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Gericht: Bundesarbeitsgericht
Urteil verkündet am 21.02.2001
Aktenzeichen: 4 AZR 23/00
Rechtsgebiete: TVG, MTV
Vorschriften:
TVG § 1 Tarifverträge/ Einzelhandel | |
TVG § 4 | |
TVG § 5 | |
MTV Einzelhandel Hessen idF vom 24. September 1996 § 15 Nr. 6 g |
BUNDESARBEITSGERICHT Im Namen des Volkes! URTEIL
Verkündet am 21. Februar 2001
In Sachen
hat der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 21. Februar 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht Schliemann, die Richter am Bundesarbeitsgericht Dr. Friedrich und Dr. Wolter, die ehrenamtlichen Richter Wolf und Dr. Dräger für Recht erkannt:
Tenor:
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 13. September 1999 - 16 Sa 2924/98 - wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand:
Die Parteien streiten um die bezahlte Freistellung des Klägers für die Zeit der Fachgruppenvorstandssitzung am 17. Juni 1997, an der der Kläger als ehrenamtliches Mitglied des Fachgruppenvorstandes Einzelhandel auf Ortsebene seiner Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) teilgenommen hat.
Der am 5. September 1943 geborene Kläger ist bei der Beklagten, einem Unternehmen des Einzelhandels, seit 1. Januar 1978 zu einem Bruttomonatsverdienst von zuletzt 5.688,00 DM beschäftigt. Er ist Mitglied der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) und dort ehrenamtliches Mitglied des Fachgruppenvorstandes Einzelhandel auf Ortsebene. Nach den "Richtlinien für die Fachgruppenarbeit gem. § 25 der Satzung" der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) (jetzt: § 26) haben die Fachgruppenvorstände die Aufgabe, ihre beruflichen und fachlichen Fragen zu beraten und im Orts-/Bezirksverwaltungsvorstand darüber Vorschläge zu unterbreiten. Zum besonderen Aufgabenbereich gehören außerdem die Unterstützung der Orts-/Bezirksverwaltung bei der Gewinnung neuer Mitglieder und der Aufbau von Vertrauenskörpern in den Betrieben und Verwaltungen (Ziff. II 1.5 Abs. 1 und Abs. 2). Die Fachgruppenvorstände auf Orts- und Bezirksebene sind den Orts- und Bezirksverwaltungsvorständen unterstellt. Geschäftsführungsaufgaben nehmen sie nicht wahr (Ziff. I). Am 17. Juni 1997 nahm der Kläger an der Sitzung des Fachgruppenvorstandes Einzelhandel auf Ortsebene teil. Die auf die Sitzungszeit entfallene Arbeitsvergütung von 3 Stunden 47 Minuten in Höhe 132,47 DM brutto bezahlte die Beklagte dem Kläger nicht.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Manteltarifvertrag für den Hessischen Einzelhandel vom 24. September 1996 kraft Allgemeinverbindlichkeit Anwendung.
Mit seiner beim Arbeitsgericht am 28. Januar 1998 eingegangenen Klage verlangt der Kläger nach erfolgloser vorgerichtlicher Geltendmachung durch seine Gewerkschaft die Vergütung für die am 17. Juni 1997 angefallene Sitzung. Er hat die Auffassung vertreten, er gehöre zu dem in § 15 Ziff. 6 g MTV genannten Personenkreis. Mit Schreiben vom 30. September 1975 habe seine Gewerkschaft dem Verhandlungspartner auf Arbeitgeberseite unwidersprochen mitgeteilt, daß zu dem von der Bestimmung betroffenen Personenkreis, nämlich gewählte Funktionsträger entsprechend der HBV-Satzung, unter anderem auch Mitglieder des Fachgruppenvorstandes Einzelhandel (auf Ortsebene) gehörten. Die tarifliche Auslegung der HBV werde bis heute anerkannt und demgemäß auch eine bezahlte Freistellung für den anspruchsberechtigten Personenkreis vorgenommen. Bei den Mitgliedern des Fachgruppenvorstandes würden seit 1975 keine Abzüge anläßlich der Teilnahme an den Sitzungen vorgenommen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 132,47 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit 1. Juli 1997 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, die ehrenamtliche Mitgliedschaft im Fachgruppenvorstand sei keine verantwortliche Funktion iSd. tariflichen Bestimmung. Das Schreiben der HBV aus dem Jahre 1975 sei offensichtlich zunächst als eine Leitlinie zum Entwurf des damaligen Manteltarifvertrages gedacht gewesen. Soweit sich zwischen den Tarifpartnern in der Folgezeit eine bestimmte Praxis bei der Handhabung der Frage, ob jemand verantwortlicher Mandatsträger sei, herausgebildet habe, was durch die Beklagte als Außenseiterin bestritten werde, so könne diese Handhabung der Tarifvertragsparteien allenfalls schuldrechtliche Relevanz für die Anwendung der tariflichen Norm im Verhältnis zwischen den Tarifvertragsparteien haben. Dies schließe Außenseiter nicht ein.
Das Arbeitsgericht hat der Klage bis auf einen Teil der begehrten Zinsen stattgegeben und die Berufung zugelassen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage vollständig abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe:
Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage, soweit sie in die Revisionsinstanz gelangt ist, mit Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf bezahlte Freistellung von der Arbeit für die Zeit der Sitzung des Fachgruppenvorstandes Einzelhandel auf Ortsebene seiner Gewerkschaft. Denn der Kläger ist als Mitglied des Fachgruppenvorstandes Einzelhandel auf Ortsebene kein in verantwortlicher Funktion bei der vertragschließenden Gewerkschaft tätiger Arbeitnehmer im tariflichen Sinne.
1. Für das Arbeitsverhältnis der Parteien gilt der Manteltarifvertrag für den hessischen Einzelhandel vom 24. September 1996 kraft Allgemeinverbindlichkeit unmittelbar und zwingend (§ 5 Abs. 4, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG).
2. Als Anspruchsgrundlage für die vom Kläger geltend gemachte Vergütung kommt allein § 15 MTV Einzelhandel Hessen in Betracht, der ua. lautet:
"6. Dem/Der Arbeitnehmer/in ist ohne Abzug und ohne Anrechnung auf den Urlaub in folgenden Fällen Freistellung von der Arbeit zu gewähren:
a) ...
g) Den Tarifkommissions-Mitgliedern sowie den in verantwortlicher Funktion bei der vertragschließenden Gewerkschaft tätigen Arbeitnehmer/innen ist zur Teilnahme an den Sitzungen in Gewerkschaftsangelegenheiten Freistellung zu gewähren. Die Freistellung der in verantwortlicher Funktion Tätigen darf nicht mehr als zwölf Tage im Jahr umfassen."
3. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Arbeitsvergütung für die Zeit der Teilnahme an der Sitzung des Fachgruppenvorstandes Einzelhandel auf Ortsebene am 17. Juni 1997, weil er insoweit kein in verantwortlicher Funktion bei der vertragschließenden Gewerkschaft tätiger Arbeitnehmer im tariflichen Sinne ist. Das hat das Landesarbeitsgericht zutreffend entschieden. Bei dem Tarifbegriff "in verantwortlicher Funktion bei der vertragschließenden Gewerkschaft tätige Arbeitnehmer/innen" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Bei der Anwendung eines solchen Rechtsbegriffs durch das Berufungsgericht kann das Revisionsgericht nur überprüfen, ob der Begriff als solcher verkannt worden ist oder ob bei der Subsumtion Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt oder wesentliche Umstände nicht berücksichtigt worden sind. Diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab halten die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts stand.
a) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der Sinn und der Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Läßt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (vgl. zB Senat 5. Oktober 1999 - 4 AZR 578/98 - AP TVG § 4 Verdienstsicherung Nr. 15 = EzA TVG § 4 Verdienstsicherung Nr. 8).
b) Die Tarifvertragsparteien haben weder aufgezählt noch anders bestimmt, wen sie als "in verantwortlicher Funktion bei der vertragschließenden Gewerkschaft tätige Arbeitnehmer" ansehen. Mit dem Zusatz "verantwortlich" haben die Tarifvertragsparteien ersichtlich nicht jeden Arbeitnehmer einbezogen, der eine "Funktion" (Aufgabe) innerhalb der Gewerkschaft wahrnimmt. Vielmehr sind mit in verantwortlicher Funktion bei der vertragschließenden Gewerkschaft tätige Arbeitnehmer/innen nur solche gemeint, bei denen die Art der Aufgabenwahrnehmung wegen ihren Auswirkungen auf die Gewerkschaft selbst und/oder ihre Mitglieder über das hinausgeht, was mit jeder Funktion iSd. Wahrnehmung einer Aufgabe einhergeht. Die Tarifvertragsparteien haben nicht alle Funktionsträger einbezogen, sondern nur solche, die auf Grund der ihnen übertragenen Aufgabe für die Gewerkschaft und ihre Mitglieder eine besondere Verantwortung tragen. Das hat das Landesarbeitsgericht unter Hinweis auf die Entscheidung des Senats vom 11. September 1985 (- 4 AZR 57/85 - nv.) zu dem Begriff der "verantwortlichen Mandatsträger" in § 14 Abs. 4 MTV Einzelhandel NRW zutreffend herausgestellt. Unter einem in verantwortlicher Funktion bei der vertragschließenden Gewerkschaft tätigen Arbeitnehmer ist nur ein Funktionsträger mit besonderer Verantwortung zu verstehen. Seine Verantwortung muß sich durch die Auswirkungen ihrer Tätigkeit für die Gewerkschaft oder ihre Mitglieder, durch leitende Funktionen, durch die hervorgehobene Wahrnehmung ideeller oder materieller Belange der Gewerkschaft aus der Verantwortung anderer Arbeitnehmer, die eine Aufgabe innerhalb der Gewerkschaft wahrnehmen, herausheben. Hierbei haben wegen des unbestimmten Rechtsbegriffs der Verantwortung die Tatsacheninstanzen einen weiten Beurteilungsspielraum.
c) Das Landesarbeitsgericht hat mit revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Begründung verneint, daß der Kläger ein "in verantwortlicher Funktion bei der vertragschließenden Gewerkschaft tätiger Arbeitnehmer" ist. Es hat ausgeführt, die Fachgruppenvorstände hätten die Aufgabe, in beruflichen und fachlichen Fragen zu beraten und dem Orts-/Bezirksverwaltungsvorstand darüber Vorschläge zu unterbreiten. Zum besonderen Aufgabenbereich gehörten außerdem die Unterstützung der Orts-/Bezirksverwaltung bei der Gewinnung neuer Mitglieder und der Aufbau von Vertrauenskörpern in den Betrieben und Verwaltungen. Im übrigen seien die Fachgruppenvorstände auf Orts- und Bezirksebene den Orts- und Bezirksverwaltungsvorständen untergeordnet. Geschäftsführungsaufgaben nähmen sie nicht wahr. Das belege nicht die von der tariflichen Norm geforderte "verantwortliche Funktion". Beim Fachgruppenvorstand auf Ortsebene handele es sich vielmehr um einen Funktionsträger, der sicherlich wichtige Aufgaben innerhalb der Gewerkschaftsstruktur wahrzunehmen habe, bei dem aber nicht erkennbar sei, ob seine Tätigkeit so gestaltet sei, daß ihre Auswirkungen auf die Gewerkschaft und die Gewerkschaftsmitglieder über das hinausgingen, was mit jeder Wahrnehmung irgendeiner Funktion innerhalb der Gewerkschaft verbunden sei.
Das entspricht der Satzung der HBV und den Richtlinien für die Fachgruppenvorstände gem. § 25 bzw. § 26 der Satzung. Die Fachgruppenvorstände haben keine besonderen Entscheidungsbefugnisse, sondern vor allem beratende und unterstützende Aufgaben.
d) Das Landesarbeitsgericht hat auch das Schreiben der HBV an den Landesverband des hessischen Einzelhandels e.V. vom 30. September 1975 zum HBV-Entwurf zum Manteltarifvertrag vom 4. Juni 1974 richtig gewürdigt, mit dem sie ihre Vorstellung zu der in § 15 Nr. 6 g MTV Einzelhandel Hessen 1996 entsprechenden Bestimmung des § 12 Abs. 6 g des Entwurfs entwickelt, was den von ihr betroffenen Personenkreis anbelangt. Wenn und weil dieser Personenkreis nicht ganz oder teilweise in die Tarifnorm oder in eine Protokollnotiz zu dieser übernommen worden, sondern es bei dem unbestimmten Rechtsbegriff der "in verantwortlicher Funktion bei der vertragschließenden Gewerkschaft tätige Arbeitnehmer/innen" verblieben ist, ist bei jedem Funktionsträger zu prüfen, ob er unter diesen Begriff fällt, und zwar unabhängig davon, ob die tarifschließende Arbeitgeberseite dieser Zusammenstellung widersprochen hat oder nicht.
e) Das Landesarbeitsgericht ist auch zutreffend davon ausgegangen, für eine Tarifübung dahingehend, Mitglieder von Fachgruppenvorständen auf Ortsebene seien in den Kreis der in § 15 Nr. 6 g MTV Einzelhandel Hessen 1996 streitlos einbezogen worden, sei nicht hinreichend substantiiert vorgetragen worden. Das war erforderlich, nachdem die Beklagte als Außenseiterin zulässig mit Nichtwissen bestritten hatte. Im übrigen scheitert eine tarifliche Übung schon daran, daß jedenfalls in einem Fall nicht gezahlt wurde, worauf der Kläger selbst hingewiesen hat (Urteil Arbeitsgericht Darmstadt 8. Oktober 1992 - 2 Ca 1939/92 -).
Damit erledigt sich auch die Rüge der Verletzung des § 139 ZPO. Im übrigen ist sie unzulässig. Der Kläger trägt nämlich nicht vor, was er auf den von ihm vermißten Hinweis des Gerichts noch vorgebracht hätte.
f) Darauf, ob Verbandsklauseln wie § 15 Nr. 6 g MTV überhaupt Gegenstand einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung sein können, jedenfalls aber eine Übung der Tarifvertragsparteien bzw. ihrer Mitglieder von einer Allgemeinverbindlicherklärung erfaßt wird, kommt es vorliegend nicht mehr an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Ende der Entscheidung
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