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Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 23.10.2002
Aktenzeichen: I B 86/02
Rechtsgebiete: EStG, FGO, ZPO


Vorschriften:

EStG §§ 48 ff.
EStG § 48b
EStG § 48b Abs. 1 Satz 1
EStG § 48 Abs. 1 Satz 1
EStG § 48 Abs. 1 Satz 2
FGO § 114 Abs. 2
FGO § 155
ZPO § 294
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt --FA--) verpflichtet ist, der Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) eine Freistellungsbescheinigung nach § 48b des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu erteilen.

Die Antragstellerin ist eine GmbH, zu deren Geschäftsgegenstand u.a. der Betrieb eines Malereiunternehmens gehört. Sie erwirtschaftete in den Jahren 1995 bis 1999 Umsätze zwischen ca. 45 000 DM und ca. 432 000 DM; dabei erzielte sie in den Jahren 1995 bis 1998 Verluste, während sie für 1999 einen Gewinn in Höhe von ca. 80 000 DM erklärte. Steuererklärungen gab die Antragstellerin nicht oder verspätet ab, weshalb das FA wiederholt Steuerbescheide mit geschätzten Besteuerungsgrundlagen erließ. Veranlagungen auf Grund nachgereichter Erklärungen führten für 1995 bis 1998 jeweils zu einer Körperschaftsteuer von 0 DM und für 1999 zu einer Körperschaftsteuer in Höhe von 154 DM. Steuererklärungen für 2000 hat die Antragstellerin nach Aktenlage bislang nicht abgegeben.

Am 30. Juni 1999 stellte das Arbeitsamt fest, dass die Antragstellerin Arbeitnehmer beschäftigte, von denen einige nicht die erforderliche Arbeitserlaubnis besaßen. Daraufhin gab die Antragstellerin am 17. Mai 2000 Lohnsteuer-Anmeldungen für die Zeit ab Juni 1999 ab. Weitere Lohnsteuer-Anmeldungen wurden entweder gar nicht oder mit erheblicher Verspätung abgegeben. Deshalb kam es auch bei der Lohnsteuer zu Schätzungen. Ein Teil der Lohnsteuer wurde nicht gezahlt; am 7. Mai 2002 betrug der Rückstand für 2000 und 2001 insgesamt 3 466,25 DM.

Der gesamte Steuerrückstand der Antragstellerin belief sich am 25. Februar 2002 auf 38 302,58 EUR zuzüglich Säumniszuschlägen in Höhe von 17 762,20 EUR. Schon am 13. September 2001 hatte das FA wegen Abgabenrückständen in Höhe von 94 000 DM die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Antragstellerin beantragt. Über diesen Antrag wurde nach Aktenlage bislang nicht entschieden.

Unter dem 22. Januar 2002 beantragte die Antragstellerin die Erteilung einer Freistellungsbescheinigung nach § 48b EStG. Das FA lehnte den Antrag ab, da angesichts des bisherigen steuerlichen Verhaltens der Antragstellerin der Steueranspruch nicht gesichert sei. Die Antragstellerin hat den Ablehnungsbescheid mit einem Einspruch angefochten, über den noch nicht entschieden worden ist.

Sodann beantragte die Antragstellerin beim Finanzgericht (FG) den Erlass einer einstweiligen Anordnung des Inhalts, dass das FA zur Erteilung einer auf drei Jahre befristeten Freistellungsbescheinigung verpflichtet werde. Diesem Antrag gab das FG teilweise statt. Es verpflichtete das FA zur Erteilung einer auf neun Monate, längstens bis zur Bestandskraft des ablehnenden Bescheids, befristeten Freistellungsbescheinigung. Seine Entscheidung ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2002, 842 abgedruckt.

Mit seiner vom FG zugelassenen Beschwerde rügt das FA Verletzung des § 48b EStG. Es beantragt, den Beschluss des FG aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Die Antragstellerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

II. Die Beschwerde ist begründet. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben, der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Der begehrte einstweilige Rechtsschutz kann der Antragstellerin nicht gewährt werden, weil er auf eine Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache hinauslaufen würde und die hierfür bestehenden besonderen Voraussetzungen im Streitfall nicht vorliegen.

1. Nach § 114 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Um eine solche Regelungsanordnung geht es, wenn der Antragsteller auf dem Weg über eine einstweilige Anordnung die Erteilung einer Freistellungsbescheinigung erreichen will (Senatsbeschluss vom 27. Juli 1994 I B 246/93, BFHE 175, 205, BStBl II 1994, 899, 900). So liegen die Dinge im Streitfall.

2. Nach gefestigter Rechtsprechung des Senats darf eine Regelungsanordnung grundsätzlich nicht erlassen werden, wenn sie die Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorwegnehmen würde. Unter diesem Gesichtspunkt ist es insbesondere in der Regel unzulässig, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes eine Freistellungsbescheinigung zu erteilen (Senatsbeschluss in BFHE 175, 205, BStBl II 1994, 899; Beermann/Gosch, Steuerliches Verfahrensrecht, § 114 FGO Rz. 18 und 81). Dieser Grundsatz gilt auch im Hinblick auf Freistellungsbescheinigungen nach § 48b EStG (ebenso Blümich/Ebling, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, § 48b EStG Rz. 66).

Eine Ausnahme vom Verbot der Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung besteht nur dann, wenn der Erlass einer Regelungsanordnung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes unumgänglich ist, der Erfolg des Antragstellers im Hauptsacheverfahren wahrscheinlich ist und der Anordnungsgrund eine besondere Intensität aufweist (Senatsbeschluss vom 23. September 1998 I B 82/98, BFHE 186, 433, BStBl II 2000, 320, m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind im summarischen Verfahren nach Aktenlage zu prüfen, wobei nur die schlüssig dargelegten und glaubhaft gemachten Umstände berücksichtigt werden können. Letzteres gilt insbesondere auch für das Vorliegen eines besonders gewichtigen Anordnungsgrundes.

3. Im Streitfall könnte hiernach der Antrag nur dann Erfolg haben, wenn sich aus dem Vortrag der Antragstellerin und den von ihr beigebrachten Unterlagen ergäbe, dass die Existenz der Antragstellerin gefährdet und die begehrte einstweilige Anordnung zur Beseitigung dieser Existenzgefährdung einerseits geeignet und andererseits unerlässlich ist. Das ist nicht der Fall. Angesichts des Umstandes, dass unstreitig ein noch nicht beschiedener Insolvenzantrag des FA im Raum steht, kann zwar von einer Existenzgefährdung der Antragstellerin ausgegangen werden. Die Antragstellerin hat jedoch nicht glaubhaft gemacht, dass diese Existenzgefährdung durch die Versagung der Freistellungsbescheinigung ausgelöst wird und nur durch die Erteilung einer solchen Bescheinigung beseitigt werden kann.

a) Die Freistellungsbescheinigung nach § 48b Abs. 1 Satz 1 EStG ist Bestandteil des Steuerabzugsverfahrens bei Bauleistungen gemäß §§ 48 ff. EStG. Ihre Vorlage befreit den Leistungsempfänger von dessen Verpflichtung zum Steuerabzug. Eine solche Verpflichtung besteht indessen ohnehin nicht, wenn der Leistungsempfänger kein Unternehmer ist (§ 48 Abs. 1 Satz 1 EStG) oder wenn sein Unternehmen die Vermietung von Wohnungen zum Gegenstand hat und er nicht mehr als zwei Wohnungen vermietet (§ 48 Abs. 1 Satz 2 EStG). Bauleistungen gegenüber diesem Personenkreis werden mithin durch das Fehlen einer Freistellungsbescheinigung nicht berührt.

Für die übrigen Leistungsempfänger ist eine solche Bescheinigung zwar insoweit von Vorteil, als sie hierdurch der Notwendigkeit enthoben werden, die einzubehaltende Steuer zu berechnen sowie anzumelden und abzuführen (§ 48a EStG). Deshalb mag auch der Hinweis des FG zutreffen, dass potentielle Auftraggeber vielfach die Vorlage der Bescheinigung wünschen werden. Auch in diesem Bereich kann jedoch nicht generell unterstellt werden, dass Anbieter ohne Freistellungsbescheinigung von vornherein unberücksichtigt bleiben. Vielmehr dürfte es hier zum einen darauf ankommen, ob der jeweilige Auftraggeber in seiner internen Organisation auf die Durchführung des Steuerabzugsverfahrens eingestellt ist; zum anderen wird das Vorhandensein oder Fehlen einer Freistellungsbescheinigung häufig nur eines von mehreren Kriterien für die Gesamtbeurteilung des betreffenden Angebots sein.

b) Vor diesem Hintergrund wird das Erfordernis der vorläufigen Erteilung einer Freistellungsbescheinigung nicht schon dadurch in der gebotenen Weise dargelegt, dass der Antragsteller behauptet, infolge des Fehlens der Bescheinigung allgemein Wettbewerbsnachteile zu haben oder in Einzelfällen mit seinen Angeboten nicht zum Zuge gekommen zu sein. Erforderlich ist vielmehr eine substantiierte Darstellung, ausweislich derer das betreffende Unternehmen nach den konkret gemachten Erfahrungen ohne die Freistellungsbescheinigung nicht in der Lage ist, die für sein wirtschaftliches Überleben erforderlichen Aufträge zu erhalten. Hierzu gehören in der Regel zum einen Angaben dazu, in welchem Umfang das Unternehmen von Aufträgen steuerabzugspflichtiger Leistungsempfänger abhängig ist. Zum anderen wird es im Zweifel erforderlich sein, in geeigneter Form darzulegen, dass das Fehlen der Freistellungsbescheinigung generell oder zumindest in einer Vielzahl von Einzelfällen die Akquisition von Aufträgen verhindert hat oder zu verhindern droht. Zudem folgt aus Abs. 3 Nr. 3 und aus Abs. 4 des § 48b EStG, dass eine Freistellungsbescheinigung objekt- oder auftragsbezogen erteilt werden kann (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen --BMF-- vom 1. November 2001, BStBl I 2001, 804, Tz. 31; Blümich/Ebling, a.a.O., § 48b EStG Rz. 54; Kirchhof/Gosch, Einkommensteuergesetz, 2. Aufl., § 48b Rz. 8); wer im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine nicht in dieser Weise beschränkte Bescheinigung begehrt, muss ggf. dartun, dass und weshalb seine wirtschaftliche Überlebensfähigkeit nicht auch durch eine beschränkte Bescheinigung vorläufig gesichert werden kann. Schließlich müssen die erforderlichen Angaben glaubhaft gemacht werden, was entweder durch die in der Zivilprozessordnung (ZPO) vorgesehenen Beweismittel oder im Wege der eidesstattlichen Versicherung erfolgen kann (§ 155 FGO i.V.m. § 294 ZPO).

c) Im Streitfall wird das Vorbringen der Antragstellerin diesen Erfordernissen nicht gerecht. Aus den Akten ergibt sich zwar, dass die Antragstellerin nur im Bereich des Gewerbe- und Industriebaus und nicht für Privatkunden tätig ist. Der in § 48 Abs. 1 und Satz 2 EStG genannte Kundenkreis wird mithin von ihr nicht bedient, so dass zu diesem Gesichtspunkt kein weiterer Vortrag erforderlich war. Es fehlen jedoch nähere Darlegungen dazu, dass allgemein oder zumindest in einer Mehrzahl konkreter Fälle die Akquisition von Aufträgen am Fehlen der Freistellungsbescheinigung gescheitert ist; das Schreiben einer Bauherren-Arbeitsgemeinschaft, das die Antragstellerin im Beschwerdeverfahren in Ablichtung vorgelegt hat, betrifft nach dem ausdrücklichen Vortrag der Antragstellerin einen vereinzelt gebliebenen Fall und reicht deshalb zur Glaubhaftmachung einer generellen Existenzgefährdung nicht aus. Zudem hat die Antragstellerin im Beschwerdeverfahren vorgebracht, dass die Versagung der Freistellungsbescheinigung einen Auftragsrückgang verursacht habe, der "auf Dauer" zu einer Existenzgefährdung führen könne; hieraus ist abzuleiten, dass sie auch ohne die Bescheinigung weiterhin Aufträge erhält, ohne dass sie über den Umfang dieser Aufträge Angaben gemacht hat. Schließlich geben ihre Ausführungen auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie einen existenzwichtigen konkreten Auftrag in Aussicht hat; damit scheidet die Möglichkeit, ihr --ggf. gegen Sicherheitsleistung-- eine auf diesen Auftrag beschränkte Freistellungsbescheinigung zu erteilen, ebenfalls aus. Angesichts dessen muss ihr Antrag, ohne dass der Senat auf die Frage nach dem Bestehen eines Anordnungsanspruchs näher eingehen kann, schon mangels des erforderlichen Anordnungsgrundes abgelehnt werden.

Ende der Entscheidung

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