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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 24.05.2000
Aktenzeichen: II R 25/99
Rechtsgebiete: AO 1977, BVerfGG, StGB


Vorschriften:

AO 1977 § 235
AO 1977 § 369 Abs. 2
AO 1977 § 370
BVerfGG § 31 Abs. 2 Satz 2
BVerfGG § 79 Abs. 1
StGB § 2 Abs. 3
BUNDESFINANZHOF

Die Festsetzung von Hinterziehungszinsen zur Vermögensteuer ist weiterhin zulässig. Die Anordnung im Beschluss des BVerfG vom 22. Juni 1995 2 BvL 37/91 (BVerfGE 93, 121, BStBl II 1995, 655), wonach das bisherige Vermögensteuerrecht auf alle bis zum 31. Dezember 1996 verwirklichten Tatbestände weiter anwendbar ist, ist nicht auf das Steuerfestsetzungsverfahren beschränkt. Bezogen auf diese Tatbestände können Zuwiderhandlungen gegen das bisherige Recht nach wie vor strafrechtlich verfolgt werden. § 2 Abs. 3 StGB trifft nicht zu.

AO 1977 § 235, § 369 Abs. 2, § 370 BVerfGG § 31 Abs. 2 Satz 2, § 79 Abs. 1 StGB § 2 Abs. 3

Urteil vom 24. Mai 2000 - II R 25/99 -

Vorinstanz: FG Bremen (EFG 1999, 417)


Gründe

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Alleinerbin ihres im März 1997 verstorbenen Ehemannes. 1996 gaben die Eheleute wegen im Ausland angelegten und bis dahin verschwiegenen Kapitalvermögens Vermögensteuererklärungen auf den 1. Januar 1986 bis 1. Januar 1994 ab, die zu bestandskräftigen Steuerfestsetzungen führten. Darüber hinaus setzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) mit Bescheid vom 2. Juni 1997 gegen die Klägerin nachstehende und um die Zinsen nach § 233a der Abgabenordnung (AO 1977) geminderte Hinterziehungszinsen wegen verkürzter Vermögensteuer fest:

Zinsen zur DM Vermögensteuer 1. Januar 1986 1 204,-- Vermögensteuer 1. Januar 1987 1 204,-- Vermögensteuer 1. Januar 1988 1 204,-- Vermögensteuer 1. Januar 1988 396,-- Vermögensteuer 1. Januar 1989 380,-- Vermögensteuer 1. Januar 1990 152,-- Vermögensteuer 1. Januar 1991 228,-- Vermögensteuer 1. Januar 1992 456,-- Vermögensteuer 1. Januar 1993 24,-- Vermögensteuer 1. Januar 1994 235,-- Gesamtbetrag 5 483,--

Gegen den Bescheid legte die Klägerin mit der Begründung Einspruch ein, da seit Anfang 1997 keine Vermögensteuer mehr festgesetzt werden dürfe, könnten auch keine Hinterziehungszinsen mehr festgesetzt werden. Außerdem sei eine Verletzung als verfassungswidrig erkannter Normen nicht strafwürdig. Der Einspruch wurde zurückgewiesen. Auch die Klage blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG), dessen Urteil in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 417 veröffentlicht ist, führte aus, wegen der angeordneten Weitergeltung des Vermögensteuergesetzes (VStG) bis Ende 1996 sei auch dem Grundgedanken des § 235 AO 1977 weiter Rechnung zu tragen, wonach beim Nutznießer einer Steuerhinterziehung der Zinsvorteil abzuschöpfen sei. Darin liege keine Strafmaßnahme, so dass auf sich beruhen könne, ob die Vermögensteuerhinterziehung trotz der erkannten Verfassungswidrigkeit des § 10 VStG strafrechtlich noch verfolgt werden dürfe.

Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung der §§ 235, 369 Abs. 2 und 370 AO 1977, des § 2 Abs. 3 des Strafgesetzbuchs (StGB), der §§ 31 und 79 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) sowie der Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 und 103 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG). Sie trägt nunmehr vor, die Anordnung der befristeten Weitergeltung des Vermögensteuerrechts durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erlaube zwar die weitere Durchführung von Vermögensteuerveranlagungen, nicht aber die weitere Festsetzung von Hinterziehungszinsen zur Vermögensteuer. Die Festsetzung von Hinterziehungszinsen sei kein Teil der Steuerveranlagung, sondern erfolge in einem selbständigen Festsetzungsverfahren, wie sich aus § 239 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ergebe. Sie sei nicht erforderlich, um dem Grund für die Weitergeltungsanordnung zu genügen, eine stetige Vermögensteuerveranlagung zu gewährleisten. Auch aus Gründen einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung bedürfe es keiner Festsetzung der Hinterziehungszinsen, da diese im Haushalt nicht veranschlagt würden. Das Abschöpfen des Zinsvorteils stelle für sich allein keine ausreichende Rechtfertigung dar, trotz der Verfassungswidrigkeit einer zentralen Vorschrift des Vermögensteuergesetzes weiter Hinterziehungszinsen auf die Vermögensteuer festzusetzen. Ohne eine Steuerhinterziehung gäbe es keine Hinterziehungszinsen. Mit der Beschränkung der Weitergeltungsanordnung des BVerfG auf das Steuerfestsetzungsverfahren sei aber auch das Steuerstrafverfahren von der Weitergeltung ausgenommen. Für das Strafverfahren bleibe es bei der Anwendungssperre, die durch die Unvereinbarkeit einer Norm mit der Verfassung ausgelöst werde. Die Vorschriften des VStG seien daher nicht mehr geeignet, die Blankettnorm des § 370 AO 1977 auszufüllen. Eine gleichwohl erfolgende Bestrafung wegen Vermögensteuerhinterziehung wäre ein Verstoß gegen die angeführten Bestimmungen des Grundgesetzes. Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 2 GG schlössen es aus, in der Verkürzung einer verfassungswidrigen Steuer ein nach § 370 AO 1977 tatbestandsmäßiges und schuldhaftes Verhalten zu sehen. Die Annahme eines bloßen Straf- und Verfolgungshindernisses werde der Verfassungsrechtslage nicht gerecht, da dabei der Vorwurf eines schuldhaft rechtswidrigen Verhaltens bestehen bleibe. Sie wäre auch mit § 79 Abs. 1 BVerfGG nicht vereinbar.

Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung den Zinsbescheid vom 2. Juni 1997 sowie die Einspruchsentscheidung vom 23. Juli 1998 dahin zu ändern, dass die Festsetzung der Hinterziehungszinsen auf die Vermögensteuer 1986 bis 1994 entfällt.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Da das BVerfG die Erklärung über die Unvereinbarkeit des § 10 Nr. 1 VStG mit Art. 3 Abs. 1 GG mit der Anordnung verbunden hat, dass das bisherige Vermögensteuerrecht auf alle bis Ende 1996 verwirklichten Tatbestände weiter anwendbar bleibt, ist bezüglich dieser Tatbestände nach wie vor eine strafbare Steuerhinterziehung möglich und können infolgedessen auch noch Hinterziehungszinsen festgesetzt werden.

1. Das BVerfG hat mit Beschluss vom 22. Juni 1995 2 BvL 37/91 (BVerfGE 93, 121, BStBl II 1995, 655) die Tarifvorschrift des § 10 Nr. 1 VStG in allen seit 1983 gültig gewesenen Fassungen für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt. Mit dem Ausspruch der Unvereinbarkeit vermeidet es das BVerfG, eine Norm für nichtig zu erklären. Dazu sieht es sich zur Wahrung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers dann veranlasst, wenn sich die Verfassungswidrigkeit einer Norm wie im Fall des § 10 Nr. 1 VStG aus einem Verstoß gegen den Gleichheitssatz ergibt. Denn in derartigen Fällen hat der Gesetzgeber regelmäßig mehrere Möglichkeiten, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen (vgl. BVerfG-Beschluss vom 11. Mai 1970 1 BvL 17/67, BVerfGE 28, 227, 242).

Werden Normen mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärt, hat dies grundsätzlich für Gerichte und Verwaltungsbehörden zur Folge, dass die Normen nicht mehr angewendet werden dürfen (Urteil des BVerfG vom 14. Juli 1986 2 BvE 2/84, 2 BvR 442/84, BVerfGE 73, 40, 101). Für den Gesetzgeber ergibt sich die Verpflichtung, eine der Verfassung entsprechende Rechtslage für den gesamten von der Unvereinbarkeitserklärung betroffenen Zeitraum mit Wirkung zumindest für alle noch nicht rechtskräftigen Entscheidungen herzustellen, die auf der für verfassungswidrig erklärten Regelung beruhen (so BVerfG-Beschluss vom 25. September 1992 2 BvL 5, 8, 14/91, BVerfGE 87, 153, 178). Diese Rechtsfolgen einer Unvereinbarkeitserklärung können aber zu einem Zustand führen, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als der bisherige (BVerfG-Beschluss vom 11. Januar 1995 1 BvR 892/88, BVerfGE 92, 53, 73). Das hat das BVerfG veranlasst, die Unvereinbarkeitserklärung vielfach mit der Anordnung einer befristeten weiteren Anwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm zu verbinden (vgl. Entscheidung des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 18. Juni 1997 II B 33/97, BFHE 182, 379, BStBl II 1997, 515), wobei die Frist danach bestimmt wird, bis wann vom Gesetzgeber die Schaffung eines verfassungsgemäßen Zustandes erwartet werden kann. Damit wirkt sich die Unvereinbarkeitserklärung nicht mehr ex tunc, sondern nur noch für die Zukunft aus (vgl. Seer in Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1996, 285, 288). Die ansonsten mit einer Unvereinbarkeitserklärung verbundene Anwendungssperre entfällt.

So ist das BVerfG auch in dem Beschluss zur Unvereinbarkeit des § 10 Nr. 1 VStG mit Art. 3 Abs. 1 GG verfahren, indem es die weitere Anwendbarkeit des bisherigen Vermögensteuerrechts auf alle bis zum 31. Dezember 1996 verwirklichten Tatbestände angeordnet hat. Dieser Anordnung kommt nach § 31 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 13 Nr. 8a BVerfGG Gesetzeskraft zu. Sie besagt, dass die Vermögensbesteuerung für Zeiträume vor 1997 zulässig geblieben ist (vgl. Beschluss vom 30. März 1998 1 BvR 1831/97, BStBl II 1998, 422).

2. Die solchermaßen mit Gesetzeskraft angeordnete weitere Anwendbarkeit des bisherigen Vermögensteuerrechts auf alle bis Ende 1996 verwirklichten Sachverhalte schafft kein Recht minderer Qualität, das von den Normadressaten ohne das Risiko, mit einer der dort vorgesehenen Sanktionen überzogen zu werden, ignoriert werden kann (so auch Schmidt in Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht --wistra-- 1999, 121, 125). Vielmehr bleiben die Vorschriften des Vermögensteuergesetzes bezüglich aller bis Ende 1996 verwirklichten Sachverhalte geeignet, die Blankettvorschrift des § 370 AO 1977 auszufüllen und zusammen mit dieser einen Straftatbestand der Steuerhinterziehung zu bilden, gegen den nach wie vor verstoßen werden kann.

a) Das BVerfG hat die Anordnung der Weitergeltung des Vermögensteuerrechts nicht dahin eingeschränkt, dass nur noch Steuerfestsetzungen erfolgen dürfen, aber eine Strafbarkeit wegen Vermögensteuerhinterziehung ausgeschlossen ist und damit auch keine Hinterziehungszinsen mehr festgesetzt werden können. Die Entscheidungsformel des BVerfG-Beschlusses in BVerfGE 93, 121, BStBl II 1995, 655 lautet vielmehr umfassend dahin, dass befristet bis zum 31. Dezember 1996 "das bisherige Recht weiterhin anwendbar" ist. Eine derartige Beschränkung wäre im Übrigen bedenklich. Zunächst stellen die Berechtigung, weiterhin Vermögensteuern festzusetzen, einerseits und die Strafbarkeit einer Verkürzung dieser Steuern andererseits, keine durchgängig voneinander getrennten Anwendungsbereiche des Vermögensteuergesetzes dar. Über § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 hängt es nämlich vom Vorliegen und der Art einer Steuerverkürzung ab, ob und wie weit zurück einzelne Steuerfestsetzungen noch möglich sind. Schwerer wiegt jedoch, dass ohne eine Strafbewehrung der Normen des Vermögensteuergesetzes die Steuerbelastung im Wesentlichen auf der Erklärungsbereitschaft der Steuerpflichtigen beruhte, obwohl das BVerfG aus dem Verfassungsgebot der Belastungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) für Steuern, deren Festsetzung auf Steuererklärungen fußt, die Notwendigkeit abgeleitet hat, den gleichmäßigen Verwaltungsvollzug durch gesetzgeberische Maßnahmen abzustützen (vgl. Urteil vom 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654, 666). Von daher geht es nicht an, aus der in Abschn. C. III. 3. des Beschlusses des BVerfG in BVerfGE 93, 121, BStBl II 1995, 655 enthaltenen Begründung der Weitergeltungsanordnung, wonach u.a. auf Erfordernisse "eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend abgeschlossenen Veranlagung" abgestellt wird, eine Beschränkung der Anordnung auf die Steuerfestsetzung abzuleiten. Es fehlte dann --wie sich bei im Ausland angelegtem Kapitalvermögen besonders deutlich zeigt-- an jedweder Absicherung des Gesetzesvollzugs.

b) Die Ansicht der Klägerin, die Weitergeltungsanordnung führe zu durchsetzbarem Unrecht, das im Falle einer Zuwiderhandlung bereits wegen seines Unrechtscharakters nicht Grundlage eines Schuldvorwurfs sein könne, wird darüber hinaus der Bedeutung dieser Anordnung nicht gerecht. Formell ordnungsgemäß zustande gekommene Gesetze sind nach der Verfassung so lange und so weit für Bürger, Behörden und Gerichte uneingeschränkt verbindlich, als sie nicht vom BVerfG aufgrund seines Kassationsmonopols (Art. 100 Abs. 1 GG) wegen eines verfasssungsrechtlichen Makels aufgehoben worden sind. Ordnet das BVerfG die befristete weitere Anwendbarkeit eines von ihm für materiell verfassungswidrig erkannten Gesetzes an, so hat es dieses insoweit gerade nicht aufgehoben. Daher ist das Gesetz von den Normadressaten weiterhin zu beachten. Das mit Zuwiderhandlungen gegen dieses Gesetz verbundene objektive Unwerturteil (vgl. dazu Tröndle in Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch, Kommentar, 49. Aufl. 1999, Vor § 13 Anm. 24) bleibt bestehen. Dafür spricht auch die Begründung der Weitergeltungsanordnung durch das BVerfG. Indem es die befristete Anordnung der weiteren Anwendbarkeit der Regelungen zur Vermögensbesteuerung nicht nur mit dem Erfordernis verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung, sondern gleichrangig mit der Notwendigkeit eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung begründet und dies durch den Kammerbeschluss in BStBl II 1998, 422 dahin erläutert hat, dass auf diese Weise die Gleichheit in der Zeit durch eine Besteuerung aller Vermögensteuerpflichtigen zu den gleichen vermögensteuerlichen Stichtagen gewährleistet werden soll, hat es seiner Entscheidung auch aus Gründen materieller Gerechtigkeit nur Wirkung für die Zukunft beigemessen. Für die Dauer der angeordneten Weitergeltung wird vom Bürger Gesetzesgehorsam eingefordert, weil eine sofortige Anwendungssperre nicht nur zur Einebnung der Ungleichbehandlung durch unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe führte, sondern andernorts eine neue Ungleichheit bewirkte, der nach Ansicht des BVerfG das größere Gewicht zukäme.

c) § 79 Abs. 1 BVerfGG, wonach gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärten Norm beruht, die Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig ist, steht dieser Beurteilung nicht entgegen (a.A. Urteil des Landgerichts München II vom 11. November 1999 5 Qs 12/99, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 1999, 2115). Diese einfachgesetzliche Vorschrift, der kein höherer Rang als der ebenfalls mit Gesetzeskraft ausgestatteten Weitergeltungsanordnung zukommt, trägt der Verbindung der Unvereinbarkeitserklärung mit der Anordnung weiterer Anwendbarkeit der beanstandeten Norm noch nicht Rechnung. Wie die Gleichstellung der Unvereinbarkeitserklärung mit der Erklärung der Nichtigkeit einer Norm zeigt, ist die Regelung in § 79 Abs. 1 BVerfGG noch durch die Vorstellung bestimmt, die Unvereinbarkeit einer Norm mit der Verfassung führe ebenso wie deren Nichtigkeit stets dazu, dass sie nicht mehr angewendet werden dürfe. Diese Vorstellung ist aber durch die Entscheidungspraxis des BVerfG überholt.

3. Der Festsetzung der Hinterziehungszinsen auf die Vermögensteuer steht auch § 369 Abs. 2 AO 1977 i.V.m. § 2 Abs. 3 StGB nicht entgegen. Gemäß dieser Vorschrift ist das mildeste Gesetz anzuwenden, wenn das bei Beendigung der Tat geltende Gesetz vor der Entscheidung geändert worden ist. Als milderer Rechtszustand kommt auch der ersatzlose Wegfall eines Gesetzes in Betracht (Tröndle in Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. I, 10. Aufl. 1985, § 2 Anm. 30), dem wiederum der Wegfall der Anwendbarkeit eines formal fortbestehenden Gesetzes gleich kommt (so auch Ulsamer/Müller in wistra 1998, 1, 4). Als Rechtsänderung i.S. des § 2 Abs. 3 StGB gilt auch die Änderung der Ausfüllungsnormen von Blankettgesetzen wie dem § 370 AO 1977 (so Urteil des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 8. Januar 1965 2 StR 49/64, BGHSt 20, 177). Gleichwohl greift § 2 Abs. 3 StGB im Streitfall nicht ein.

a) Die Frage nach der Anwendbarkeit eines milderen Gesetzes i.S. des § 2 Abs. 3 StGB erledigt sich im Streitfall nicht schon dadurch, dass die Festsetzung von Hinterziehungszinsen gemäß § 235 Abs. 1 AO 1977 keine Bestrafung des Täters voraussetzt, sondern lediglich erfordert, dass der objektive und der subjektive Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt sind und kein Schuldausschließungsgrund vorliegt (vgl. BFH-Urteil vom 2. April 1998 V R 60/97, BFHE 186, 1, BStBl II 1998, 530, m.w.N.). § 2 Abs. 3 StGB greift vielmehr deshalb nicht ein, weil die Tatsache, dass das Vermögensteuergesetz ab dem 1. Januar 1997 nicht mehr anwendbar ist, die Gesetzeslage bezüglich früherer Zeiträume/Stichtage nicht verändert hat (vgl. dazu BGH-Urteil in NJW 1987, 1273, 1276; Meine in DStR 1999, 2101; Schmidt in wistra 1999, 121). Dies ergibt sich aus der Anordnung des BVerfG über die (befristete) weitere Anwendbarkeit des Vermögensteuergesetzes auf alle vor 1997 verwirklichten Tatbestände. Diese Fortgeltungsanordnung hindert ungeachtet der Frage nach dem Charakter des Vermögensteuergesetzes als Zeitgesetz i.S. des § 2 Abs. 4 StGB die Anwendung des Abs. 3 der Vorschrift (vgl. Eser in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 25. Aufl. 1997, § 2 Anm. 22, 23; Tröndle in Tröndle/ Fischer, a.a.O., § 2 Anm. 13 b c). Mit der Anordnung bewirkt das BVerfG für den früheren Rechtszustand dasselbe wie der Steuergesetzgeber, wenn er Gesetzesänderungen mit einer Überleitungsregelung verbindet, wonach der neue Rechtszustand erst auf Zeiträume oder Stichtage ab einem bestimmten Datum anzuwenden ist. Daraus folgt dann nämlich, dass für frühere Zeiträume oder Stichtage das bisherige Recht fortgilt.

Dementsprechend blieb der zu den einzelnen Zeiträumen/Stichtagen vor 1997 geltende vermögensteuerliche Rechtszustand jeweils von den späteren Rechtsänderungen einschließlich des Auslaufens der Vermögensbesteuerung unberührt. Er ist innerhalb der Festsetzungsfristen auch noch nach 1996 solange zu beachten, wie der Steuerpflichtige seinen Erklärungs- und ggf. Berichtigungspflichten gemäß den §§ 149, 153 AO 1977 sowie das FA seiner Verpflichtung zur Steuerfestsetzung gemäß § 85 AO 1977 nicht nachgekommen und der Steuerfall nicht bestandskräftig abgeschlossen ist. Anders als im § 2 Abs. 3 StGB vorausgesetzt kann dabei die nach dem strengeren Gesetz zu beurteilende Tat auch noch zur Zeit der Geltung des milderen Gesetzes begangen werden. Das kommt insbesondere bezüglich des Jahres 1996 als dem letzten Zeitraum, für den eine Festsetzung von Vermögensteuer noch zulässig ist, in Betracht.

b) Mit dieser Rechtsauffassung befindet sich der Senat in Übereinstimmung mit dem BGH (in NJW 1987, 1273, 1276), der bereits auf die über das Änderungsdatum hinaus fortbestehende Möglichkeit der Tatbegehung hingewiesen und dazu ausgeführt hat, es gebe unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhanges des § 2 Abs. 1 bis 4 StGB keinen einleuchtenden Grund, den von der Gesetzesänderung unberührt gebliebenen, nach wie vor durchsetzbaren Steueransprüchen, die in zurückliegenden Jahren entstanden sind, den strafrechtlichen Schutz vor ggf. erst nach dem Änderungsdatum erfolgenden Angriffen zu entziehen. Soweit gegen die genannte Entscheidung des BGH eingewandt worden ist, sie sei mit den Urteilen des Reichsgerichts vom 8. März 1900 Rep 571/00 (RGSt 33, 187) sowie vom 7. Dezember 1900 Rep 3975/00 (RGSt 34, 37) nicht vereinbar (so Tiedemann in NJW 1987, 1257), wird übersehen, dass diese Urteile geändertes Recht betrafen, für das keine Fortgeltung angeordnet war und gegen das Angriffe nach dem Datum der Rechtsänderung nicht mehr möglich waren. Entgegen einer in der Literatur vertretenen Ansicht (Ulsamer/Müller in wistra 1998, 1, 5) macht es auch keinen entscheidungserheblichen Unterschied, ob das Steuergesetz nur bezüglich einzelner Besteuerungsmerkmale geändert worden oder gänzlich weggefallen ist. Die Unterscheidung ändert nichts an der Tatsache, dass auch im Streitfall das alte Recht über das Änderungsdatum hinaus für die zurückliegenden Zeiträume/Stichtage aus Gründen materieller Gerechtigkeit fortgilt.

4. Die Ansicht des FG, dass im Streitfall die der Verzinsung nach § 235 AO 1977 unterworfenen Vermögensteuern hinterzogen worden sind und Schuldausschließungsgründe nicht vorliegen, ist nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat dagegen auch keine Einwendungen vorgebracht.

Ende der Entscheidung

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