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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 14.05.2003
Aktenzeichen: II R 25/01
Rechtsgebiete: GrEStG 1983, AO 1977
Vorschriften:
GrEStG 1983 § 9 Abs. 1 Nr. 1 | |
AO 1977 § 173 Abs. 1 | |
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1 | |
AO 1977 § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 |
Gründe:
I. Durch privatschriftliche Vereinbarung vom 7. November 1981 beauftragte der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) die B-GmbH, für ihn acht Eigentumswohnungen zu Gesamtkosten von 2 223 955 DM zu erwerben. Die B-GmbH sollte auf Grund des vereinbarten Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrages alle Verträge zum Erwerb der Wohnungen abschließen sowie die kaufmännische Geschäftsbesorgung einschließlich der Beschaffung des Fremdkapitals übernehmen. Der Kläger erteilte der B-GmbH hierzu notarielle Vollmacht.
Mit notariell beurkundetem Vertrag vom 11. August 1982 erwarb der Kläger --dabei vertreten durch die B-GmbH-- das Wohnungseigentum an den acht Wohnungen zum Preis von insgesamt 1 563 848,49 DM einschließlich Mehrwertsteuer.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) erhielt nur eine Anzeige des Grundstückskaufvertrags und setzte mit Bescheid vom 24. März 1986 nach einer Bemessungsgrundlage von 1 563 848,49 DM und unter Anwendung eines Steuersatzes von 7 v.H. gegen den Kläger Grunderwerbsteuer in Höhe von 109 469,35 DM fest. Nachdem das FA aufgrund steuerstrafrechtlicher Ermittlungen bei der B-GmbH von dem Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrag mit dem Kläger und von dem mit dem Erwerb der Eigentumswohnung verbundenen Gesamtaufwand erfahren hatte, erließ es am 9. April 1986 gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) einen geänderten Grunderwerbsteuerbescheid, durch den es die Steuer gegen den Kläger nach einer Bemessungsgrundlage von 2 223 955 DM auf 155 676,85 DM heraufsetzte. Auf den dagegen eingelegten Einspruch setzte das FA die Steuer durch Einspruchsentscheidung vom 5. Mai 1994 nach einer Bemessungsgrundlage von 1 735 481,03 DM auf 121 483,65 DM wieder herab. Dabei berechnete es --weitgehend dem Bericht der Steuerfahndung folgend-- die Bemessungsgrundlage wie folgt:
Erbrachter Gesamtaufwand 2 002 671,44 DM ./. Vermittlungsgebühr Endfinanzierung 44 676,67 DM ./. Steuerberatungsgebühr 12 565,29 DM ./. Notar- und Gerichtskosten 44 479,10 DM ./. Finanzierungskosten Eigenkapital 0,00 DM ./. Finanzierungskosten Endfinanzierung 0,00 DM ./. Grunderwerbsteuer 109 469,35 DM ./. Unsicherheitszuschlag 56 000,00 DM neue Bemessungsgrundlage 1 735 481,03 DM
Bezüglich der Differenz zwischen der errechneten Bemessungsgrundlage von 1 735 481,03 DM und dem beurkundeten Grundstückskaufpreis von 1 563 848,49 DM nahm das FA an, dass es sich dabei um vom Kläger übernommene sonstige Leistungen i.S. des § 11 Abs. 1 Nr. 1 des Niedersächsischen Grunderwerbsteuergesetzes (GrEStG) --nunmehr § 9 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG 1983-- handelt. Die Abzüge vom Gesamtaufwand wurden vom FA teilweise der Höhe nach geschätzt.
Mit der Klage machte der Kläger geltend, die Voraussetzungen einer Änderung des ursprünglichen Grunderwerbsteuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 seien nicht erfüllt, weil dem FA nachträglich keine neuen Tatsachen bekannt geworden seien. Die Finanzverwaltung habe gewusst, dass es sich um ein Ersterwerbermodell gehandelt habe. Darüber hinaus ziehe das FA nur Rückschlüsse aus anderen Steuerfällen, die keine Tatsachen darstellten.
Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) sah in dem Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrag mit der B-GmbH keine nachträglich bekannt gewordene Tatsache, weil das FA die vom Kläger auf Grund des Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrages für den Grunderwerb zusätzlich aufzubringenden Leistungen im Schätzungswege ermittelt habe. Zu einer Tatsache i.S. von § 173 Abs. 1 AO 1977 werde der Vertrag erst, wenn feststehe, dass Zahlungen auf diesen geleistet worden seien, die die grunderwerbsteuerrechtliche Bemessungsgrundlage erhöht hätten. Das sei aber nicht der Fall, weil ein solcher Sachverhalt nur wahrscheinlich sei, jedoch nicht feststehe.
Mit der Revision rügt das FA fehlerhafte Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977. Der Abschluss des Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrages, wonach der Kläger zusätzliche Zahlungen für den Erwerb der Wohnungen zu entrichten gehabt habe, sei eine "neue" Tatsache. Dies gelte auch für die Schätzungsgrundlagen. Es müsse entgegen der Auffassung des FG nicht im Einzelnen feststehen, inwieweit sich durch die Zahlungen des Klägers die Bemessungsgrundlage zur Grunderwerbsteuer erhöhe.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger hat bislang keine Äußerung zum Revisionsvorbringen des FA abgegeben.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Das Urteil des FG beruht auf einer Verletzung von § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977. Soweit das FG die Zulässigkeit der Änderung des bestandskräftig gewordenen Bescheides vom 24. März 1986 nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 deshalb verneint hat, weil es an einer "neuen Tatsache" fehle, kann ihm nicht gefolgt werden.
Gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 können Steuerbescheide geändert werden, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Tatsachen im Sinne dieser Vorschrift sind alle Sachverhaltsbestandteile, die Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestands sein können, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 27. Oktober 1992 VIII R 41/89, BFHE 170, 1, BStBl II 1993, 569). Merkmal oder Teilstück des Grunderwerbsteuertatbestands und damit Tatsachen i.S. von § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 sind deshalb auch die Umstände, die ein sog. einheitliches Vertragswerk begründen, insbesondere ein vom Erwerber geschlossener (Bau-, Betreuungs- oder Geschäftsbesorgungs-)Vertrag, der in engem und objektivem Zusammenhang mit dem Grundstückskaufvertrag steht (vgl. BFH-Urteile vom 13. Mai 1998 II R 68/96, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1999, 31, und II R 67/96, BFH/NV 1999, 1).
Soweit das FG dem Umstand des Abschlusses des Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrages die Eigenschaft als Tatsache deshalb abgesprochen hat, weil das FA die hierin vom Kläger für den Grunderwerb zu entrichtende zusätzliche Leistung betragsmäßig geschätzt hat, hat es nicht ausreichend unterschieden zwischen dem Bekanntwerden neuer Schätzungsgrundlagen, die als Tatsachen anzusehen sind, einerseits und der darauf beruhenden Schätzung, in welchem Ausmaß diese zu einer Heraufsetzung der Grunderwerbsteuer führen, und die als solche keine Tatsache darstellt, andererseits. Das FG hat verkannt, dass die Annahme des FA, der Kläger habe auf Grund des Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrages sonstige Leistungen für den Erwerb der Eigentumswohnungen übernommen, keine Schätzung darstellt; vielmehr hat das FA lediglich aus der --nachträglich bekannt gewordenen-- Tatsache, dass trotz der zusätzlichen Zahlungen an die B-GmbH keine weiteren abgrenzbaren Leistungen von der B-GmbH erbracht wurden, geschlossen, dass der Kläger sonstige Leistungen übernommen hat. Eine nachträglich bekannt gewordene Tatsache, die zu einer veränderten Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse führt, rechtfertigt eine Berichtigung nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977; denn durch sie wird die Haupttatsache (hier: die Übernahme sonstiger Leistungen) nachträglich bekannt (BFH-Urteil vom 6. Dezember 1994 IX R 11/91, BFHE 176, 221, BStBl II 1995, 192).
2. Die Sache ist nicht spruchreif.
a) Der Abschluss des Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrages sowie die weiteren Umstände, die das FA zu der Annahme veranlasst haben, der Kläger habe neben dem Grundstückskaufpreis weitere sonstige Leistungen für den Erwerb der Eigentumswohnungen übernommen, sind dem FA i.S. von § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 nachträglich bekannt geworden. Nach den Feststellungen des FG hat der Kläger dem FA den Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrag vor Erlass des erstmaligen Bescheides nicht eingereicht. Der Kläger hat den Abschluss dieses Vertrages auch nicht anderweitig angezeigt.
Der Kläger kann nicht mit Erfolg einwenden, der Änderung stehe der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen, weil der Finanzverwaltung bekannt gewesen sei, dass es sich um ein Ersterwerbermodell gehandelt habe. Abgesehen davon, dass sich daraus nicht ergibt, dass dies konkret dem beklagten FA bekannt war, kann insoweit auch offen bleiben, ob dem FA die nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wären. Nach der Rechtsprechung des BFH kann sich nämlich auf Treu und Glauben nur berufen, wer seinerseits seinen Mitwirkungspflichten voll genügt hat (vgl. BFH-Urteile vom 23. Juni 1993 I R 31/92, BFH/NV 1994, 661; vom 13. Juli 1990 VI R 109/86, BFHE 161, 11, BStBl II 1990, 1047). Daran fehlt es im Streitfall. Der Kläger hat seine Mitwirkungspflicht verletzt, da er den Abschluss des Bauvertrags nicht angezeigt hat.
b) Bislang fehlen jedoch Feststellungen zur Rechtserheblichkeit der nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen. Das FG wird im zweiten Rechtsgang noch festzustellen und zu prüfen haben, ob die nachträglich bekannt gewordenen Umstände die Annahme des FA dem Grunde und der Höhe nach rechtfertigen, der Kläger habe neben dem Grundstückskaufpreis sonstige Leistungen in Höhe von 171 632,54 DM übernommen.
Ferner wird das FG noch festzustellen haben, ob das FA im Streitfall bei Kenntnis des vollen Sachverhalts schon bei Erlass des ursprünglichen Grunderwerbsteuerbescheids mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine andere Entscheidung getroffen hätte. Denn die Rechtserheblichkeit ist auch dann zu verneinen, wenn das FA auch bei rechtzeitiger Kenntnis zu keiner anderen Steuer gelangt wäre (Urteile des BFH vom 29. Juli 1998 II R 39/96, BFH/NV 1999, 154, und vom 14. Dezember 1994 XI R 80/92, BFHE 176, 308, BStBl II 1995, 293, 295, im Anschluss an den Beschluss des Großen Senats vom 23. November 1987 GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180). Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das FA die dem Sachverhalt entsprechende zutreffende Entscheidung getroffen hätte. Gab es damals zur maßgeblichen Rechtsfrage bereits eine Rechtsprechung des BFH oder die Finanzämter bindende Verwaltungsanweisungen, ist anzunehmen, dass sich das konkrete FA auch daran gehalten hätte. Bestand nach der damaligen Gesetzeslage oder etwa angesichts der damals bereits vorliegenden Entscheidungen des Senats vom 21. Dezember 1981 II R 124/79 (BFHE 135, 217, BStBl II 1982, 330), vom 23. Juni 1982 II R 155/80 (BFHE 136, 427, BStBl II 1982, 741) sowie vom 18. September 1985 II B 24-29/85 (BFHE 144, 280, BStBl II 1985, 627) auch nur die Möglichkeit einer anderen Entscheidung, ist die Rechtserheblichkeit der nachträglich bekannt gewordenen Tatsache zu bejahen (vgl. dazu BFH-Urteil vom 13. April 1972 IV R 27/70, BFHE 105, 445, BStBl II 1972, 648).
Ende der Entscheidung
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