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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 09.08.2000
Aktenzeichen: I R 33/99
Rechtsgebiete: AO 1977
Vorschriften:
AO 1977 § 355 Abs. 1 | |
AO 1977 § 110 Abs. 1 | |
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1 |
Gründe
I. Im Anschluss an eine Steuerfahndungsprüfung erließ der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) am 16. Juli 1998 Bescheide über die im Rubrum genannten Steuern und Feststellungen und stellte diese dem alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführer der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin), einer im Saarland ansässigen GmbH, am 17. Juli 1998 durch Postzustellungsurkunde zu. Die hiergegen gerichteten und durch den Steuerberater der Klägerin eingelegten Einsprüche gingen erst am 18. August 1998 beim FA ein. Auf dessen entsprechenden Hinweis beantragte die Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und trug zur Begründung vor:
Ihr Steuerberater habe nicht erkennen können, dass die Steuerbescheide mit Postzustellungsurkunde zugestellt worden seien, weil die angefochtenen Bescheide sämtlich keinen Vermerk über die Zustellung enthielten. Wie das Finanzgericht (FG) des Saarlandes in seinem Urteil vom 7. Oktober 1987 1 K 104/87 (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1988, 55) entschieden habe, sei in Anbetracht dessen die Annahme gerechtfertigt, die Bescheide seien nicht förmlich bekannt gegeben worden. Um diese Annahme auszuschließen, habe die Oberfinanzdirektion (OFD) Saarbrücken mit der (amtlich nicht veröffentlichten) Verfügung vom 4. Dezember 1987 S-0284-10-St 231 ausdrücklich angeordnet, dass bei allen förmlichen Zustellungen die Zustellungsart grundsätzlich auf dem zuzustellenden Schriftstück deutlich zu vermerken sei. Diese verwaltungsinterne Weisung sei ermessensregelnder Natur; sie binde die Finanzverwaltung über den Gesichtspunkt der Selbstbindung.
Das FA lehnte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab und verwarf die Einsprüche als unzulässig. Die dagegen erhobene Klage war erfolgreich. Das Urteil des FG ist in EFG 1999, 750 abgedruckt.
Seine Revision stützt das FA auf die Verletzung von § 110 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977).
Es beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Klageabweisung.
Die von der Klägerin eingelegten Einsprüche sind beim FA nach Ablauf der Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 AO 1977 eingegangen; sie waren damit verfristet. Nach § 110 Abs. 1 AO 1977 ist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. "Ohne Verschulden" verhindert, eine gesetzliche Frist (hier: die Frist zur Einlegung der Einsprüche) einzuhalten, ist jemand nur dann, wenn er die für einen gewissenhaft und sachgemäß handelnden Verfahrensbeteiligten gebotene und ihm nach den Umständen zumutbare Sorgfalt beachtet hat (vgl. Bundesfinanzhof --BFH--, Urteil vom 11. August 1993 II R 6/91, BFH/NV 1994, 440). Jedes Verschulden, auch einfache Fahrlässigkeit, schließt die Wiedereinsetzung aus (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 24. September 1985 III B 3/85, BFH/NV 1986, 190). So verhält es sich, wie der BFH im Urteil vom 4. März 1998 XI R 44/97 (BFH/NV 1998, 1056), entschieden hat, dann, wenn die Einspruchsfrist deshalb versäumt wird, weil der (geschäftsgewandte) Steuerpflichtige seinen Bevollmächtigten nicht über die Tatsache der Zustellung des Steuerbescheides mittels Postzustellungsurkunde in Kenntnis gesetzt hat. Der Umstand, dass auf den ordnungsgemäß zugestellten Steuerbescheiden keine Zustellungsvermerke angebracht worden sind, lasse das infolge der verletzten Unterrichtungspflicht ausgelöste Verschulden nicht entfallen, weil eine derartige Verpflichtung des FA nicht bestehe. Der erkennende Senat schließt sich dem an; wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf das vorgenannte Urteil verwiesen.
Entgegen der Auffassung des FG ändern die im Streitfall gegebenen Besonderheiten nichts daran, dass den Geschäftsführer der Klägerin als den für diese handelnden gesetzlichen Vertreter (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) persönlich ein Verschulden an der verspäteten Einlegung der Einsprüche trifft. Zwar hat die OFD Saarbrücken in der (amtlich nicht veröffentlichten) Verfügung vom 4. Dezember 1987 S-0284-10-St 231 im Anschluss an das Urteil des FG des Saarlandes in EFG 1988, 55 angeordnet, dass bei allen förmlichen Zustellungen die Zustellungsart auf dem zuzustellenden Schriftstück deutlich zu vermerken sei, um hierdurch "eine besondere Sorgfaltspflicht des Empfängers bei Überwachung des Fristenlaufs" zu begründen. Dieser "besonderen Sorgfaltspflicht" bedarf es jedoch, wie aufgezeigt, nicht, um das eine Wiedereinsetzung ausschließende Verschulden des Steuerpflichtigen zu bejahen, wenn er es versäumt, seinen steuerlichen Berater entsprechend zu informieren und wenn dieser deswegen den Fristenlauf falsch berechnet. Das maßgebliche Verschulden des Steuerpflichtigen als des Zustellungsadressaten liegt dann in der fehlenden Unterrichtung des Beraters, nicht aber in dem unterlassenen Zustellvermerk und ist hiervon unabhängig.
Ein Verschulden des Steuerpflichtigen könnte unter solchen Umständen, wenn überhaupt, nur entfallen, wenn ihm der Umstand der Zustellung infolge des fehlenden Zustellungsvermerks unbekannt geblieben wäre und hätte bleiben können. So liegen die Dinge vorliegend jedoch nicht: Der --im vorgenannten Sinne (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 1998, 1056) als geschäftsgewandt anzusehende-- Geschäftsführer der Kläger wusste von der förmlichen Zustellung und infolge der den angefochtenen Bescheiden beigefügten Rechtsbehelfsbelehrungen von den Konsequenzen dieser Bekanntgabeform für den Fristlauf. Er verabsäumte es dennoch --und zwar in schuldhaft vorwerfbarer Weise zu Lasten der Klägerin--, den Berater davon zu informieren. Insofern ist nicht erkennbar, dass und inwieweit er in seinem Vertrauen auf das Verwaltungsverhalten nach den Grundsätzen von Treu und Glauben geschützt werden müsste.
Zwar ist einzuräumen, dass es vermutlich nicht zu der Fristüberschreitung gekommen wäre, wenn das FA die erwähnte OFD-Verfügung befolgt und die Zustellung auf den Steuerbescheiden vermerkt hätte. Dies hätte unter den gegebenen Umständen jedoch allein daran gelegen, dass der steuerliche Berater von sich aus und ohne weitere, andernfalls gebotene Rückfragen bei der Klägerin (vgl. dazu BFH-Urteil vom 17. März 1994 V R 136/92, BFH/NV 1995, 465) auf die Bekanntgabebesonderheiten aufmerksam geworden wäre. Auf ein mögliches Verschulden des Bevollmächtigten, das der Klägerin zuzurechnen wäre, kommt es vorliegend jedoch nicht an (s. auch BFH-Urteil in BFH/NV 1998, 1056, 1057). Ausschlaggebend ist, dass das für die Verschuldensfrage als Voraussetzung für die begehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand maßgebliche Verhalten des Geschäftsführers der Klägerin hiervon unberührt geblieben wäre. Dieser wäre auch durch den auf den angefochtenen Steuerbescheiden angebrachten Zustellungsvermerk nicht von der ihn treffenden Sorgfaltspflicht entbunden worden, er sollte vielmehr, wie sich gerade auch aus der OFD-Verfügung ergibt, zu dieser im Gegenteil besonders angehalten werden. Die demgegenüber vom FG angeführte Rechtsprechung des BFH zur Bedeutung wechselseitiger Pflichtverstöße des FA und des Steuerpflichtigen beim nachträglichen Bekanntwerden von Tatsachen und Beweismitteln zuungunsten des Steuerpflichtigen gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Urteil vom 20. Dezember 1988 VIII R 121/83, BFHE 156, 339, BStBl II 1989, 585; Kruse/Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 173 AO Tz. 62 ff., 72) ist insoweit nicht einschlägig.
Im Übrigen ist vom FG ohnehin nicht festgestellt worden, dass sich die Finanzbehörden im Saarland im Wege einer durchgängigen Verwaltungsübung an die Verfügung gehalten hätten. Es kann deswegen dahinstehen, ob das FA gegenüber den Steuerpflichtigen in seinem Zuständigkeitsbereich überhaupt nach den Grundsätzen der sog. Selbstbindung der Verwaltung über Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes gebunden ist (vgl. dazu im Einzelnen m.w.N. Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 4 AO Tz. 38).
Das Urteil der Vorinstanz, die eine abweichende Rechtsauffassung vertreten und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hat, war aufzuheben. Die Klage bleibt ohne Erfolg.
Ende der Entscheidung
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