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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 29.07.1998
Aktenzeichen: II R 39/96
Rechtsgebiete: GrEStG 1983, GrEStG, AO 1977, Reichsabgabenordnung


Vorschriften:

GrEStG § 9 Abs. 1 Nr. 1 1983
GrEStG § 11 Abs. 1 Nr. 1
AO 1977 § 126 Abs. 3 Nr. 2
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1 und 2
Reichsabgabenordnung § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe

I. Am 22. Dezember 1980 beauftragten die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) die X-GmbH, für sie eine zur Vermietung bestimmte Eigentumswohnung bei Gesamtkosten von 261 155 DM einschließlich Nebenkosten wie Steuern und Gebühren zu erwerben. Die Kosten sollten aufgebracht werden durch Fremdkapital in Höhe von 208 924 DM, einer gesonderten Vorfinanzierung der erwarteten Vorsteuererstattung in Höhe von 25 980 DM und durch Eigenkapital von 26 251 DM. Zugleich schlossen sie mit der X-GmbH einen Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrag ab, wonach die X-GmbH u.a. den Abschluß aller Verträge zum Erwerb des Objekts sowie die kaufmännische Geschäftsbesorgung einschließlich der Beschaffung des Fremdkapitals übernahm. Ein beträchtlicher Teil des Gesamtaufwands sollte dabei auf angeblich sofort abzugsfähige Werbungskosten entfallen.

Mit notariell beurkundetem Vertrag vom 23. Dezember 1981 erwarben die Kläger --dabei vertreten durch die X-GmbH-- das Wohnungseigentum an der vorgesehenen Wohnung in jeweils hälftigen Miteigentum zum Preis von insgesamt 183 393,75 DM einschließlich Mehrwertsteuer.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) erhielt nur eine Anzeige des Grundstückskaufvertrags. Mit getrennten Bescheiden vom 4. Juni 1982 setzte das FA daraufhin nach einer Bemessungsgrundlage von 91 696,87 DM gegen jeden der beiden Kläger Grunderwerbsteuer in Höhe von 6 418,75 DM fest.

Als das FA aufgrund steuerstrafrechtlicher Ermittlungen bei der X-GmbH von dem Betreuungsvertrag mit den Klägern und von dem mit dem Erwerb der Eigentumswohnung verbundenen Gesamtaufwand erfuhr, erließ es am 13. Dezember 1985 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderte Grunderwerbsteuerbescheide, durch die es die Steuer gegen die Kläger nach einer Bemessungsgrundlage von 130 577,50 DM auf jeweils 9 140,40 DM heraufsetzte. Auf den dagegen eingelegten Einspruch setzte es die Steuer durch getrennte Einspruchsentscheidungen vom 10. Mai 1994 auf jeweils 7 443,24 DM herab. Dabei hatte es --weitgehend dem Bericht der Steuerfahndung folgend-- die Bemessungsgrundlage wie folgt berechnet: @a@

Hälftiger Gesamtaufwand 130 575,49 DM ./. Vermittlungsgebühr Endfinanzierung 2 623,14 DM ./. Steuerberatungsgebühr 737,75 DM ./. Notar- und Gerichtskosten 2 611,55 DM ./. Finanzierungskosten Eigenkapital 2 743,47 DM ./. Finanzierungskosten Endfinanzierung 5 610,00 DM ./. Grunderwerbsteuer 6 418,75 DM ./. Unsicherheitszuschlag 3 500,00 DM neue Bemessungsgrundlage 106 332,83 DM

Bezüglich der Differenz zwischen der nunmehr errechneten Bemessungsgrundlage und dem hälftigen beurkundeten Grundstückskaufpreis, nämlich bezüglich eines Betrags von jeweils 14 635,96 DM, nahm das FA mit der Steuerfahndung an, daß es sich dabei um von den Käufern übernommene sonstige Leistungen i.S. des § 11 Abs. 1 Nr. 1 des Niedersächsischen Grunderwerbsteuergesetzes (GrEStG) --nunmehr § 9 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG 1983-- handelt.

Mit der daraufhin erhobenen Klage bestritten die Kläger dies nicht und verzichteten ausdrücklich auf eine weitere Aufschlüsselung des Differenzbetrags. Sie machten lediglich geltend, die Voraussetzungen einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 seien nicht erfüllt, weil das FA zum Zeitpunkt des Erlasses des ursprünglichen Bescheids auch bei Kenntnis des mit der X-GmbH abgeschlossenen Vertrags die Grunderwerbsteuer nur nach dem beurkundeten Grundstückskaufpreis festgesetzt hätte.

Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) sah zwar in dem Betreuungs- und Geschäftsbesorgungvertrag mit der X-GmbH eine nachträglich bekanntgewordene Tatsache, die das FA wegen der nicht erfolgten Anzeige dieses Vertrags auch grundsätzlich zu der vorgenommenen Änderung berechtigt habe, verneinte jedoch letztlich unter Berufung auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 15. Januar 1991 IX R 238/87 (BFHE 164, 492, BStBl II 1991, 741) die Rechtserheblichkeit dieser Tatsache. Die Unkenntnis dieser Tatsache sei nicht ursächlich für die Festsetzung der Grunderwerbsteuer in der ursprünglichen Höhe gewesen. Rechtserheblich in diesem Sinne wäre sie nur dann gewesen, wenn das FA damals bei rechtzeitiger Kenntnis des wahren Sachverhalts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Sei zu der streitigen Rechtsfrage für den Zeitpunkt der erstmaligen Steuerfestsetzung keine Rechtsprechung des BFH oder Verwaltungsübung feststellbar, sei zwar grundsätzlich anzunehmen, daß das FA die richtige Entscheidung getroffen hätte; dies müsse aber mit dem erforderlichen Grad der Wahrscheinlichkeit feststehen. Solange Zweifel verblieben, wie das FA mutmaßlich entschieden hätte, sei § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nicht anwendbar. Die bloße Möglichkeit, daß das FA richtig entschieden hätte, reiche jedenfalls nicht. Im Streitfall bestünden derartige Zweifel, weil nach der im Jahre 1982 vorliegenden Rechtsprechung des BFH zu den sonstigen Leistungen i.S. des § 11 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG (vgl. etwa Urteil vom 23. Februar 1977 II R 159/72, BFHE 121, 543, BStBl II 1977, 486) anzunehmen gewesen sei, daß ein Einbeziehen der an Dritte zu entrichtenden Entgelte in die grunderwerbsteuerliche Bemessungsgrundlage nur in besonderen Fällen in Betracht gekommen sei und eine Prüfung der Angemessenheit vorausgesetzt habe. Erst viel später habe der BFH ausgesprochen, daß es bei einheitlichen Vertragswerken bzw. dem Erwerb eines bebauten Grundstücks als einheitlicher Leistungsgegenstand für die Einbeziehung von Leistungen, die der Erwerber dem Dritten zur Erfüllung seiner gegenüber diesem eingegangenen Verpflichtungen aus gegenseitigen Verträgen erbracht habe, keiner derartigen Ausgewogenheitsprüfung bedürfe (so BFH-Urteile vom 13. Dezember 1989 II R 115/86, BFHE 159, 362, BStBl II 1990, 440, sowie vom 12. Februar 1992 II R 20/91, BFHE 167, 193, BStBl II 1992, 422). Bezüglich der nunmehr in die Bemessungsgrundlage einbezogenen Gebühren für die Vermietungsvermittlung habe der BFH noch mit Beschluß vom 18. September 1985 II B 24-29/85 (BFHE 144, 280, BStBl II 1985, 627) ernstliche Zweifel geäußert, ob die Gebühren zur Bemessungsgrundlage gehören. Auch der Erlaß des Niedersächsischen Finanzministers vom 23. November 1982 S 4509-22-32-3 (Grundsteuer-Kartei Oberfinanzdirektion Hannover, GrESWG, Karte 24 a), gemäß dem für Erwerbe im Bauherrenmodell, die bis zum 31. Dezember 1982 verwirklicht worden seien, keine für die Steuerpflichtigen nachteiligen Folgen aus dem BFH-Urteil vom 23. Juni 1982 II R 155/80 (BFHE 136, 427, BStBl II 1982, 741) zu ziehen seien, spreche dagegen, daß das FA mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei rechtzeitiger Kenntnis des vollständigen Sachverhalts anders entschieden hätte.

Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA fehlerhafte Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977. Die erforderliche Rechtserheblichkeit der neuen Tatsachen fehle nach der Entscheidung des BFH vom 14. Dezember 1994 XI R 80/92 (BFHE 176, 308, BStBl II 1995, 293) dann, wenn das FA bei rechtzeitiger Kenntnis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu keiner anderen Entscheidung gelangt wäre. Infolgedessen genüge bereits die Möglichkeit einer anderen Entscheidung, um eine Änderung vornehmen zu können. Dem stehe das Urteil in BFHE 161, 492, BStBl II 1991, 741 nicht entgegen. Dieses Urteil befasse sich mit dem Schutz des Vertrauens in frühere Verwaltungsanweisungen und Entscheidungen des BFH. Es nehme keine Stellung zu solchen Sachverhalten, die noch nicht Gegenstand einer Verwaltungsanweisung oder BFH-Entscheidung gewesen seien. Der vom FG zitierte Erlaß des Niedersächsischen Finanzministers sei nicht einschlägig, weil er den Abschluß getrennter Verträge über den Grundstückskauf und die Errichtung des Bauwerks mit unterschiedlichen Vertragspartnern betreffe. Im Streitfall aber hätten die Kläger von der Grundstücksverkäuferin eine fertige Eigentumswohnung gekauft.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

II. Die Revision ist begründet, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Rüge fehlerhafter Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ist berechtigt. Bislang ist jedoch nicht festgestellt, worauf die Zahlungen, die Anlaß der Änderungsbescheide waren, geleistet worden sind.

1. Die Änderung oder Aufhebung eines Steuerbescheids wegen nachträglich bekanntgewordener Tatsachen gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO 1977 ist nur zulässig, wenn die Tatsachen rechtserheblich sind. Die Unkenntnis dieser Tatsachen muß für den Erstbescheid ursächlich gewesen sein. Die Rechtserheblichkeit ist zu verneinen, wenn das FA auch bei rechtzeitiger Kenntnis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu keiner anderen Steuer gelangt wäre (so BFH-Urteil in BFHE 176, 308, BStBl II 1995, 293, 295 im Anschluß an den Beschluß des Großen Senats des BFH vom 23. November 1987 GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180). Insoweit gilt die bereits zu § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 der Reichsabgabenordnung entwickelte Rechtsprechung fort (vgl. Urteile vom 13. April 1972 IV R 27/70, BFHE 105, 455, BStBl II 1972, 648, sowie vom 6. November 1973 VIII R 12/71, BFHE 110, 552, BStBl II 1974, 67). Ist aber die Rechtserheblichkeit nur zu verneinen, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine andere Entscheidung getroffen worden wäre, bedeutet dies, daß die Änderung oder Aufhebung eines Steuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO 1977 nicht schon dann ausgeschlossen ist, wenn das FA auch in Kenntnis des vollen Sachverhalts nur möglicherweise nicht anders veranlagt hätte (so BFHE 105, 455, BStBl II 1972, 648). Vielmehr kommt umgekehrt eine Änderung oder Aufhebung in Betracht, sobald das FA auch nur möglicherweise die Steuer anders festgesetzt hätte.

Bei Prüfung der Frage, wie das FA in voller Kenntnis des Sachverhalts schon zum Zeitpunkt der ursprünglichen Steuerfestsetzung entschieden hätte, ist grundsätzlich davon auszugehen, daß es die dem Sachverhalt entsprechende zutreffende Entscheidung getroffen hätte (BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180, 182). Gab es damals zur maßgeblichen Rechtsfrage bereits eine Rechtsprechung des BFH oder eine die FÄ bindende Verwaltungsanweisung, ist anzunehmen, daß sich die Behörde auch daran gehalten hätte. Mangelte es damals an beidem, wird regelmäßig die Möglichkeit einer abweichenden Entscheidung vorliegen (vgl. Frotscher in Schwarz, Abgabenordnung, Kommentar, § 173 Anm. 33).

Da das FG von einem anderen Verständnis der Rechtserheblichkeit ausgegangen ist, war die Vorentscheidung aufzuheben.

2. Die Sache ist nicht spruchreif. Bislang ist nicht festgestellt, welche nachträglich bekanntgewordenen Tatsachen auf ihre Rechtserheblichkeit hin zu untersuchen sind. Die Feststellung, daß dem FA der Abschluß des Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrags zunächst nicht bekannt war, ist nicht ausreichend. Daher bedarf noch der Aufklärung, wofür die streitigen Beträge von zweimal 14 636 DM gemäß dem Betreuungs- und Geschäftsbesorgungsvertrag gezahlt worden sein sollen. Aus dem in den Akten enthaltenen Bericht der Steuerfahndung ergibt sich lediglich, welche einzelnen Aufwandsposten nicht zur grunderwerbsteuerlichen Bemessungsgrundlage gerechnet worden sind, nicht aber wofür die verbliebenen und über den beurkundeten Grundstückskaufpreis hinausgehenden Aufwendungen geleistet worden sind. Erst die Kenntnis des Anlasses dieser Zahlungen ermöglicht eine genaue Bezeichnung der maßgeblichen Rechtsfrage sowie eine Beurteilung, ob dazu seinerzeit eine Rechtsprechung des BFH oder ein Verwaltungserlaß vorlag und ob eine andere Entscheidung des FA möglich gewesen wäre.



Ende der Entscheidung

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