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Gericht: Bundesarbeitsgericht
Urteil verkündet am 08.05.2003
Aktenzeichen: 6 AZR 183/02
Rechtsgebiete: BAT-O, Übergangsvorschriften, TV soziale Absicherung


Vorschriften:

BAT-O § 19 Abs. 1
BAT-O § 19 Abs. 2
Übergangsvorschriften Nr. 2 Buchst. a bis c zu § 19
Tarifvertrag zur sozialen Absicherung vom 6. Juli 1992 idF des Änderungstarifvertrages Nr. 4 vom 16. Oktober 2000 (TV soziale Absicherung) § 4 Abs. 1
Tarifvertrag zur sozialen Absicherung vom 6. Juli 1992 idF des Änderungstarifvertrages Nr. 4 vom 16. Oktober 2000 (TV soziale Absicherung) § 4 Abs. 2 Unterabs. 1
Ein geschlossener Teil einer Dienststelle iSv. § 19 Abs. 2 BAT-O setzt voraus, daß der Dienststellenteil in sich eine Verwaltungseinheit bildet, über ein Mindestmaß an Selbständigkeit verfügt und damit von anderen Teilen der Dienststelle organisatorisch abgrenzbar ist.
BUNDESARBEITSGERICHT Im Namen des Volkes! URTEIL

6 AZR 183/02

Verkündet am 8. Mai 2003

In Sachen

hat der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 8. Mai 2003 durch die Vorsitzende Richterin am Bundesarbeitsgericht Schmidt, die Richter am Bundesarbeitsgericht Dr. Armbrüster und Dr. Brühler sowie die ehrenamtlichen Richter Hinsch und Zuchold für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Revision des beklagten Amtes wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 24. Januar 2002 - 1 Sa 255/01 - aufgehoben.

2. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund vom 26. Juni 2001 - 4 Ca 61/01 - wird zurückgewiesen.

3. Die Klägerin hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Höhe der Abfindung nach dem Tarifvertrag zur sozialen Absicherung vom 6. Juli 1992 idF des Änderungstarifvertrags Nr. 4 vom 16. Oktober 2000 (TV soziale Absicherung).

Die Klägerin war seit dem 15. Mai 1974 beim Rat der Gemeinde S als Sachbearbeiterin beschäftigt. Sie wurde von der neu errichteten Gemeinde S als Angestellte übernommen. Dort war sie bis zum 31. Oktober 1991 als Haushaltssachbearbeiterin tätig. Mit Wirkung zum 1. November 1991 stellte die Verwaltungsgemeinschaft Verwaltungsamt T die Klägerin als vollbeschäftigte Angestellte ein. Im Arbeitsvertrag vom 1. November 1991 ist vereinbart, daß sich das Arbeitsverhältnis nach dem BAT-O und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der für den Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) jeweils geltenden Fassung bestimmt.

Die Gemeinde S gehörte dem Verwaltungsamt T an, das die bisher von den einzelnen Gemeinden wahrgenommenen Verwaltungsaufgaben erledigte. Dazu stellte es Verwaltungspersonal der ihm angehörenden Gemeinden ein. Nach der Übertragung ihrer Verwaltungsaufgaben beschäftigte die Gemeinde S keine Verwaltungsangestellten mehr.

Das Verwaltungsamt T wurde mit Inkrafttreten der Amtsordnung für das Land Mecklenburg-Vorpommern vom 18. März 1992 (GVOBl. M-V S. 187) und der ersten Landesverordnung zur Bildung von Ämtern und zur Bestimmung der amtsfreien Gemeinden vom 25. März 1992 (GVOBl. M-V S. 219) in das beklagte Amt überführt. Dieses übernahm im Wege der Änderung des Arbeitsvertrags vom 1. November 1991 die Klägerin zum 1. April 1992 in ein Arbeitsverhältnis, das aus Gründen des Personalabbaus mit Ablauf des 31. Dezember 2000 endete. Die Klägerin erhielt eine Abfindung von 10.526,94 DM. Zur Höhe der Abfindung regelt § 4 Abs. 2 Unterabs. 1 TV soziale Sicherung:

"Die Abfindung beträgt für jedes volle Jahr der Beschäftigungszeit (§ 19 BAT-O ohne die nach der Übergangsvorschrift Nr. 3 hierzu berücksichtigten Zeiten bzw. die vergleichbaren, für die Arbeiter geltenden Bestimmungen) ein Viertel der letzten Monatsvergütung (§ 26 BAT-O zuzüglich der allgemeinen Zulage) bzw. des letzten Monatstabellenlohnes (§ 21 Abs. 3 MTArb-O, § 20 Abs. 2 BMT-G-O ggf. zuzüglich des Sozialzuschlags), mindestens aber die Hälfte und höchstens das Fünffache dieser Vergütung bzw. dieses Lohnes."

Das beklagte Amt berechnete die Abfindung nach der Bruttomonatsvergütung der Klägerin in Höhe von zuletzt 4.678,64 DM und einer Beschäftigungszeit ab dem 1. Januar 1991.

Die Klägerin hat gemeint, ihr stehe auf Grund einer Beschäftigungszeit seit dem 15. Mai 1974 eine Abfindung in Höhe des Fünffachen der letzten Monatsvergütung zu. Ihre Tätigkeiten beim Rat der Gemeinde S und der Gemeinde S seien als Beschäftigungszeiten anzuerkennen. Das Verwaltungsamt T habe die Verwaltungsaufgaben und Verwaltungspersonal der Gemeinde S übernommen.

Die Klägerin hat beantragt,

das beklagte Amt zu verurteilen, an die Klägerin 6.578,40 Euro (12.866,26 DM) zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozent über dem Basiszins nach dem Diskontsatz-Überleitungsgesetz seit 16. Februar 2001 zu zahlen.

Das beklagte Amt hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit der Revision erstrebt das beklagte Amt die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe:

Die Revision des beklagten Amtes hat Erfolg. Zu Unrecht hat das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben. Der Klägerin steht keine höhere Abfindung zu. Die beim Rat der Gemeinde S und der Gemeinde S zurückgelegten Zeiten sind nicht als Beschäftigungszeit anzuerkennen.

1. Eine Anrechnung dieser Beschäftigungszeiten nach § 19 Abs. 1 Unterabs. 1 BAT-O scheidet aus. Nach dieser Bestimmung muß die Beschäftigungszeit bei demselben Arbeitgeber in einem Arbeitsverhältnis zurückgelegt worden sein. Das setzt voraus, daß das Arbeitsverhältnis mit derselben Person im Rechtssinne bestanden hat (BAG 1. Juni 1995 - 6 AZR 792/94 - ZTR 1996, 169, zu II 1a der Gründe). Daran fehlt es. Das beklagte Amt ist nach § 1 Abs. 1 der Amtsordnung eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Es ist weder mit dem früheren Rat der Gemeinde S noch mit der Gemeinde S identisch.

2. Die von der Klägerin beim Rat der Gemeinde S und der Gemeinde S zurückgelegten Zeiten sind auch nicht nach § 19 Abs. 2 BAT-O als Beschäftigungszeit anzurechnen. Diese Tarifnorm regelt, daß die bei einer Dienststelle bis zur Übernahme zurückgelegten Zeiten als Beschäftigungszeit angerechnet werden, wenn ein Arbeitgeber diese Dienststelle oder geschlossene Teile von ihr von einem Arbeitgeber übernimmt, der von diesem Tarifvertrag erfaßt wird oder diesen oder einen Tarifvertrag wesentlich gleichen Inhalts anwendet. Diese Voraussetzungen sind entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts nicht erfüllt.

a) Eine Anrechnung der beim Rat der Gemeinde S zurückgelegten Beschäftigungszeit nach § 19 Abs. 2 BAT-O scheidet von vornherein aus. Übernimmt ein Arbeitgeber eine Dienststelle iSv. § 19 Abs. 2 BAT-O, sind nur die bei dieser Dienststelle zurückgelegten Zeiten als Beschäftigungszeit anzurechnen. Die Tarifvorschrift regelt nicht, daß der die Dienststelle übernehmende Arbeitgeber alle Zeiten als Beschäftigungszeit anzurechnen hat, die der frühere Arbeitgeber anrechnen hätte müssen, wenn die Dienststelle in seinem Zuständigkeitsbereich verblieben wäre. Sie stellt nur auf Zeiten ab, die der Angestellte in der übernommenen Dienststelle verbracht hat (BAG 20. Februar 1997 - 6 AZR 713/95 - AP BAT-O § 19 Nr. 13, zu II 1 b bb der Gründe).

b) Auch die bei der Gemeinde S zurückgelegte Zeit ist nicht nach § 19 Abs. 2 BAT-O als Beschäftigungszeit anzuerkennen. Das Verwaltungsamt T hat schon keinen geschlossenen Teil einer Dienststelle der Gemeinde S übernommen.

aa) Die Tarifvertragsparteien haben den Begriff der Dienststelle nicht gesondert erläutert. Deshalb ist davon auszugehen, daß sie ihn in § 19 Abs. 2 BAT-O in seiner allgemeinen rechtlichen Bedeutung verstanden und angewendet wissen wollen (BAG 20. Februar 1997 - 6 AZR 713/95 - AP BAT-O § 19 Nr. 13, zu II 1 b aa der Gründe). Danach ist unter einer Dienststelle ein untergeordneter Teil einer Behörde zu verstehen, der zur Wahrnehmung der der Behörde obliegenden Aufgaben an einem bestimmten Ort eingerichtet ist, sofern dieser untergeordnete Teil als abgrenzbare Verwaltungseinheit Aufgaben der Verwaltung mit einer gewissen Selbständigkeit erledigt (BAG 20. Februar 1997 - 6 AZR 713/95 - aaO; 18. Januar 1990 - 6 AZR 386/89 - BAGE 65, 1, 11).

Für die Anrechnung als Beschäftigungszeit nach § 19 Abs. 2 BAT-O reicht es allerdings aus, daß ein geschlossener Teil einer Dienststelle übernommen wird. Für die Differenzierung zwischen einer Dienststelle und dem geschlossenen Teil einer solchen ist ebenso wie bei der Unterscheidung zwischen einem Betrieb und einem Betriebsteil vor allem der Grad der Verselbständigung entscheidend (vgl. BAG 19. Februar 2002 - 1 ABR 26/01 - AP BetrVG 1972 § 4 Nr. 13 = EzA BetrVG 1972 § 4 Nr. 8). Das folgt aus dem Wortlaut der Tarifbestimmung, auf den es bei der Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags zunächst ankommt (BAG 27. Juni 2002 - 6 AZR 378/01 - AP TVG § 1 Tarifverträge: Musiker Nr. 18, zu A IV 1 der Gründe). Die Tarifvorschrift spricht nicht von der Übernahme eines Teils einer Dienststelle. Erforderlich ist nach dem Tarifwortlaut vielmehr die Übernahme "eines geschlossenen Teils einer solchen". Vom Wortsinn her bedeutet "geschlossen" in sich zusammenhängend, in sich eine Einheit bildend (Duden Das große Wörterbuch der deutschen Sprache 2. Aufl. Bd. 3 Definitionen 2 b und 2 c). Die Tarifbestimmung verlangt demnach, daß der übernommene Teil der Dienststelle in sich eine Verwaltungseinheit gebildet haben muß, über ein Mindestmaß an Selbständigkeit verfügt hat und damit von anderen Teilen der Dienststelle organisatorisch abgrenzbar war.

Die Übernahme eines geschlossenen Teils einer Dienststelle nach § 19 Abs. 2 BAT-O erfordert ebenso wie der Übergang eines Betriebsteils nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB die Bewahrung der Identität der betreffenden Einheit (vgl. BAG 26. Juni 1997 - 8 AZR 426/95 - BAGE 86, 148, 151). Das betrifft eine organisierte Gesamtheit von Personen und Sachen. Bei der Übertragung einer öffentlichen Verwaltung kommt der vorhandenen Organisation besonders große Bedeutung zu. Eine "Wahrung der Identität" ist bei Fortführung der Verwaltungsaufgaben innerhalb einer gänzlich andersartigen Arbeitsorganisation der übernehmenden Verwaltung nicht denkbar (BAG 26. Juni 1997 - 8 AZR 426/95 - aaO S. 152).

Der tarifliche Gesamtzusammenhang bestätigt das Auslegungsergebnis. Die Tatbestände der Nr. 2 Buchst. a bis c der Übergangsvorschriften zu § 19 BAT-O sprechen anders als § 19 Abs. 2 BAT-O von der Übernahme von Aufgaben bzw. Aufgabenbereichen. Daraus wird deutlich, daß die Tarifvertragsparteien zwischen der Übernahme eines geschlossenen Teils einer Dienststelle nach § 19 Abs. 2 BAT-O und der Übernahme einer Aufgabe bzw. eines Aufgabenbereichs unterschieden haben. Die bloße Verlagerung von Verwaltungsaufgaben ist damit noch keine Übernahme eines geschlossenen Teils einer Dienststelle iSv. § 19 Abs. 2 BAT-O.

bb) Daran gemessen halten die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts zur Übernahme eines geschlossenen Teils einer Dienststelle einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand.

Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts wurden dem Verwaltungsamt T alle bisher von der Gemeinde S und den anderen amtsangehörigen Gemeinden wahrgenommenen Verwaltungsaufgaben übertragen. Die Gemeinde S beschäftigte nach der Übertragung ihrer Verwaltungsaufgaben auf das Verwaltungsamt T kein Verwaltungspersonal mehr. Damit hat das Verwaltungsamt T aber entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts keinen geschlossenen Teil einer Dienststelle der Gemeinde S übernommen. Deren Verwaltung wurde nicht ausgelagert und unter Beibehaltung ihrer vorhandenen Organisationsstruktur unter dem Dach des Verwaltungsamts T mit den Verwaltungen der übrigen Mitgliedsgemeinden zusammengeführt. Die Verwaltung der Gemeinde S wurde vielmehr geschlossen und die vorhandene Organisationsstruktur vollständig aufgelöst. Die Übertragung einer in sich zusammenhängenden, organisatorisch abgrenzbaren Verwaltungseinheit unter Aufrechterhaltung der Arbeitsorganisation fand nicht statt. Das Verwaltungsamt T hat die zuvor von der Gemeinde S eigenständig wahrgenommenen Verwaltungsaufgaben und zusätzlich die der anderen amtsangehörigen Gemeinden zentral an einem anderen Ort und im Rahmen einer eigenen, neu gebildeten und andersartigen Arbeitsorganisation erledigt. Dieses Amt hat nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts seinen Personalbedarf zwar mit Verwaltungsangestellten der Mitgliedsgemeinden gedeckt. Die bloße Übernahme von Verwaltungspersonal ist jedoch keine Übernahme einer Dienststelle oder eines geschlossenen Teils einer Dienststelle.

Ende der Entscheidung

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