auf §§ 775, 776 ZPO. Vollstreckungsschutzanordnungen sind nicht angezeigt.

Die Zulassung der Revision ist nicht veranlasst, da weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert, § 543 Abs. 2 ZPO.

Ende der Entscheidung

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