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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 28.10.1999
Aktenzeichen: I R 8/98
Rechtsgebiete: GewStG, AO 1977, FGO


Vorschriften:

GewStG § 30
GewStG § 33
AO 1977 § 360 Abs. 3
AO 1977 § 125
AO 1977 § 360 Abs. 3
AO 1977 § 360 Abs. 3 Satz 1
FGO § 100 Abs. 3 Satz 1
FGO § 60, 90a
FGO § 100
FGO § 60 Abs. 3 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist eine zur Erhebung von Gewerbesteuer berechtigte Gemeinde. Auf ihrem Gebiet befand sich u.a. im Erhebungszeitraum 1992 (Streitjahr) ein Umspannwerk des Elektrizitätsversorgungsunternehmens X-AG. Das Umspannwerk war Teil einer sich auf insgesamt 534 Gemeinden erstreckenden mehrgemeindlichen Betriebsstätte i.S. des § 30 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG). Durch Zerlegungsbescheid vom 16. September 1996 zerlegte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) den für den Gewerbebetrieb der X-AG festgesetzten einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrag 1992 auf die insgesamt 534 Betriebsstättengemeinden.

Zerlegungsmaßstab war entsprechend der Zerlegungserklärung der X-AG

* für 50 v.H. des einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrags das Verhältnis der Gesamtzahl der in den Betriebsstättengemeinden wohnenden Arbeitnehmer der X-AG zur Zahl der in der jeweiligen Betriebsstättengemeinde wohnenden Arbeitnehmer der X-AG (Zerlegungsfaktor Arbeitnehmer),

* für 30 v.H. des einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrags das Verhältnis der Summe der Einnahmen aus dem Stromverkauf in den Betriebsstättengemeinden zu den Einnahmen aus dem Stromverkauf in der jeweiligen Betriebsstättengemeinde (Zerlegungsfaktor Stromeinnahmen),

* für 20 v.H. des einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrags das Verhältnis der Summe der Werte des in den Betriebsstättengemeinden investierten Anlagevermögens der X-AG zum Wert des in der jeweiligen Betriebsstättengemeinde investierten Anlagevermögens (Zerlegungsfaktor Anlagevermögen).

Die Klägerin legte gegen den Zerlegungsbescheid Einspruch ein und machte geltend, dieser schon seit 1940 angewandte Zerlegungsmaßstab führe zu einem für die Klägerin unbilligen Ergebnis. Sie begehrte, bei der Zerlegung auch angemessen zu berücksichtigen, daß durch die zahlreichen mit dem Umspannwerk verbundenen Hochspannungsleitungen die bauliche und gewerbliche Entwicklung der Klägerin erheblich beeinträchtigt werde. Das FA wies den Einspruch durch Einspruchsentscheidung vom 29. Januar 1997 zurück und führte zur Begründung im wesentlichen aus: Der Zerlegungsmaßstab sei 1939 in einer Vereinbarung zwischen der X-AG, dem Innenministerium als Vertreter der Gemeinden und der Finanzverwaltung festgelegt worden. Seitdem hätten sich die Verhältnisse nicht derart gravierend geändert, daß die Klägerin nicht mehr an die Vereinbarung gebunden sei. Die Zerlegung stehe auch mit § 33 GewStG und dem Urteil des Reichsfinanzhofs (RFH) vom 7. Mai 1940 I 328/39 (RStBl 1940, 714) in Einklang.

Im anschließenden Klageverfahren beantragte die Klägerin, den Zerlegungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung dahingehend zu ändern, daß der einheitliche Gewerbesteuermeßbetrag zu 50 v.H. nach dem Zerlegungsfaktor Arbeitnehmer und zu 50 v.H. nach der Flächeninanspruchnahme durch die Einrichtungen der X-AG (Zerlegungsfaktor Fläche) zerlegt wird, hilfsweise, den Zerlegungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung aufzuheben.

Das Finanzgericht (FG) entschied nicht in der Sache, sondern beschränkte sich darauf, die Einspruchsentscheidung aufzuheben. Es vertrat die Auffassung, bei Erlaß der Einspruchsentscheidung sei dem FA ein schwerer Verfahrensfehler unterlaufen. Es habe bewußt --um den Fall "schnell vom Tisch" zu bekommen-- die X-AG und die anderen 533 Betriebsstättengemeinden nicht wie geboten gemäß § 360 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO 1977) zum Einspruchsverfahren hinzugezogen. Wegen dieses Fehlers sei die Einspruchsentscheidung nichtig und aufzuheben. Zusätzlich stützte das FG die isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung auf § 100 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Von einer Beiladung der 533 anderen Betriebsstättengemeinden und der X-AG sah das FG ab. Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1998, 503 und 624 veröffentlicht.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung formellen und materiellen Rechts, insbesondere der §§ 125, 360 Abs. 3 AO 1977, §§ 60, 90a, 100 FGO und §§ 30 und 33 GewStG.

Es beantragt, die Entscheidung des FG aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II. Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil war aufzuheben und die Sache war an das FG zurückzuverweisen. Die Entscheidung des FG verletzt § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO.

1. Gemäß § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO sind Dritte zum Verfahren notwendig beizuladen, wenn sie derart an dem streitigen Rechtsverhältnis beteiligt sind, daß die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Wird eine notwendige Beiladung unterlassen, ist dies ein Verstoß gegen die Grundordnung des finanzgerichtlichen Verfahrens. Er kann im Revisionsverfahren nicht mehr geheilt werden und führt --auch wenn er nicht gerügt wurde-- ohne Sachprüfung zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das FG (Bundesfinanzhof --BFH--, Urteile vom 19. April 1988 VII R 56/87, BFHE 153, 472, BStBl II 1988, 789; vom 24. November 1993 II R 127/89, BFH/NV 1994, 493; vom 14. September 1994 I R 60/93, BFH/NV 1995, 484).

In Rechtsstreiten wegen der Zerlegung eines Gewerbesteuermeßbetrags sind nach ständiger BFH-Rechtsprechung die Personen notwendig beizuladen, deren Interessen vom Klagebegehren berührt werden (s. BFH-Urteile vom 12. Oktober 1977 I R 226/75, BFHE 123, 500, BStBl II 1978, 111; in BFH/NV 1995, 484). Denn die Entscheidung über die Zerlegung kann gegenüber dem Steuerpflichtigen und den Gemeinden, die einen Anteil an dem zu zerlegenden Meßbetrag beanspruchen, nur einheitlich ergehen (s. § 186 AO 1977; BFH-Urteil vom 15. Mai 1975 IV R 197/71, BFHE 116, 382, BStBl II 1975, 828; BFH-Beschluß vom 1. Oktober 1981 I B 31/81 und I B 32/81, BFHE 134, 227, BStBl II 1982, 130, m.w.N.).

2. Dazu hat das FG in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, daß der einheitliche Gewerbesteuermeßbetrag, dessen Zerlegung streitig ist, in vollem Umfang auf die mehrgemeindliche Betriebsstätte der X-AG entfällt und daß die Klägerin eine Änderung des von ihr angefochtenen Zerlegungsbescheides zu ihren Gunsten begehrt. Das Klagebegehren berührt daher die Interessen aller anderen 533 Betriebsstättengemeinden (s. BFH-Urteil in BFHE 116, 382, BStBl II 1975, 828). Das FG hätte deshalb die anderen Betriebsstättengemeinden und --jedenfalls bei unterschiedlichen Gewerbesteuerhebesätzen-- auch die X-AG bzw. ihre Rechtsnachfolgerin notwendig beiladen müssen (zu der Streitfrage, ob der Steuerpflichtige nur bei unterschiedlichen Hebesätzen notwendig beizuladen ist, s. Blümich/Hofmeister, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, § 28 GewStG Rz. 24).

3. Der vom FG gerügte und vom FA auch nicht bestrittene Verstoß gegen § 360 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 ist kein Grund, von der Beiladung abzusehen.

a) § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO setzt für eine Beiladung nicht voraus, daß die beizuladenden Personen bereits zum vorangegangenen Einspruchsverfahren hinzugezogen worden sind oder in dem Verfahren Einspruchsführer waren. Vielmehr ist eine Beiladung gemäß § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO geeignet, einen Verstoß gegen § 360 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 zu heilen. Hat die Finanzbehörde eine notwendige Hinzuziehung gemäß § 360 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 unterlassen, ist die Einspruchsentscheidung zwar fehlerhaft. Dieser Fehler ist aber nicht so schwerwiegend, daß er gemäß § 125 AO 1977 zur unheilbaren Nichtigkeit der Einspruchsentscheidung führt (BFH-Beschluß vom 10. Juni 1997 IV B 124/96, BFH/NV 1998, 14; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 125 AO Tz. 5; Birkenfeld in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 360 AO Rz. 77). Vielmehr ist er --jedenfalls dann, wenn wie im Streitfall der Einspruch zu keiner Änderung des Zerlegungsbescheides geführt hat-- dadurch zu heilen, daß im anschließenden Klageverfahren die anderen Beteiligten i.S. des § 186 AO 1977, deren Interessen vom Klagebegehren berührt werden, gemäß § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO beigeladen werden (s. BFH-Entscheidungen vom 22. November 1988 VIII R 62/85, BFHE 155, 322, BStBl II 1989, 359; vom 27. April 1989 VIII B 25/85, BFH/NV 1990, 299; vom 19. Juli 1989 II R 73/85, BFHE 157, 321, BStBl II 1989, 851; vom 13. Juli 1993 VIII R 50/92, BFHE 173, 28, BStBl II 1994, 282; Tipke/Kruse, a.a.O., § 360 AO Tz. 5; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 60 Rz. 108; Birkenfeld, a.a.O., § 360 AO Rz. 79, 80; Klein/Brockmeyer, Abgabenordnung, 6. Aufl., § 360 Anm. 6).

b) Das gilt entgegen der Auffassung des FG auch dann, wenn die Finanzbehörde bewußt die notwendige Hinzuziehung gemäß § 360 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 unterlassen hat.

Ob ein Verwaltungsakt an einem zu seiner Nichtigkeit führenden nicht heilbaren schwerwiegenden Fehler leidet, bestimmt sich nach der Art des Fehlers. Keine Entscheidungskriterien sind, ob der Fehler der Finanzbehörde bewußt oder aus Versehen unterlief und ob er vermeidbar oder unvermeidbar war (s. Klein/ Brockmeyer, a.a.O., § 125 Anm. 2). § 125 AO 1977 hat nicht den Zweck, bewußtes Fehlverhalten der Finanzbehörden zu sanktionieren.

Daß auch eine bewußte Nichtbeachtung des § 360 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 im anschließenden Klageverfahren heilbar ist, kann zwar die Finanzbehörden dazu verleiten, notwendige Hinzuziehungen zu unterlassen. Es wäre nach Auffassung des erkennenden Senats aber verfehlt, dem durch Ausschluß der Heilungsmöglichkeit zu begegnen. Die Heilungsmöglichkeit liegt im Interesse der Kläger und der Beizuladenden, da durch sie eine sonst eintretende Verzögerung des Verfahrens vermieden werden kann. Deutlich wird dieses Interesse, wenn weder der Kläger noch einer der vom FG Beigeladenen den der Finanzbehörde unterlaufenen Verfahrensfehler zum Anlaß nehmen, nur die Aufhebung der Einspruchsentscheidung zu beantragen. Sollten sich Fälle häufen, in denen FÄ allein deshalb von notwendiger Hinzuziehung abgesehen haben, um sich die Arbeit zu erleichtern, könnte dem durch Maßnahmen der Dienstaufsicht begegnet werden.

c) Der erkennende Senat kann ungeklärt lassen, ob es dem FA --wie die Klägerin meint-- aufgrund der bewußten Verletzung des § 360 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 verwehrt ist, sich seinerseits auf den Verstoß gegen § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO zu berufen. Eine unterlassene notwendige Beiladung führt auch dann zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das FG, wenn keiner der Beteiligten den Verfahrensfehler gerügt hat (s. oben II. 1.). Es kommt daher nicht darauf an, ob die Rüge des FA, das FG habe gegen § 60 FGO verstoßen, rechtsmißbräuchlich ist oder nicht.

d) Der Klägerin geht durch die Heilung des dem FA unterlaufenen Verfahrensfehlers auch keine Instanz verloren. Sie war am Einspruchsverfahren beteiligt. Nur die noch beizuladenden Gemeinden und die Rechtsnachfolgerin der X-AG verlieren durch die Heilung eine außergerichtliche Instanz, falls das FG im zweiten Rechtsgang in der Sache entscheidet.

e) Schließlich ist auch das mit den notwendigen Beiladungen verbundene hohe Kostenrisiko der Klägerin kein Grund, die Einspruchsentscheidung als nichtig zu beurteilen. Ob die Einspruchsentscheidung nichtig ist oder nicht, hängt von der Art des ihr anhaftenden Fehlers und dessen Schwere ab. Diese sind im Streitfall nicht davon abhängig, ob ein Rechtsstreit wegen der durch die Einspruchsentscheidung bestätigten Zerlegung für die Klägerin mit einem hohen oder einem geringen Kostenrisiko verbunden ist. Das Kostenrisiko ergibt sich nicht aus dem Verfahrensfehler des FA, sondern erst aus der Entscheidung der Klägerin, wegen der Zerlegung Klage zu erheben und eine Änderung des Zerlegungsbescheids zu ihren Gunsten zu begehren.

Ende der Entscheidung

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