Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Brandenburgisches Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 17.09.2008
Aktenzeichen: 9 WF 245/08
Rechtsgebiete: ZPO, BGB, FGG


Vorschriften:

ZPO § 90
ZPO §§ 567 ff.
ZPO § 620 a
ZPO § 621 a Abs. 1
ZPO § 620 c
ZPO § 621 g
BGB §§ 1666 ff.
FGG § 12
FGG § 13
FGG § 50 a Abs. 1
FGG § 50 a Abs. 2
FGG § 50 a Abs. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor: Die sofortige Beschwerde der Kindesmutter gegen den Beschluss des Amtsgerichts Cottbus vom 15.7.2008 - Az.: 53 F 213/08 - wird zurückgewiesen.

Die Kindesmutter hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Der Wert der Beschwerde wird auf 500 € festgesetzt.

Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe: I.

Die Kindesmutter, welche die ukrainische Staatsangehörigkeit hat, übersiedelte im Jahr 2002 mit dem betroffenen Kind und dem weiteren Kind N., die beide ebenfalls die ukrainische Staatsbürgerschaft haben, nach Deutschland, nachdem sie den deutschen Staatsbürger J. L. geheiratet hatte. Aus der Ehe ist ein weiteres Kind, M. L., hervorgegangen. Der Vater A.s und N.s ist ebenfalls ukrainischer Staatsbürger und lebt in der Ukraine.

A. besucht seit August 2006 die S. Oberschule, in der sie u. a. Schülersprecherin ist. Im Laufe des Jahres 2007 kam es zu Schwierigkeiten in der Ehe der Kindesmutter und zu Problemen zwischen A. und ihrer Mutter sowie dem Stiefvater. Im Sommer 2008 wandte sich A. hilfesuchend an die Sozialarbeiterin bei der S. Oberschule und begab sich am 3.6.2008 in deren Begleitung zum Kinder- und Jugendnotdienst der Stadt C.. Sie gab an, auf Grund von Differenzen mit ihrer Mutter nicht nach Hause zurückkehren zu wollen und bat um Aufnahme. Sie wurde daraufhin in Obhut genommen.

Die Kindesmutter stellte unter dem 26.6.2008 einen Antrag gegen die Stadt C. auf Herausgabe ihrer Tochter im Wege der einstweiligen Anordnung. Unter dem gleichen Datum beantragte das Jugendamt, der Kindesmutter die elterliche Sorge im Wege der einstweiligen Anordnung im Hinblick auf das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitsfürsorge und das Recht zur Beantragung von Sozialleistungen zu entziehen.

Das Amtsgericht hat nach Anhörung des betroffenen Kindes, des Jugendamts, der Kindesmutter und der bestellten Verfahrenspflegerin am 15.7.2008 im Wege der einstweiligen Anordnung der Kindesmutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitsfürsorge und das Recht zur Beantragung von Sozialleistungen für A. S. entzogen, Ergänzungspflegschaft angeordnet und zum Ergänzungspfleger das Jugendamt der Stadt C. bestellt. Wegen der Begründung der einstweiligen Anordnung wird auf den Beschluss vom 15.7.2008 Bezug genommen.

Gegen den ihr am 15.7.2008 zugestellten Beschluss hat die Kindesmutter mit Schriftsatz vom 29.7.2008, eingegangen am selben Tag, sofortige Beschwerde eingelegt, welcher das Amtsgericht nicht abgeholfen hat.

Inzwischen ist die Kindesmutter mit den weiteren Kindern in die Ukraine verzogen. Sie hat durch ihre Verfahrensbevollmächtigte mitteilen lassen, dass sie auf Grund ihrer zerrütteten Ehe kurzfristig nicht nach Deutschland zurückkehren werde. Sie sei auch nicht bereit, an der vom Amtsgericht in der Hauptsache angeordneten Sachverständigen - Begutachtung mitzuwirken.

Mit ihrer Beschwerde rügt die Kindesmutter Verfahrensfehler und macht geltend, die Äußerungen A.s seien unkritisch sowohl durch das Jugendamt als auch durch das Amtsgericht übernommen worden, während man ihre Einlassungen nicht berücksichtigt habe. Im Übrigen liege keine Kindeswohlgefährdung vor. Es bestünde lediglich ein Mutter-Tochter-Konflikt, wie er pubertätsbedingt häufig anzutreffen sei. Es entspreche dem Wohl A.s, wenn diese alsbald zu ihr in die Ukraine übersiedeln würde.

Die Verfahrenspflegerin hat unter dem 29.8.2008 mitgeteilt, es entspreche dem festen Willen A.s, nicht in den elterlichen Haushalt zurückzukehren. Sie könne sich eine Zukunft in der Ukraine nicht vorstellen. Außerdem habe sie keine tragfähige emotionale Beziehung zu ihrer Mutter.

II.

Die sofortige Beschwerde der Kindesmutter ist gemäß §§ 621 g, 620 c, 567 ff. ZPO zulässig. Sie ist jedoch unbegründet.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß §§ 621 g, 620 a ZPO, durch den in das Sorgerecht von Eltern eingegriffen wird, ist zulässig, wenn das Kindeswohl eine derartige Anordnung erfordert, § 1666 BGB.

Die internationale Zuständigkeit des Amtsgerichts, die in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen ist, ist gegeben. Sie richtet sich nach den Vorschriften des Haager Übereinkommens über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 5.10.1961 (MSA). Nach Artikel 1 MSA sind die Gerichte des Staates, in dem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, vorbehaltlich der Artikel 3 bis 5 MSA dafür zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person zu treffen. Nach Artikel 13 Abs. 1 MSA ist das Übereinkommen auf alle Minderjährigen anzuwenden, die - wie A. S. - ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem der Vertragsstaaten haben, ohne dass der Minderjährige selbst die Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaates besitzen muss (Palandt/Heldrich, BGB, 67. Aufl., Anhang zu Art. 24 EGBGB, Rz. 43). Sollen Schutzmaßnahmen, zu denen Einschränkungen gemäß § 1666 BGB, wie der Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts gehören, getroffen werden, so ist gemäß Art. 2 MSA innerstaatliches, mithin deutsches Recht anzuwenden.

Gemäß Art. 3 MSA ist allerdings ein nach dem Recht des Heimatstaates des Kindes (hier der Ukraine) Kraft Gesetzes bestehendes Gewaltverhältnis (wozu auch das Sorgerecht von Eltern gehört) anzuerkennen. Ein Eingriff in ein solches Gewaltverhältnis liegt vor, wenn das ausländische Heimatrecht des Minderjährigen eine derartige Maßnahme nicht zulässt. Das Amtsgericht hat insoweit nicht geprüft, wem das Sorgerecht in Bezug auf A. S. überhaupt zusteht. Zwar ist davon auszugehen, dass die Kindesmutter das Sorgerecht inne hat; diese hat jedoch angegeben, auch der in der Ukraine lebende Kindesvater sei Inhaber des Sorgerechts. Dieser Frage ist das Amtsgericht nicht nachgegangen, was jedenfalls verfahrensrechtlich fehlerhaft war (dazu weiter unten). Im Hinblick auf die Zulässigkeit der getroffenen Anordnung schadet dies jedoch nicht, da ein bestehendes Gewaltverhältnis gemäß Art. 8 MSA nicht ausschließt, dass die Behörden des Aufenthaltstaates - mithin auch die deutschen Gerichte - Maßnahmen zum Schutz des Minderjährigen treffen, soweit er in seiner Person ernstlich gefährdet ist. In Fällen, in denen gemäß §§ 1666 ff. BGB Maßnahmen zu treffen sind, ist in der Regel das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 8 MSA anzunehmen (BGHZ 60, Seite 68; FamRZ 2005, 344).

Das Amtsgericht hat im Ergebnis zu Recht auf der Grundlage von § 1666 BGB (in der Fassung des Gesetzes vom 4.7.2008) im Wege der einstweiligen Anordnung der Kindesmutter Teile des Sorgerechts entzogen und auf einen Ergänzungspfleger übertragen. Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, dass dem Amtsgericht Verfahrensfehler unterlaufen sind. So ist zum einen eine Anhörung des möglicherweise ebenfalls sorgeberechtigten Kindesvaters, dessen Anschrift die Kindesmutter nach ihren eigenen Aussagen kennt, unterblieben. Die Beteiligung des Kindesvaters war gemäß § 50 a Abs. 1 FGG grundsätzlich geboten. Selbst wenn dem Kindesvater die elterliche Sorge nicht zustehen sollte, was das Amtsgericht im Hauptsacheverfahren zu ermitteln haben wird, so ist er gemäß § 50 a Abs. 2 FGG anzuhören. Allerdings kann im Rahmen der einstweiligen Anordnung wegen Eilbedürftigkeit eine Anhörung gemäß § 50 a Abs. 3 FGG unterbleiben, soweit dies wegen Gefahr in Verzug notwendig ist. Hierfür spricht im vorliegenden Fall Einiges, da die Anschrift des Kindesvaters, der in der Ukraine lebt, nicht bekannt ist, Ermittlungen zu seinem Sorgerecht auch hinsichtlich ukrainischen Rechts erforderlich erscheinen und der Kindesvater sich in den letzten Jahren offensichtlich damit zufrieden gegeben hat, dass die Kindesmutter die elterliche Sorge allein wahrnimmt. Seine Anhörung hat jedoch unverzüglich nachträglich stattzufinden.

Des Weiteren hat das Amtsgericht über den Antrag der Kindesmutter, ihren Ehemann als Beistand zuzulassen, im Termin vom 10.7.2008 nicht entschieden und den Ehemann nicht als Beistand zugelassen, was sich jedoch auf die Zulässigkeit der getroffenen Anordnung nicht auswirkt. Anwendbar ist nicht § 13 FGG, sondern § 90 ZPO in Verb. mit § 621a Abs. 1 ZPO. Da für das Verfahren vor dem Amtsgericht kein Anwaltszwang bestand, hätte der Beistand zugelassen werden können. Zur Gewährleistung eines geordneten und fairen Verfahrens hätte über die Zulassung zu Beginn der Anhörung am 10.7.2008 entschieden werden müssen. Die Kindesmutter ist jedoch durch eine Rechtsanwältin als Verfahrensbevollmächtigte vertreten worden; ihr wurde ausreichend rechtliches Gehör vor Erlass der Eilentscheidung gewährt. Die Verfahrensbevollmächtigte hat insbesondere nicht ausdrücklich eine Entscheidung über das Gesuch auf Beistandschaft vor der Anhörung verlangt. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die unterlassene Entscheidung zu Lasten der Kindesmutter ausgewirkt hat.

Dass der Kindesmutter bei der Anhörung am 10.7.2008 kein Dolmetscher zur Seite gestellt worden ist, stellt sich nicht als verfahrensfehlerhaft dar. Die anwaltlich vertretene Kindesmutter hat zu keinem Zeitpunkt zu erkennen gegeben, dass sie eines Dolmetschers bedurfte. Das Amtsgericht konnte deshalb davon ausgehen, dass auf den Dolmetscher verzichtet werden konnte, weil die Kindesmutter der deutschen Sprache mächtig ist (§185 GVG). Mit der Beschwerde ist auch nicht dargetan worden, was die Kindesmutter bei ihrer Anhörung anders oder zusätzlich vorgetragen hätte, wenn ein Dolmetscher anwesend gewesen wäre.

Was die Rüge der unterlassenen Tatsachenfeststellung durch Vernehmung des Ehemanns der Kindesmutter angeht, so obliegt es dem Gericht, welche Ermittlungen im Rahmen von § 12 FGG für erforderlich gehalten werden, um die Tatsachengrundlage zu ermitteln. Im Rahmen der im Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung durfte die Vernehmung von Zeugen unterbleiben.

Soweit die Beschwerdeführerin rügt, dass die Tatsachenfeststellung einseitig auf der Basis der Darstellung des betroffenen Kindes erfolgt sei, so ist zuzugestehen, dass sich dieser Eindruck in der Tat aufdrängt. Sowohl die Sozialarbeiterin bei der S. Oberschule, als auch die Mitarbeiter des Jugendamtes haben scheinbar die Angaben des betroffenen Kindes für bare Münze genommen und scheinen wenig geneigt, entgegenstehende Bekundungen der Kindesmutter zur Kenntnis zu nehmen. Diese Position hat sich das Amtsgericht zu Eigen gemacht, indem es ohne Auseinandersetzung mit den von der Kindesmutter geäußerten Argumente feststellt, die Kindesmutter zeige, dass sie kein Bewusstsein für die Schwere der Auffälligkeiten ihres Kindes habe und alle pädagogischen Interventionen untergrabe. Die Mutter sei gleichgültig dem Kind gegenüber und nicht in der Lage, auf die psychischen Probleme ihrer Tochter einzugehen. Diese Bewertung steht nicht vollständig im Einklang mit den ausführlichen Angaben im Protokoll der Jugendhilfe vom 24.6.2008. Darin wird an mehreren Stellen offenbart, dass sich die Kindesmutter durchaus um Beratung bemüht hat, wenn sie auch nicht auf jedes ihr gemachte Angebot eingegangen ist. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass sich hier möglicherweise eine pubertierende Jugendliche, die sich von ihrer Mutter nicht verstanden fühlt und die auf keinem Fall in die Ukraine zurückreisen möchte, der Hilfe von Erwachsenen und Ämtern bedient, um in manipulativer Art und Weise ihren Willen durchzusetzen. Es mag sich bei den zwischen Mutter und Tochter unzweifelhaft bestehenden Schwierigkeiten durchaus um einen typischen Pubertätskonflikt handeln, verschärft durch die Auseinandersetzung zwischen der Kindesmutter und deren Ehemann, der Existenz jüngerer Geschwister und der Angst, aus der gewohnten und vertrauten Umgebung in eine andere Umgebung gebracht zu werden.

Die von A. geschilderten "Übergriffe" stellen sich nicht als so schwerwiegend dar, dass sie ein Eingreifen in das Sorgerecht gebieten. Was die geschilderte (einmalige) körperliche Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter angeht, so ist diese schon nach der Schilderung des betroffenen Kindes von A. selbst ausgegangen, wobei eine Überreaktion der Kindesmutter zwar nicht hingenommen werden kann, aber nicht auf eine massive Gefährdung des Kindeswohls hindeuten muss. Ebenso wenig ist die Reaktion der Kindesmutter auf den von A. geschilderten "sexuellen Übergriff" des kleinen Bruders als Kindeswohlgefährdung anzusehen. Die Kindesmutter hat die Sorgen A.s in diesem Zusammenhang nicht etwa abgetan, sondern sich an eine Beratungsstelle gewandt und im Ergebnis dieser Beratung ihre Tochter darüber informiert, dass man die Äußerungen des erst 12-jährigen Bruders nicht überbewerten solle. Dies zeigt zum einen, dass sie die Sorge ihrer Tochter durchaus ernst genommen hat, und zum anderen bereit war, sich darum zu kümmern, wie mit der Sache umgegangen werden sollte. Ihr Verhalten kann hier keinesfalls als Gefährdung für das Wohl A.s aufgefasst werden.

Soweit Bedenken im Hinblick auf die damals beabsichtigte, möglicherweise zeitweise, möglicherweise dauerhafte, Rückübersiedlung in die Ukraine im Mittelpunkt der Überlegungen der Schulsozialarbeiterin und der Mitarbeiter des Jugendamtes bzw. der Jugendhilfeeinrichtung standen, mag der Wunsch des Kindes, in Deutschland zu bleiben, wo A. sich offensichtlich wohl fühlt, verständlich sein. Einen Anlass für Eingriffe in das elterliche Sorgerecht bietet die Absicht einer ukrainischen Staatsbürgerin, mit ihrer minderjährigen Tochter, die ebenfalls ukrainische Staatsbürgerin ist, nach einigen Jahren des Aufenthalts in Deutschland wieder in die Ukraine überzusiedeln, grundsätzlich nicht. Zu berücksichtigen ist zudem, dass dort weitere Verwandte leben, unter anderem die Großeltern des Kindes, bei denen dieses teilweise aufgewachsen ist.

Die Vorschrift des § 1666 BGB ist Ausprägung des dem Staat gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG obliegenden Wächteramtes. Der grundrechtliche Schutz der Familie setzt die Überzeugung voraus, die Interessen des Kindes könnten in aller Regel am besten von den sorgeberechtigten Eltern wahrgenommen werden, und zwar auch dann, wenn dabei im Einzelfall wirkliche oder vermeintliche Nachteile des Kindes durch bestimmte Entscheidungen der Eltern in Kauf genommen werden müssen. Staatliche Maßnahmen können deshalb erst dann eingreifen, wenn die Eltern ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. Diese Schranken, die der Eingriffsnorm des § 1666 BGB zu Grunde liegen, sind insbesondere in den Fällen zu beachten, in denen es nicht um unmittelbar auf das Kind bezogene Entscheidungen der Eltern geht, sondern um Fragen der gemeinsamen familiären Lebensgestaltung, von denen das Kind nicht als Objekt elterlicher Sorge, sondern als Mitglied der Familiengemeinschaft betroffen ist. Die Lebensbedingungen von Kindern werden grundsätzlich durch das familiäre Umfeld geprägt (BayObLG, BayObLGZ 1993, 203).

Um eine derartige Frage der allgemeinen Lebensgestaltung geht es auch bei der Entscheidung darüber, ob die Kindesmutter mit den Kindern in ihre Heimat zurückgeht. Entscheidet sich die Kindesmutter für die Rückkehr, so wird dadurch notwendigerweise auch das minderjährige Kind betroffen. Nach ganz herrschender Auffassung können auch mögliche ungünstigere Entwicklungsbedingungen in einem fremden Land (zu denen hier nicht einmal etwas festgestellt worden ist) für sich allein keine Gefährdung des Kindeswohls darstellen, insbesondere wenn die Familie aus dem betroffenen Land stammt (BVerfGE 72, 122; BayObLG, FamRZ 1997, 954).

Im vorliegenden Fall haben sich anscheinend einige der von A. um Hilfe Gebetenen davon leiten lassen, dass sie für A. eine bessere Zukunft in ihrem gewohnten Umfeld in Deutschland sehen als in der Ukraine. Es ist jedoch weder Sache des Jugendamts, noch des Familiengerichts, anstelle des sorgeberechtigten Elternteils eine vermeintlich günstigere Entscheidung für die weitere Entwicklung des Kindes und sein Lebensumfeld zu treffen. Deshalb kann der Kindesmutter auch grundsätzlich nicht vorgeworfen werden, dass sie mit Vehemenz auf ihrem Recht bestanden hat, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen.

Gleichwohl kann ein Einschreiten des Familiengerichts geboten sein, wenn im Einzelfall besondere Umstände hinzutreten, aus denen sich eine Gefährdung des Kindeswohls ergibt (BayObLG, FamRZ 1997, 954). Eine derartige Gefährdung des Kindeswohls hat das Amtsgericht letztendlich zu Recht angenommen. Zum einen ist das Verhältnis zwischen der immerhin fast 16-jährigen Tochter und ihrer Mutter nachhaltig gestört. Hierzu hat auch das Verhalten der Kindesmutter beigetragen.

A. befindet sich in einer schwierigen Situation. Sie hat zunächst die erheblichen Eheprobleme ihrer Mutter und ihres Stiefvaters mitbekommen, ohne dass die Kindesmutter auf Probleme eingegangen ist, die A. daraus erwachsen sind. Die Kindesmutter hat insoweit mehrfach betont, ihre Eheprobleme gingen niemandem etwas an. Noch bei ihrer Anhörung vor dem Amtsgericht am 10.7.2008 und in der Beschwerdebegründung vom 1.8.2008 hat die Kindesmutter jegliche Trennungsabsicht geleugnet. Ebenso hat sie stets verneint, dauerhaft in die Ukraine zurückkehren zu wollen. Es war stets sowohl gegenüber A. als auch gegenüber den Behörden nur davon die Rede, dass entweder A. "in Urlaub" in die Ukraine geschickt werden sollte oder aber dass die Kindesmutter mit den Kindern dort einen Urlaub verbringen wollte. Noch im August ist die Kindesmutter nicht nur in die Ukraine zu ihren Eltern zurückgekehrt, sondern hat auch mitteilen lassen, dass sie auf Grund eines schwerwiegenden Zerwürfnisses mit ihrem Ehemann nicht beabsichtige, in naher Zukunft nach Deutschland zurückzukehren. Außerdem hat sie deutlich zu erkennen geben, dass sie sich einer Begutachtung, wie im Beweisbeschluss des Amtsgerichts zur Hauptsache angeordnet, nicht unterziehen werde. Damit hat sie insgesamt deutlich werden lassen, dass sie ihre eigenen Interessen und Probleme jedenfalls derart in Anspruch nehmen, dass sie nicht in der Lage scheint, auf ihre Tochter einzugehen. Es ist offensichtlich, dass A. sich eine Rückkehr in die Ukraine nicht vorstellen kann und diese massiv ablehnt. Auf die Gründe für diese Ablehnung ist die Kindesmutter nicht eingegangen. Sie hat vielmehr auf ihrem Recht gepocht, die Tochter mit sich zu nehmen. Ein echtes Interesse zu erfahren, wie es ihrer Tochter geht und warum diese sich so eindeutig gegen eine Rückkehr in die Ukraine stellt, war nicht erkennbar. Durch ihre - gemessen an den eigenen Angaben der Kindesmutter im Verfahren - überstürzte "Flucht" in die Ukraine unter Zurücklassung des Kindes wird ebenfalls deutlich, dass die Kindesmutter derzeit nicht in der Lage ist, sich auf die Schwierigkeiten ihrer ältesten Tochter einzustellen.

Zudem muss berücksichtigt werden, dass A. bereits die Erfahrung gemacht hat, den Entscheidungen ihrer Mutter über den Aufenthaltsort ausgeliefert zu sein. Als sie noch in der Ukraine wohnte, arbeitete ihre Mutter in wechselnden Intervallen im Ausland, sodass A. mit ihrem Bruder teils bei den Großeltern, teils bei Dritten lebte. Auf Grund der Heirat ihrer Mutter mit Herrn L. hatte sie sodann im Alter von etwa 10 Jahren nach Deutschland auszureisen, wo sie sich inzwischen eingewöhnt hat. Eine Entscheidung, aus welchem Grund und zu welcher Zeit eine erneute Übersiedlung in die Ukraine geplant war, hat die Kindesmutter ihrer Tochter nicht vermitteln können. Gelegentliche Hinweise, dass der Vater in der Ukraine lebe und eine Übersiedlung dorthin möglich sei, wurden von A. jeweils als Drohung verstanden, sie "abzuschieben". Dies beruht auch darauf, dass die Kindesmutter zu einer eventuellen Rückkehr in die Ukraine keine klaren Mitteilungen gemacht und insbesondere nicht versucht hat, ihrer Tochter eine getroffene Entscheidung zu erklären, wenn sie schon nicht bereit war, eine solche mit ihr abzustimmen. Dies alles deutet darauf hin, dass die Kindesmutter A.s Recht auf Achtung und freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit nicht erkannt und respektiert hat.

Dies hat dazu geführt, dass A. sich mit Vehemenz einer Rückkehr zu ihrer Mutter widersetzt. Auch daraus erwächst eine Gefahr für das Kindeswohl, denn es ist nicht auszuschließen, dass A. ihre wiederholt geäußerten Suiziddrohungen möglicherweise ernst meinen könnte. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass diese Äußerungen eher manipulativer Art sind und gezielt eingesetzt werden, um bei ihr wohl gesonnenen Erwachsenen Unterstützung zu finden. Es besteht jedoch - wie das Amtsgericht zu Recht angenommen hat - die ernsthafte Möglichkeit, dass hier in der Tat eine Selbstgefährdung vorliegt. Dass A. alles daransetzt, um nicht in die Ukraine zu ihrer Familie ausreisen zu müssen, hat sich im Laufe des Verfahrens bestätigt und wird durch den aktuellen Bericht der Verfahrenspflegerin vom 11.8.2008 gestützt. Jedenfalls im Rahmen der getroffenen Eilentscheidung können hierzu keine vertieften Feststellungen getroffen werden. Eine nähere Aufklärung der Frage, ob eine ernsthafte Gefährdung des Kindeswohls vorliegt, wird sich erst durch das Ergebnis der Begutachtung herausstellen können, die das Amtsgericht in der Hauptsache angeordnet hat. Im Hinblick auf die von A. geäußerten Suizidabsichten hat die Kindesmutter in der Tat nicht erkennen lassen, dass sie eine erhebliche psychische Belastung ihrer Tochter überhaupt in Betracht zieht. Sie hat vielmehr A.s Verhalten pauschal als Schauspielerei abgetan. Ohne eine sachverständige Begutachtung besteht jedoch die Gefahr, dass das körperliche und/oder seelische Wohl von A. nachhaltig gefährdet wird. Dass die Kindesmutter nicht in der Lage ist, diese Gefahr abzuwenden, ist ebenfalls nachhaltig zu besorgen, weil sie nicht geneigt ist, die Probleme der Tochter Ernst zu nehmen. Auf Grund der Neufassung des § 1666 durch Gesetz vom 4.7.2008 ist diese Feststellung ausreichend, um Maßnahmen zu ergreifen. Der Feststellung eines Erziehungsversagens der Kindesmutter bedarf es darüber hinaus nicht.

Schließlich vertritt der Senat in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass vollzogene amtsgerichtliche Eilentscheidungen zur elterlichen Sorge, die nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten und der Jugendämter ergangen sind, im Beschwerdeverfahren nur aus besonders triftigen Gründen abgeändert werden dürfen, da ein Wechsel des Kindes zwischen Eltern und Dritten im laufenden Verfahren grundsätzlich nicht dem Kindeswohl entspricht. Dies gilt insbesondere, wenn damit ein Wechsel im gesamten Lebensumfeld des Kindes verbunden wäre (OLG Brandenburg, FamRZ 2004, 210; OLG Dresden, FamRZ 2003, 1306; Gießler/Soyka, vorläufiger Rechtsschutz in Ehe-, Familien- und Kindschaftssachen, 4. Aufl., Rz. 1061). In der Regel kann es einem Kind nicht zugemutet werden, sich für den in der Regel nur kurzen Zeitraum bis zum Erlass einer Entscheidung in der Hauptsache wiederum auf eine Veränderung seiner Lebensumstände einzustellen und das geschützte Umfeld zu verlassen. Gründe, die es hier geboten erscheinen ließen, die Entscheidung in der Hauptsache nicht abzuwarten, liegen nicht vor.

Die Entscheidung über die Beschwerde konnte ausnahmsweise ohne Anhörung der Beteiligten getroffen werden. Das Amtsgericht hat das betroffene Kind, die Kindesmutter, das Jugendamt und die Verfahrenspflegerin eingehend angehört und das Ergebnis der Anhörung in einem sehr ausführlichen Protokoll niedergelegt. Die Beteiligten haben außerdem schriftlich Angaben gemacht. Die Anhörung des Amtsgerichts liegt erst etwa zehn Wochen zurück. Von einer erneuten Anhörung verspricht sich der Senat keine weitergehenden Erkenntnisse. Insbesondere konnte die Kindesmutter schon deshalb nicht erneut angehört werden, weil sie angekündigt hat, in absehbarer Zeit nicht aus der Ukraine wieder nach Deutschland anreisen zu wollen. Ihren Standpunkt hat sie durch ausführliche Schriftsätze ihrer Verfahrensbevollmächtigten vortragen lassen.

Der Senat weist darauf hin, dass sich das Amtsgericht auch noch mit der Frage zu beschäftigen haben wird, ob über den Herausgabeantrag der Kindesmutter noch entschieden werden muss. Ob das Amtsgericht mit der angefochtenen Entscheidung auch über den Antrag der Kindesmutter auf Anordnung der Herausgabe im Wege der einstweiligen Anordnung entscheiden wollte, ist dem Beschluss vom 15.7.2008 nicht zu entnehmen. Insoweit hat sich auch die Kindesmutter im Beschwerdeverfahren widersprüchlich geäußert. Noch in der Beschwerdebegründung (Seite 12 im 2. Abs.) hat sie mitgeteilt, eine zwangsweise Rückkehr des Kindes in den elterlichen Haushalt sei nicht sinnvoll und werde von der Kindesmutter "so nicht gewollt". Im Schriftsatz vom 21.8.2008 (Seite 2 im drittletzten Abs.) wird sodann ausgeführt:

"Die minderjährige A. S. ist demzufolge in die elterliche Sorge in die Ukraine zu entlassen". Inwieweit hier an dem ursprünglich gestellten Antrag festgehalten wird, ist nicht mit hinreichender Sicherheit erkennbar.

Zur im Schriftsatz vom 21.8.2008 durch die Verfahrensbevollmächtigte der Kindesmutter mitgeteilten Anschrift ist noch darauf hinzuweisen, dass die Gerichtssprache Deutsch ist und eine Anschrift in kyrillischen Buchstaben zwar der Schreibweise am Aufenthaltsort entsprechenden mag, jedoch im Verfahren zur Angabe der Anschrift nicht ausreicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Festsetzung des Gegenstandswerts ergibt sich aus § 30 Abs. 2, 3 KostO i. V. m. § 24 Abs. 1 Satz 1 RVG.

Gründe für die Zulassung der Rechtsbeschwerde (§ 574 Abs. 2 ZPO) liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

Zurück