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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 22.08.2006
Aktenzeichen: I R 42/05
Rechtsgebiete: KStG 1999, AO 1977, FGO, EStG, VwVfG


Vorschriften:

KStG 1999 § 44
AO 1977 § 130
AO 1977 § 130 Abs. 2 Nr. 3
AO 1977 § 130 Abs. 2 Nr. 4
AO 1977 § 130 Abs. 3
AO 1977 § 131
AO 1977 § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
AO 1977 § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
FGO § 126 Abs. 2
EStG § 20 a.F.
EStG § 26b
EStG § 36 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 a.F.
EStG § 36 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 Satz 4 Buchst. b a.F.
VwVfG § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Abrechnungsbescheids.

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die für die Streitjahre (1984 bis 1987) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Der Kläger war in den Streitjahren beherrschender Gesellschafter einer GmbH.

Das für die Besteuerung der GmbH zuständige Finanzamt (FA B) nahm im Anschluss an eine Betriebsprüfung zunächst an, dass es sich bei einzelnen als Arbeitslohn verbuchten Zahlungen der GmbH an den Kläger um verdeckte Gewinnausschüttungen gehandelt habe. Dies teilte es dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) mit. Nachdem ferner der Kläger entsprechende --von ihm selbst unterzeichnete-- Steuerbescheinigungen gemäß § 44 des Körperschaftsteuergesetzes 1999 (KStG 1999) eingereicht hatte, änderte das FA die zuvor gegenüber den Klägern erlassenen Einkommensteuerbescheide am 20. Dezember 1990 (für 1984 und 1985), am 31. Januar 1991 (für 1986) und am 23. Januar 1991 (für 1987) nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977). In den Änderungsbescheiden wurden die vom FA B beanstandeten Zahlungen nicht mehr den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, sondern den Einkünften aus Kapitalvermögen zugeordnet; außerdem wurde die anrechenbare Körperschaftsteuer jeweils als Einnahme erfasst. Auf die dementsprechend festgesetzten Einkommensteuern rechnete das FA die von der GmbH bescheinigte Körperschaftsteuer an.

Auf eine Klage der GmbH gegen die sie betreffenden Körperschaftsteuerbescheide für die Streitjahre entschied das Hessische Finanzgericht (FG), dass die in Rede stehenden Zahlungen nicht als verdeckte Gewinnausschüttungen zu beurteilen seien. Das Urteil wurde rechtskräftig. Daraufhin erließ das FA den Klägern gegenüber nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 geänderte Einkommensteuerbescheide, in denen es die früheren Änderungen rückgängig machte. Auf die in diesen Bescheiden festgesetzte Einkommensteuer rechnete das FA die von der GmbH bescheinigte Körperschaftsteuer auf verdeckte Gewinnausschüttungen nicht mehr an.

Die Kläger legten gegen die geänderten Einkommensteuerbescheide Einspruch ein und wandten sich dabei insbesondere gegen die Änderungen bei der Anrechnung von Körperschaftsteuer. Daraufhin erließ das FA einen Abrechnungsbescheid, in dem es die von den Klägern beanstandeten Änderungen bestätigte. Die gegen den Abrechnungsbescheid gerichtete Klage hat das FG durch Urteil vom 10. November 2004 11 K 1855/02 abgewiesen.

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügen die Kläger eine Verletzung des § 130 und des § 131 AO 1977. Sie beantragen, das Urteil des FG und die ihm vorangegangene Einspruchsentscheidung des FA aufzuheben und den Abrechnungsbescheid in der Weise zu ändern, dass die Körperschaftsteuer nach Maßgabe der Anrechnungsverfügungen in den Bescheiden vom 20. Dezember 1990, vom 31. Januar 1991 und vom 23. Januar 1991 angerechnet wird.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision ist unbegründet und deshalb gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat den angefochtenen Abrechnungsbescheid zu Recht bestätigt.

1. Nach § 36 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes in der für die Streitjahre geltenden Fassung (EStG a.F.) wird unter bestimmten Voraussetzungen die Körperschaftsteuer einer unbeschränkt steuerpflichtigen Körperschaft auf die Einkommensteuer ihres Anteilseigners angerechnet. Die Steueranrechnung hängt u.a. davon ab, dass die von der Gesellschaft geschuldete Körperschaftsteuer auf einem Vorgang beruht, der bei dem Anteilseigner Einkünfte der in § 20 EStG a.F. bezeichneten Art auslöst. Daran fehlt es im Streitfall: Das FA hatte zwar zunächst angenommen, dass es im Verhältnis zwischen der GmbH und dem Kläger zu verdeckten Gewinnausschüttungen gekommen sei und dass darauf eine bei der GmbH zu erhebende und beim Kläger anzurechnende Körperschaftsteuer beruhe. Das FG ist jedoch in dem angefochtenen Urteil davon ausgegangen, dass richtigerweise keine verdeckten Gewinnausschüttungen vorliegen. Diese Annahme wird von den Beteiligten nicht beanstandet, weshalb der Senat keine Veranlassung sieht, sie in Zweifel zu ziehen. Angesichts dessen liegen die Voraussetzungen für die von den Klägern begehrte Anrechnung von Körperschaftsteuer aus materiell-rechtlicher Sicht nicht vor.

2. Dieser Rechtslage hat das FA in dem angefochtenen Abrechnungsbescheid inhaltlich Rechnung getragen. Es war hieran nicht dadurch gehindert, dass es in den zuvor erlassenen Anrechnungsverfügungen die Körperschaftsteuer jeweils angerechnet hatte und dass diese Anrechnungsverfügungen bestandskräftig geworden sind. In diesem Zusammenhang kann offen bleiben, ob --wie der VII. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) wiederholt entschieden hat-- eine Anrechnungsverfügung Bindungswirkung gegenüber einem nachfolgenden Abrechnungsbescheid (§ 218 Abs. 2 AO 1977) entfalten kann (BFH-Urteile vom 16. Oktober 1986 VII R 159/83, BFHE 148, 4, BStBl II 1987, 405; vom 15. April 1997 VII R 100/96, BFHE 182, 506, BStBl II 1997, 787, m.w.N.; einschränkend jetzt BFH-Beschluss vom 13. Januar 2005 VII B 147/04, BFHE 208, 404, BStBl II 2005, 457; anders Senatsurteile vom 28. April 1993 I R 100/92, BFHE 171, 397, BStBl II 1993, 836; vom 28. April 1993 I R 123/91, BFHE 170, 573, BStBl II 1994, 147). Denn auch wenn man die Möglichkeit einer Bindungswirkung im Grundsatz bejaht, besteht eine solche jedenfalls nicht, wenn und soweit die Anrechnungsverfügung nach den für sie geltenden Regeln beseitigt werden könnte. Das aber ist hier der Fall.

a) Nach § 130 AO 1977 kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt unter bestimmten Voraussetzungen mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Diese Regelung gilt auch für Anrechnungsverfügungen, wenn und soweit solche als Verwaltungsakte anzusehen sind. Sie bewirkt, dass jedenfalls in den von ihr erfassten Fällen eine Anrechnungsverfügung im Verhältnis zu einem ihr nachfolgenden Abrechnungsbescheid keine Bindungswirkung entfaltet.

b) Im Streitfall waren die Verfügungen, durch die das FA auf die Einkommensteuer der Kläger u.a. durch verdeckte Gewinnausschüttungen ausgelöste Körperschaftsteuer angerechnet hatte, i.S. des § 130 AO 1977 rechtswidrig. Das gilt entgegen der Ansicht der Kläger unabhängig davon, ob das FA bei Erlass jener Verfügungen vom Vorliegen verdeckter Gewinnausschüttungen ausging oder nicht. Ebenso spielt keine Rolle, dass die genannten Anrechnungsverfügungen zu einem Zeitpunkt ergangen sind, in dem gegenüber der GmbH die Körperschaftsteuer unter Berücksichtigung verdeckter Gewinnausschüttungen festgesetzt war; denn die Frage nach dem Vorliegen einer verdeckten Gewinnausschüttung ist im Rahmen der Besteuerung des Gesellschafters unabhängig von der Bescheidlage im Verhältnis zur Kapitalgesellschaft zu beurteilen (BFH-Urteil vom 27. Oktober 1992 VIII R 41/89, BFHE 170, 1, BStBl II 1993, 569; Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 29. September 2005, BStBl I 2005, 903; Buciek, Die Steuerberatung 2005, 60, 67, m.w.N.). Allein entscheidend ist vielmehr, dass objektiv keine verdeckten Gewinnausschüttungen stattgefunden haben und dass deshalb die in § 36 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 EStG a.F. bestimmten Anrechnungsvoraussetzungen nicht vorlagen.

c) Das FG hat auf dieser Basis angenommen, dass die den Klägern günstigen Anrechnungsverfügungen nach § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO 1977 zurückgenommen werden durften. Denn die Kläger hätten aus den Hinweisen in den später geänderten Einkommensteuerbescheiden ableiten können und müssen, dass ein Erfolg der von der GmbH erhobenen Klage zu einer für sie nachteiligen Änderung der Anrechnungsverfügungen führen werde. Der Streitfall gibt keine Veranlassung, diese Überlegung abschließend zu überprüfen. Denn das FA war jedenfalls nach § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 zur Rücknahme der zuvor ergangenen Anrechnungsverfügungen berechtigt.

aa) Nach der genannten Regelung kann ein Verwaltungsakt zurückgenommen werden, wenn ihn der Begünstigte durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren. Eine solche Situation liegt im Streitfall vor. Denn der Kläger hatte im Anschluss an die Außenprüfung bei der GmbH dem FA gegenüber angegeben, dass er von der GmbH verdeckte Gewinnausschüttungen bezogen habe, und zur Bestätigung dieses Vortrags entsprechende Steuerbescheinigungen ausgestellt und vorgelegt. Dieses Verhalten ist nicht nur dem Kläger selbst, sondern gleichermaßen der Klägerin zuzurechnen, da die Kläger für die Streitjahre zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden und deshalb im Zusammenhang mit dem Anrechnungsverfahren gemeinsam als Steuerpflichtiger anzusehen sind (§ 26b EStG, s. auch zur Zurechnung des Verhaltens unter Eheleuten bezogen auf die Parallelvorschrift zu § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 in § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes --VwVfG-- Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl., § 48 Rz. 105, m.w.N.). Ohne die genannten Angaben und insbesondere ohne die Vorlage der Steuerbescheinigungen hätte das FA die Körperschaftsteuer nicht angerechnet, da nach der hier maßgeblichen Rechtslage die Vorlage der Bescheinigungen zu den gesetzlichen Voraussetzungen für die Anrechnung gehörte (§ 36 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 Satz 4 Buchst. b EStG a.F.). Folglich haben die Kläger durch ihr Vorgehen die fehlerhafte Anrechnung i.S. des § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 "erwirkt". Damit sind die in der Vorschrift genannten Voraussetzungen für eine Rücknahme der Anrechnungsverfügungen erfüllt.

bb) Eine abweichende Beurteilung folgt nicht daraus, dass das beschriebene Vorgehen des Klägers dem seinerzeit vom FA B eingenommenen Rechtsstandpunkt entsprach und ersichtlich sogar durch das Vorgehen des FA B veranlasst worden ist. Denn zum einen setzt § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 kein Verschulden des Begünstigten voraus; die objektive Unrichtigkeit der von diesem gemachten Angaben rechtfertigt vielmehr als solche die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts (Senatsurteil vom 13. Juli 1994 I R 95/93, BFH/NV 1995, 935; Rüsken in Klein, Abgabenordnung, 9. Aufl., § 130 Rz. 46, m.w.N.). Zum anderen stellt § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 nicht darauf ab, ob die Finanzbehörde die Unrichtigkeit der Angaben erkennen konnte (ebenso FG Hamburg, Urteil vom 4. März 1997 III 90/95, Entscheidungen der Finanzgerichte 1997, 1343; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 130 Rz. 15; Pahlke in Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, § 130 Rz. 36, m.w.N.); deshalb scheitert die Anwendung der Vorschrift im Streitfall nicht daran, dass das FA das Vorliegen von verdeckten Gewinnausschüttungen in eigener Zuständigkeit prüfen musste. Schließlich kann unentschieden bleiben, ob § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 auch dann eingreift, wenn die Finanzbehörde die unrichtigen oder unvollständigen Angaben des Begünstigten selbst verursacht hat (verneinend Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 130 AO Tz. 28; Kopp/ Ramsauer, a.a.O., § 48 Rz. 103); ein solcher Sachverhalt liegt hier nicht vor, da das Verhalten des FA B insoweit nicht dem FA zugerechnet werden kann. Auch unter diesem Gesichtspunkt besteht daher kein Anlass, im Streitfall § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 für nicht durchgreifend zu erachten.

d) Nach § 130 Abs. 3 AO 1977 ist die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigten Verwaltungsakts nur innerhalb eines Jahres von dem Zeitpunkt an zulässig, in dem die Finanzbehörde von den die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen Kenntnis erhalten hat. Das FG hat zu Recht entschieden, dass diese Frist im Streitfall gewahrt ist. Denn sie wurde in Lauf gesetzt, als das FA davon erfuhr, dass die GmbH mit ihrer Klage gegen die Körperschaftsteuerbescheide Erfolg gehabt hatte. Die Änderung der Anrechnungsverfügungen, die anschließend durch den streitigen Abrechnungsbescheid bestätigt wurde, ist vor Ablauf eines Jahres nach diesem Zeitpunkt erfolgt.

3. Die Kläger können sich nicht mit Erfolg auf eine Verwirkung des Steueranspruchs berufen. Denn eine solche tritt nicht schon dann ein, wenn die Finanzbehörde den Steueranspruch über längere Zeit hinweg nicht geltend macht. Vielmehr müssen weitere Umstände hinzutreten, die die verspätete Rechtsausübung durch die Behörde als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (BFH-Urteile vom 9. August 1988 VII R 40/85, BFH/NV 1989, 260, 261; vom 9. März 1999 VIII R 19/97, BFH/NV 1999, 1186; BFH-Beschluss vom 1. Juli 2003 II B 84/02, BFH/NV 2003, 1534, m.w.N.). Das Vorliegen solcher Umstände hat das FG im Streitfall ohne Rechtsfehler verneint.

Die Kläger beanstanden in diesem Zusammenhang, dass das FA ihre Einsprüche gegen die geänderten Einkommensteuerbescheide mehr als sieben Jahre lang nicht bearbeitet habe. Es habe zwar auf die Einsprüche hin im Februar 1993 die Vollziehung der Bescheide ausgesetzt, sodann aber erst im August 2000 den angefochtenen Abrechnungsbescheid erlassen. In der Zwischenzeit sei die Angelegenheit nicht erkennbar betrieben worden, wodurch bei ihnen --den Klägern-- der Eindruck entstanden sei, dass der Steueranspruch nicht mehr geltend gemacht werden solle. Dieses Vorbringen kann jedoch schon deshalb nicht durchgreifen, weil nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung die überlange Dauer eines Einspruchsverfahrens für sich genommen nicht geeignet ist, eine Verwirkung des Steueranspruchs auszulösen (Senatsbeschluss vom 1. Dezember 2004 I B 163/04, I S 11/04, BFH/NV 2005, 895; Pahlke in Pahlke/Koenig, a.a.O., § 367 Rz. 56, m.w.N.). Zu diesem Faktor hinzutretende Umstände, die auf eine Aufgabe des Steueranspruchs durch das FA hingedeutet haben könnten, haben die Kläger nicht geltend gemacht.

Ende der Entscheidung

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