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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 11.11.1997
Aktenzeichen: GrS 1/96
Rechtsgebiete: AO


Vorschriften:

AO 1977 § 174 Abs. 4
BUNDESFINANZHOF

§ 174 Abs. 4 AO 1977 erlaubt die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheides, in dem ein früherer Bilanzierungsfehler korrigiert wurde, nicht allein mit der Begründung, daß mit der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Bescheides nach § 174 Abs. 4 AO 1977 die Möglichkeit geschaffen wird, die Vorjahresbilanz zu ändern.

AO 1977 § 174 Abs. 4

Beschluß vom 10. November - 1997 GrS 1/96

Vorlagebeschluß vom 16. Februar 1996 I R 150/94 (BFHE 180, 8, BStBl II 1996, 417)


G r ü n d e

A. Vorgelegte Rechtsfrage, Sachverhalt, Anrufungsbeschluß des I. Senats und Stellungnahme der Beteiligten

I. Vorgelegte Rechtsfrage

Der I. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat durch Beschluß vom 16. Februar 1996 I R 150/94 dem Großen Senat folgende Rechtsfrage vorgelegt:

Erlaubt § 174 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO 1977) die Aufhebung eines Steuerbescheides, in dem ein früherer Bilanzierungsfehler korrigiert wurde, mit der Begründung, daß mit der Aufhebung des angefochtenen Bescheides nach § 174 Abs. 4 AO 1977 die Möglichkeit geschaffen wird, die Vorjahresveranlagung zu ändern?

Der Beschluß ist in BFHE 180, 8, BStBl II 1996, 417 veröffentlicht.

II. Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine GmbH, verarbeitet Magermilchpulver zu Futtermitteln und beantragte hierfür stets Beihilfe gemäß Verordnung (EWG) Nr. 1725/79 (VO Nr. 1725/79) vom 26. Juli 1979 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- L 199/1). Ihr Wirtschaftsjahr entspricht dem Kalenderjahr.

Bei der Klägerin fand im Jahre 1986 für die Veranlagungszeiträume 1982 bis 1984 eine Außenprüfung statt, die --ähnlich den Feststellungen der vorausgegangenen Prüfung für die Jahre 1978 bis 1981-- zum 31. Dezember 1984 zu folgenden geänderten Bilanzansätzen führte:

- Der Beihilfeanspruch für die Verarbeitung von Magermilchpulver im Dezember 1984 wurde aktiviert.

- Die Rückstellungen für etwaige Beihilferückforderungen, für drohende Verluste aus Einkaufskontrakten und für Pensionsverpflichtungen sowie die Pauschalwertberichtigung auf Forderungen wurden gekürzt.

Nach erfolgreicher Anfechtung der Prüfungsanordnung und der Anordnung zur Wiederholung der Außenprüfung hob der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) durch Bescheid vom 14. Februar 1989 den Vorbehalt der Nachprüfung in den Körperschaftsteuerbescheiden für 1982 bis 1984 auf.

Mit Bescheid vom 3. Mai 1988 hatte das FA die Körperschaftssteuer für das Streitjahr 1985 unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt. Es erkannte hierbei die Rückstellung für Garantieverpflichtungen nicht an, kürzte die Rückstellungen für Verluste aus Einkaufskontrakten und für gewährte Beihilfen sowie die pauschale Forderungsberichtigung. Dagegen legte die Klägerin Einspruch ein u.a. mit der Begründung, die im Rahmen der Außenprüfung für 1982 bis 1984 getroffenen Feststellungen dürften nicht verwertet werden.

Im Jahre 1988 fand bei der Klägerin eine Außenprüfung für die Jahre 1985 bis 1987 statt, die zum 31. Dezember 1985 zu folgenden geänderten Bilanzansätzen führte:

- Ausgehend von tatsächlichen Forderungsausfällen in Höhe von 1,5 v.H. wurde die Pauschalwertberichtigung von 4 v.H. auf 3 v.H. gekürzt;

- die Rückstellungen für Pensionsverpflichtungen und für Beihilferückforderungen wurden gekürzt;

- abweichend von der Steuererklärung aktivierte der Prüfer den Beihilfeanspruch für Magermilchverarbeitung im Monat Dezember 1985 mit 1 387 581,27 DM.

Das FA folgte dem und erließ unter dem 14. Februar 1989 --also zeitgleich mit der Aufhebung des Nachprüfungsvorbehalts für die Körperschaftsteuerbescheide 1982 bis 1984-- einen entsprechend geänderten Körperschaftsteuerbescheid für 1985.

Im Einspruchs- und Klageverfahren vertrat die Klägerin u.a. die Auffassung, daß von den gewinnerhöhenden Positionen (4 588 505 DM) der Betrag von 3 992 999 DM bereits in den Bilanzen für die Jahre 1983 und 1984 zu erfassen gewesen sei.

Das Finanzgericht (FG) hat der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage stattgegeben. Es erhöhte die Bilanzansätze zum 1. Januar 1985 entsprechend dem Klagebegehren mit der Begründung, daß § 174 Abs. 4 AO 1977 die Möglichkeit eröffne, die streitigen Ansätze in der Schlußbilanz zum 31. Dezember 1984 zu korrigieren. Das Urteil des FG ist abgedruckt in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1996, 901.

III. Begründung der Vorlagefrage

Der vorlegende Senat möchte die Vorlagefrage verneinen, das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, damit das FG die materielle Richtigkeit der Schlußbestände per 31. Dezember 1985 prüfe, zu denen tatrichterliche Feststellungen nicht vorlägen. Nach Auffassung des vorlegenden Senats eröffnet § 174 Abs. 4 AO 1977 nicht die Möglichkeit, fehlerhafte Bilanzansätze in der Anfangsbilanz zu berichtigen, solange diese bestandskräftigen Veranlagungen zugrunde liegen. "Unrichtige Beurteilung eines Sachverhalts" i.S. dieser Bestimmung bedeute, daß sich die Behandlung eines bestimmten Sachverhalts in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht nachträglich als rechtsirrig erweise. Dies sei hier indes nach den Rechtsgrundsätzen über den formellen Bilanzenzusammenhang, wie sie im Beschluß des Großen Senats des BFH vom 29. November 1965 GrS 1/65 S (BFHE 84, 392, BStBl III 1966, 142) formuliert seien, nicht der Fall. Von den Problemen der Bilanzkorrektur berührt würden die Pauschalwertberichtigung für bis zum 31. Dezember 1984 entstandene Forderungen, die Rückstellung für Einkaufskontrakte aus bis zum 31. Dezember 1984 abgeschlossenen Verträgen sowie die Pensionsrückstellungen.

Der vorlegende I. Senat sieht sich an der von ihm beabsichtigten Entscheidung durch die Entscheidungen des IV. Senats vom 17. Oktober 1991 IV R 97/89 (BFHE 166, 149, BStBl II 1992, 392) und des X. Senats vom 16. Mai 1990 X R 72/87 (BFHE 161, 451, BStBl II 1990, 1044) sowie vom 3. Juni 1992 X R 50/91 (BFH/NV 1992, 741) gehindert. Er hat deswegen gemäß § 11 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) den Großen Senat angerufen. Er stützt seine Anrufung zusätzlich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage (§ 11 Abs. 4 FGO). Sei die vorgelegte Rechtsfrage zu bejahen, wäre ein Bilanzierungsfehler in vergleichbaren Fällen meist an der Fehlerquelle zu berichtigen. Dieses Ergebnis widerspräche dem durch die ständige Rechtsprechung angewendeten Grundsatz des formellen Bilanzenzusammenhangs.

Wegen der Begründung im einzelnen wird auf den Beschluß in BFHE 180, 8, BStBl II 1996, 417 Bezug genommen.

Der IV. und der X. Senat haben auf Anfrage des vorlegenden Senats erklärt, daß sie an ihrer Rechtsauffassung festhielten (§ 11 Abs. 3 Satz 1 FGO).

IV. Stellungnahmen der Beteiligten

l. Die Klägerin hat u.a. ausgeführt: Die Berichtigung nach § 174 Abs. 4 AO 1977 sei auf solche älteren Steuerfestsetzungen beschränkt, die zu dem Zeitpunkt, als der später aufgehobene oder geänderte --rechtsirrtümlich erlassene --Steuerbescheid ergangen sei, noch nicht bestandskräftig gewesen seien. Im Streitfall stehe fest, daß am 14. Februar 1989 die Bescheide für die Jahre 1983 und 1984 noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO 1977) gestanden hätten. Das FA hätte eine als falsch erkannte Rechtsansicht zum frühest möglichen Zeitpunkt aufgeben müssen. Es habe indes die älteren Bilanzen zum 31. Dezember 1983 und 1984 nicht geändert und statt dessen die steuerliche Auswirkung der Bilanzberichtigung irrtümlich im Körperschaftsteuerbescheid für 1985 erfaßt, der somit von Anfang an rechtswidrig gewesen sei. Werde ein solcher Bescheid deswegen auf Antrag des Steuerpflichtigen später aufgehoben, so sei nunmehr auf der Rechtsgrundlage des § 174 Abs. 4 AO 1977 eine Rückwärtsberichtigung der seinerzeit noch offenen Schlußbilanzen bzw. Veranlagungen möglich. Dadurch trete hinsichtlich der Gewinnauswirkung dasselbe steuerliche Ergebnis ein, welches das FA von vornherein hätte herbeiführen müssen. Die vorgeschlagene Rückwärtsberichtigung widerspreche nicht den Grundsätzen des formellen Bilanzenzusammenhangs; vielmehr sei dieser zu jedem Bilanzstichtag lückenlos gewahrt. Die von ihr, der Klägerin, befürwortete Anwendung des § 174 Abs. 4 AO 1977 sei auch vereinbar mit den vom Großen Senat des BFH in BFHE 84, 392, BStBl III 1966, 142 aufgestellten Grundsätzen, soweit dort verlangt werde, daß die vorangegangene Veranlagung noch geändert werden könne und geändert worden sei: Vor Inkrafttreten der AO 1977 sei es verfahrensrechtlich nicht möglich gewesen, die Bestandskraft einer widerstreitenden Steuerfestsetzung nachträglich zu durchbrechen. Wenn die Veranlagung und mithin auch die Schlußbilanz eines bestimmten Jahres noch berichtigt werden könnten, so ändere sich entsprechend "der Schlußbestand des Betriebsvermögens, der dieser Veranlagung tatsächlich zugrunde liege".

2. Das FA hat sich im Verfahren vor dem Großen Senat nicht geäußert.

B. Entscheidung des Großen Senats zu den Verfahrensfragen

I. Mündliche Verhandlung

Nach § 11 Abs. 7 Satz 2 FGO kann der Große Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Im vorliegenden Fall ist eine weitere Förderung seiner Entscheidung durch eine mündliche Verhandlung nicht zu erwarten. Der vorlegende Senat hat die an den Großen Senat gerichtete Frage eingehend dargelegt. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, zu den für die Entscheidung des Ausgangsfalls erheblichen Rechtsfragen Stellung zu nehmen.

II. Zulässigkeit der Vorlage

Die Vorlage ist zulässig. Der vorlegende Senat hat die Abweichung (§ 11 Abs. 3 Satz 1 FGO) jedenfalls vom Urteil des IV. Senats in BFHE 166, 149, BStBl II 1992, 392 und die grundsätzliche Bedeutung der vorgelegten Rechtsfrage (§ 11 Abs. 4 FGO) zutreffend dargelegt. Diese Rechtsfrage ist für die beabsichtigte Entscheidung des I. Senats rechtserheblich. Der Große Senat hat nicht zu prüfen, ob der vorlegende Senat mit einer anderen Begründung zum gleichen Ergebnis käme (Beschluß vom 26. November 1973 GrS 5/71, BFHE 111, 242, BStBl II 1974, 132).

C. Entscheidung des Großen Senats über die vorgelegte Rechtsfrage

I. Meinungsstand zur Anwendung des § 174 Abs. 4 AO 1977

1. Das Urteil des IV. Senats in BFHE 166, 149, BStBl II 1992, 392 befaßt sich mit der zeitlichen Zuordnung des Gewinns aus der Auflösung einer Rücklage für Ersatzbeschaffung. Es stellt fest, daß die Rücklage in der Bilanz zum Schluß des dem Streitjahr 1978 vorangehenden Jahres hätte gewinnerhöhend aufgelöst werden müssen. Die Auflösung im Streitjahr sei rechtmäßig, wenn eine erfolgswirksame Berichtigung der Vorjahresbilanz zum 31. Dezember 1977 nicht mehr möglich sei. Indes könne der für das Vorjahr ergangene bestandskräftige Feststellungsbescheid "aufgrund des Urteils des Senats in dieser Sache" nach § 174 Abs. 4 AO 1977 in der Weise geändert werden, daß der außerordentliche Ertrag im Feststellungszeitraum 1977 erfaßt werde. Das FA habe aufgrund irriger Beurteilung des Sachverhalts die Gewinnerhöhung erst im Streitjahr erfaßt. Auf die Revision hin werde dies rückgängig gemacht. "Nunmehr" könne das FA aus dem Wegfall der Ersatzbeschaffungsabsicht im Vorjahr "die richtige steuerliche Folgerung" ziehen, nämlich die gewinnerhöhende Auflösung jenem Jahr zuordnen, auch wenn die Festsetzungsfrist für den Feststellungsbescheid 1977 inzwischen abgelaufen sein sollte (§ 174 Abs. 4 Satz 3 AO 1977).

2. Der X. Senat des BFH hat in seinem Urteil in BFHE 161, 451, BStBl II 1990, 1044 ausgeführt: Ein unrichtiger Bilanzansatz sei in der ersten Schlußbilanz --grundsätzlich erfolgswirksam--richtigzustellen, in der dies unter Beachtung der für den Eintritt der Bestandskraft und der Verjährung maßgeblichen Vorschriften möglich sei. Die Frage nach der letzten hinzunehmenden unrichtigen und nach der ersten für eine Korrektur noch offenen (Schluß-)Bilanz sei unter Ausschöpfung aller gesetzlichen Korrekturmöglichkeiten einschließlich des § 174 Abs. 4 AO 1977 zu beantworten. Diese Vorschrift sei indes --in jenem Streitfall-- wegen des von ihr vorausgesetzten Regelungszusammenhangs zwischen Korrekturvorschrift und Festsetzungsverjährung nach neuem Recht (§§ 169 ff. AO 1977, Art. 97 § 10 Abs. 1 Sätze 1 und 2 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung --EGAO 1977--) und dem Vorrang des Verjährungsrechts gegenüber dem Korrekturrecht insgesamt nicht anwendbar, da der streitige Steueranspruch vor dem l. Januar 1977 entstanden sei. § 174 Abs. 4 AO 1977 sei auf Steueransprüche, die vor dem l. Januar 1977 entstanden seien, nicht anzuwenden (vgl. auch BFH-Urteil vom 3. Juni 1992 X R 50/91, BFH/NV 1992, 741, unter 1. d). In Betracht zu ziehen sei eine Änderung der Veranlagungen für die zwei dem Streitjahr vorangehenden Jahre nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977, sofern die --seinerzeit nicht streitigen-- Einkommensteueransprüche jener Jahre noch nicht verjährt seien. Sei letzteres nicht der Fall, werde das FG im zweiten Rechtszug, sollten entsprechende Korrekturen möglich sein, das Verfahren für das Streitjahr "notfalls gemäß § 74 FGO" aussetzen müssen, bis feststehe, inwieweit die für die Vorjahre eröffneten Änderungsmöglichkeiten "zum Zwecke einer möglichst periodengerechten Auflösung der Rückstellungen auch tatsächlich ausgeschöpft" würden. - Der X. Senat hat seine Auffassung zur Anwendung des § 174 Abs. 4 AO 1977 in seinem Urteil in BFH/NV 1992, 741 (unter 1. c) bestätigt.

II. Auffassung des Großen Senats

Der Große Senat verneint die Vorlagefrage.

l. Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der auf Grund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde oder das Gericht (§ 174 Abs. 4 Satz 2 AO 1977) zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlaß oder Änderung eines Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden.

Der bezogen auf den Streitfall zeitraumübergreifende --sich auf zwei Veranlagungszeiträume erstreckende-- Regelungsmechanismus dieser Bestimmung setzt hinsichtlich der verfahrensmäßigen Abfolge voraus, daß ein angefochtener Bescheid wegen der zeitlich unzutreffenden Erfassung eines Besteuerungsmerkmals als irrig erkannt und deswegen auf Antrag des Steuerpflichtigen aufgehoben oder geändert wird. Dies löst sodann --"nachträglich"-- die Rechtsfolge des § 174 Abs. 4 AO 1977 aus, daß ein anderer Bescheid erlassen oder geändert werden kann. Soweit hiernach eine Änderung zulässig ist, zieht diese Vorschrift die verfahrensrechtliche Konsequenz daraus, daß der andere Bescheid nunmehr eine "widerstreitende Steuerfestsetzung" enthält, wie sie das Gesetz nach seiner amtlichen Überschrift zu § 174 AO 1977 voraussetzt. § 174 Abs. 4 AO 1977 regelt mithin den Fall, daß . verfahrensrechtliche Folgerungen aus einer vorherigen Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheides zu ziehen sind. Das Gesetz gibt indes keine Handhabe zur Änderung oder Aufhebung des angefochtenen Bescheides selbst.

Der vorlegende Senat ist in materiell-rechtlicher Hinsicht davon ausgegangen, daß die Ansätze der Schlußbilanz zum 31. Dezember 1984 in die Anfangsbilanz zum 1. Januar 1985 zu übernehmen seien, da diese der bestandskräftigen und bis heute nicht geänderten Veranlagung zur Körperschaftsteuer 1984 zugrunde lägen. Diese Beurteilung, die nicht Gegenstand des Vorlageverfahrens ist, steht im Einklang mit den Rechtssätzen im Beschluß des Großen Senats in BFHE 84, 392, BStBl III 1966, 142. Auf der Grundlage dieser Annahme liegen die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 AO 1977 im Streitfall nicht vor, weil der angefochtene Bescheid selbst keine widerstreitende Steuerfestsetzung enthält. Dem vorlegenden Senat ist darin zuzustimmen, daß § 174 Abs. 4 AO 1977 nicht die rechtliche Möglichkeit eröffnet, vorab eine andere bestandskräftige Veranlagung (hier: zur Körperschaftsteuer 1984) aufzuheben oder zu ändern, um hieraus die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides herzuleiten.

Entgegen der Auffassung der Klägerin ist § 174 Abs. 4 AO 1977 nicht etwa deswegen anwendbar, weil der Vorjahresbescheid bei Erlaß des angefochtenen Bescheides noch nicht bestandskräftig gewesen war. Entscheidend ist, daß jener Bescheid jedenfalls im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über den vorliegend angefochtenen Steuerbescheid bestandskräftig ist und, solange jener Bescheid nicht aufgehoben oder geändert ist, der angefochtene Bescheid eine widerstreitende Steuerfestsetzung, die auf der Rechtsgrundlage des § 174 Abs. 4 AO 1977 zu bereinigen wäre, nicht enthält.

2. Der Große Senat befürwortet nicht die im Schrifttum zum Teil vertretene Auffassung, § 174 Abs. 4 AO 1977 müsse im Interesse der materiellen Gerechtigkeit gegebenenfalls analog angewendet werden. Denn diese Vorschrift steht im Spannungsfeld zwischen gesetzmäßiger Steuerfestsetzung und Rechtssicherheit bzw. Vertrauensschutz (BFH-Urteil vom 1. August 1984 V R 67/82, BFHE 141, 490, BStBl II 1984, 788), das der Gesetzgeber selbst abschließend regeln muß. Einer entsprechenden Anwendung des § 174 Abs. 4 AO 1977 steht § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 entgegen (BFH-Urteil vom 22. August 1990 I R 42/88, BFHE 162, 470, BStBl II 1991, 387, unter 5.). Darüber hinaus muß eine Durchbrechung der Bestandskraft "gesetzlich zugelassen" sein (§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. d AO 1977, vgl. BFH-Urteil vom 9. August 1990 X R 5/88, BFHE 162, 355, BStBl II 1991, 55), woran es vorliegend fehlen würde.

D. Der Große Senat beantwortet die vorgelegte Rechtsfrage wie folgt:

§ 174 Abs. 4 AO 1977 erlaubt die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheides, in dem ein früherer Bilanzierungsfehler korrigiert wurde, nicht allein mit der Begründung, daß mit der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Bescheides nach § 174 Abs. 4 AO 1977 die Möglichkeit gegeschaffen wird, die Vorjahresbilanz zu ändern.

Ende der Entscheidung

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