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Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 29.10.2008
Aktenzeichen: III B 176/07
Rechtsgebiete: FGO, GG
Vorschriften:
FGO § 78 Abs. 1 | |
FGO § 78 Abs. 2 | |
GG Art. 3 Abs. 3 Satz 2 |
Gründe:
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) wendet sich gegen einen Bescheid der Beklagten und Beschwerdegegnerin (Familienkasse), mit der diese die Festsetzung von Kindergeld ab Januar 2005 aufgehoben hat. Sie wird im finanzgerichtlichen Verfahren von der Kanzlei "Rechtsanwälte K" vertreten, die aus den Rechtsanwälten AK, BK sowie C besteht. Einem Antrag, die Kindergeldakte in die Kanzleiräume zu übersenden, kam die Vorsitzende Richterin nicht nach. Stattdessen schlug sie vor, die Kindergeldakte bei einem Finanzamt, Hauptzollamt, Amtsgericht oder Finanzgericht (FG) in der Nähe des Kanzleisitzes einzusehen. Auch die Familienkasse bot die Akteneinsicht an. Rechtsanwalt BK bestand allerdings auf einer Aktenübersendung. Er wies darauf hin, dass er auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen sei und deshalb in seiner Mobilität stark eingeschränkt sei. Seine Kollegin AK sei gerade Mutter geworden.
Mit Beschluss vom 8. Oktober 2007 lehnte das FG den Antrag auf Aktenübersendung ab. Zur Begründung führte es aus, es sei kein Fall gegeben, in dem ausnahmsweise eine Akteneinsicht in den Kanzleiräumen gerechtfertigt sei. Auch liege keine Benachteiligung von Rechtsanwalt BK vor, da neben ihm noch zwei weitere Rechtsanwälte für die Sozietät tätig seien.
Zur Begründung der hiergegen gerichteten Beschwerde trägt Rechtsanwalt BK für die Klägerin vor, die angegriffene Entscheidung berücksichtige nicht seine besondere Situation. Er allein sei in die Sach- und Rechtslage eingearbeitet. Der ebenfalls der Kanzlei angehörende Rechtsanwalt C bearbeite ausschließlich strafrechtliche Mandate. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seien Entscheidungen, die das Benachteiligungsverbot behinderter Menschen berührten (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes), besonders zu begründen. Hieran fehle es im Streitfall.
II. 1. Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist nicht durch § 128 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ausgeschlossen. Die Entscheidung über die Art und Weise von Akteneinsicht ist nicht lediglich eine prozessleitende Verfügung im Sinne der Vorschrift (ständige Rechtsprechung, z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 15. Juli 2008 X B 5/08, BFH/NV 2008, 1695).
2. Die Beschwerde ist auch begründet.
a) Die Beteiligten können nach § 78 Abs. 1 und Abs. 2 FGO die Gerichtsakte und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstellen auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke und Abschriften erteilen lassen. Danach haben die Beteiligten einen Anspruch darauf, die Akten in der Geschäftsstelle des mit der Streitsache befassten Senats einzusehen. Aus dem Begriff "einsehen" und der Regelung über die Erteilung von Abschriften usw. durch die Geschäftsstelle des Gerichts ergibt sich, dass die Einsichtnahme der Akten bei Gericht die Regel sein soll und eine vorübergehende Überlassung der Akten an den Prozessbevollmächtigten nur ausnahmsweise in Betracht kommt (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 1. August 2002 VII B 65/02, BFH/NV 2003, 59).
b) Die Entscheidung darüber, ob die Akten einem Prozessbevollmächtigten zur Akteneinsicht in dessen Geschäftsräumen überlassen werden können, ist eine Ermessensentscheidung. Dabei sind die gegen eine Aktenversendung sprechenden Interessen (insbesondere Vermeidung von Aktenverlusten, Wahrung des Steuergeheimnisses, jederzeitige Verfügbarkeit der Akten) den Interessen des Prozessbevollmächtigten (insbesondere Kosten- und Zeitersparnis) gegenüberzustellen (ständige Rechtsprechung, vgl. Beschlüsse des BFH vom 11. Juni 2002 V B 5/02, BFH/NV 2002, 1464; vom 19. November 2002 V B 166/01, BFH/NV 2003, 484; vom 26. Januar 2006 III B 166/05, BFH/NV 2006, 963; in BFH/NV 2008, 1695, jeweils m.w.N.). Die Abwägung hat dabei das Regel-Ausnahme-Verhältnis zu beachten, wonach die Übersendung die Ausnahme und daher auf eng begrenzte Sonderfälle zu beschränken ist. Ein derartiger Sonderfall kann anzunehmen sein, wenn ein Beteiligter oder sein Prozessbevollmächtigter körperlich behindert ist (BFH-Beschlüsse vom 29. April 1987 VIII B 4/87, BFH/NV 1987, 796; vom 19. Juni 1991 VIII B 145/90, BFH/NV 1992, 184). Diese Grundsätze gelten nicht nur für die Übersendung von Steuerakten, sondern auch von Kindergeldakten (Senatsbeschluss in BFH/NV 2006, 963).
c) Der BFH ist nicht auf eine Überprüfung der Ermessensausübung durch das FG beschränkt, da § 102 FGO nur für die gerichtliche Überprüfung von Ermessensentscheidungen von Behörden gilt, nicht aber für die Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen. Er ist als Beschwerdegericht Tatsacheninstanz und deshalb gehalten, eigenes Ermessen auszuüben (Senatsbeschluss in BFH/NV 2008, 1695, m.w.N.).
3. Im Streitfall übt der Senat sein Ermessen dahin aus, dass die Akteneinsicht in den Räumen der Kanzlei gewährt werden soll, der Rechtsanwalt BK angehört. Der mit der Sache betraute Rechtsanwalt BK ist auf den Rollstuhl angewiesen und auf Dauer in seiner Mobilität erheblich beeinträchtigt. Es liegt ein Fall vor, bei dem nach den BFH-Beschlüssen in BFH/NV 1987, 796 und in BFH/NV 1992, 184 eine Aktenübersendung in die Kanzleiräume ausnahmsweise ermessensgerecht ist. Eine Akteneinsicht durch einen Kanzleikollegen, wie sie vom FG als zumutbar angesehen wurde, ist im Hinblick auf die vorgetragenen Gründe keine angemessene Alternative.
4. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen. Das Verfahren über die Gewährung von Akteneinsicht ist ein unselbständiges Nebenverfahren. Wird erfolgreich Beschwerde eingelegt, gehen die Kosten in die Gesamtkosten des Hauptverfahrens ein, über die nach § 143 Abs. 1 FGO in der verfahrensabschließenden Entscheidung zu befinden ist (BFH-Beschluss vom 17. März 2008 IV B 100, 101/07, BFH/NV 2008, 1177).
Ende der Entscheidung
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