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Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 03.08.2000
Aktenzeichen: III B 179/96
Rechtsgebiete: FGO, AO 1977
Vorschriften:
FGO § 74 | |
AO 1977 § 155 Abs. 2 | |
AO 1977 § 162 Abs. 3 | |
AO 1977 § 175 Abs. 1 |
1. Bei Streit über die Rechtmäßigkeit eines Steuerbescheides, der von einem noch ausstehenden oder noch nicht bestandskräftigen Grundlagenbescheid abhängig ist, kann aus prozessökonomischen Gründen ausnahmsweise eine Aussetzung des Klageverfahrens nicht geboten sein oder ein ausgesetztes Verfahren wieder aufgenommen werden.
2. Bestreitet der Kläger allerdings substantiiert, dass von der Feststellung in dem Grundlagenbescheid abhängige Besteuerungsgrundlagen in dem Steuerbescheid (Folgebescheid) in der richtigen Höhe angesetzt worden sind, muss der Kläger entweder in Höhe des substantiierten Bestreitens vom FA klaglos gestellt werden oder das Verfahren muss (ggf. erneut) ausgesetzt werden.
FGO § 74 AO 1977 §§ 155 Abs. 2, 162 Abs. 3, 175 Abs. 1
Beschluss vom 3. August 2000 - III B 179/96 -
Vorinstanz: Hessisches FG
Gründe
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) hat im Jahre 1986 Klage gegen die Einspruchsentscheidung zu Änderungsbescheiden vom 15. August 1985 betreffend die Einkommensteuerfestsetzung für die Jahre 1972 und 1973 (Streitjahre) erhoben. Grund für die Änderungsbescheide waren eine im Jahre 1984 erfolgte Betriebsprüfung bei der Unternehmensgruppe M GmbH & Co. KG und daraufhin ergangene Grundlagenbescheide. Der Kläger war an dieser Unternehmensgruppe beteiligt.
Der Kläger machte mit seiner Klage gegen die für die Streitjahre als Folgebescheide zu den Grundlagenbescheiden ergangenen Änderungsbescheide in der Gestalt der Einspruchsentscheidung neben Bekanntgabemängeln und anderen formellen Einwendungen u.a. geltend, dass ihm in den Grundlagenbescheiden Einkünfte zugerechnet worden seien, die einem anderen Beteiligten zuzurechnen seien. Außerdem sei aus den Folgebescheiden nicht ersichtlich, ob ein in einem der Grundlagenbescheide festgestellter Verlustanteil berücksichtigt worden sei. Schließlich sei der Verlust nicht berücksichtigt worden, der ihm --dem Kläger-- aus dem Verkauf der wesentlichen Beteiligung (40 %) an der Firma M GmbH im November 1973 entstanden sei.
Das Finanzgericht (FG) setzte mit Beschluss vom 23. Juni 1994 das Verfahren bis zum Ergehen der Gewinnfeststellungsbescheide bzw. deren Bestandskraft über die Beteiligungen des Klägers an der M GmbH & Co. KG durch das Finanzamt für Körperschaften X aus, weil die Entscheidung über den Rechtsstreit von den noch zu erlassenden Feststellungsbescheiden abhängig sei. Auf eine vom Kläger veranlasste Anfrage des FG teilte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) im Jahre 1996 mit, dass der Kläger in den Streitjahren an acht KG der M GmbH & Co. KG beteiligt gewesen sei. Für fünf dieser Gesellschaften seien die Gewinnfeststellungsbescheide u.a. für die Streitjahre ersatzlos aufgehoben worden. Die Entscheidung über die ebenfalls anhängigen Verfahren der anderen drei Gesellschaften (u.a. die Verwaltungsgesellschaft) seien nach Angaben des für die Gewinnfeststellungen zuständigen FA zeitlich nicht absehbar.
Mit dem angegriffenen Beschluss vom 12. August 1996 ordnete das FG daraufhin den Fortgang des Klageverfahrens an. Zur Begründung führte es aus, dass die abgewarteten Gewinnfeststellungsbescheide inzwischen überwiegend erlassen worden seien. Da der Erlass der übrigen Bescheide nach Mitteilung des Betriebsfinanzamts zeitlich nicht absehbar sei, sei dem Verfahren Fortgang zu geben.
Gegen den Beschluss erhob der als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater postulationsfähige Kläger persönlich Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen hat. Zur Begründung führten zunächst er und dann später sein Prozessbevollmächtigter aus, dass ein Teil der Feststellungsbescheide noch nicht ergangen sei. Dennoch wolle das FG das Verfahren fortführen. Dabei gehe das FG weiter von der Entscheidungserheblichkeit der Grundlagenbescheide aus, räume aber dem Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie den Vorrang ein. Die Aussetzung des Verfahrens sei erfolgt, weil für die Streitjahre ein Änderungsbescheid für die M GmbH & Co. KG Verwaltungsgesellschaft und eine weitere KG der Unternehmensgruppe noch nicht ergangen sei. Dass für die anderen KG der Gruppe die Änderungsbescheide erlassen worden seien, sei unerheblich. Bei der Verwaltungsgesellschaft gehe es im Gegensatz zu den anderen Gesellschaften darum, ob positive Einkünfte angefallen seien.
Einen ausdrücklichen Antrag hat der Kläger nicht gestellt.
Das FA beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
Zur Begründung führt es aus, das FG habe zwar mit Beschluss vom 23. April 1994 das Klageverfahren wegen fehlender Feststellungsbescheide ausgesetzt. Von einer Entscheidungserheblichkeit der ausstehenden Feststellungsbescheide könne aber nicht gesprochen werden, da ein Steuerbescheid gemäß § 175 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern sei, soweit ein Grundlagenbescheid erlassen, aufgehoben oder geändert werde. Sobald die noch anhängigen Verfahren des Klägers bezüglich seiner Beteiligungen entschieden und entsprechende Mitteilungen ergangen seien, erfolge von Amts wegen eine Änderung der angefochtenen Bescheide. Die aufgrund der Feststellungen ergehenden Mitteilungen könnten somit keine unmittelbare Einflussnahme auf das Klageverfahren haben.
Die Beschwerde ist unbegründet.
1. Nach § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann ein Verfahren ausgesetzt werden, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen Rechtsstreits bildet oder von einer anderen Verwaltungsbehörde als der beklagten Behörde festzustellen ist. Die Entscheidung des FG über die Aussetzung des Verfahrens ist eine Ermessensentscheidung.
Da nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) die Klage gegen den Folgebescheid auch insoweit zulässig ist, als Einwendungen gegen den Grundlagenbescheid erhoben werden und eine zunächst unbegründete Klage durch eine Änderung des Grundlagenbescheides begründet werden kann, ist es nach ständiger Rechtsprechung des BFH allerdings regelmäßig geboten und zweckmäßig, dass das FG den Streit um die Rechtmäßigkeit eines Folgebescheids aussetzt, solange noch unklar ist, ob und wie der angegriffene Grundlagenbescheid geändert wird (u.a. BFH-Beschluss vom 2. Dezember 1988 IX B 18/88, BFH/NV 1989, 525, m.w.N.). Das gilt auch, wenn die Finanzbehörde zunächst einen Steuerbescheid (Folgebescheid) erlassen hat und der Grundlagenbescheid noch nachgeholt werden soll (vgl. u.a. BFH in BFH/NV 1989, 525; BFH-Urteil vom 7. November 1996 IV R 72/95, BFH/NV 1997, 574).
2. Die Pflicht zur Verfahrensaussetzung bei Abhängigkeit des Folgebescheids von einem Grundlagenbescheid gilt aber nur für den Regelfall. Ausnahmsweise kann deshalb trotz ausstehender Entscheidung über einen Grundlagenbescheid keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegen und daher eine Fortführung des Verfahrens ermessensgerecht sein (vgl. BFH in BFH/NV 1989, 525). Im Streitfall ist eine Ausnahme gegeben, die eine Fortführung des Verfahrens nicht als ermessensfehlerhaft erscheinen lässt, obwohl noch nicht alle Grundlagenbescheide ergangen bzw. bestandskräftig geworden sind, die für die mit der Klage angegriffenen Steuerbescheide Bedeutung haben können.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich um sehr weit zurückliegende Streitjahre handelt. Außerdem war im Jahre 1996, als das FG über die Fortsetzung des Klageverfahrens entschied, der größte Teil der Grundlagenbescheide, wegen derer das Verfahren ausgesetzt worden war, bereits ergangen. Wann der restliche Teil der Grundlagenbescheide bestandskräftig werden konnte, war noch nicht abzusehen. Mittlerweile sind weitere Jahre verflossen, ohne dass alle Grundlagenbescheide ergangen sind. Unter diesen besonderen Umständen kann es nicht als ermessensfehlerhaft angesehen werden, wenn das FG im Interesse der Prozessökonomie und des Rechtsfriedens das Verfahren fortführt.
3. Der Kläger ist damit nicht schutzlos gegen eine zu hohe Steuerfestsetzung, die möglicherweise später bei Ergehen bzw. Bestandskraft der noch ausstehenden Grundlagenbescheide nach unten korrigiert werden muss.
Wenn das FA nach § 155 Abs. 2 AO 1977 einen Folgebescheid vor dem Grundlagenbescheid erlässt, muss es sich zunächst an der Erklärung des Steuerpflichtigen orientieren (Klein/Rüsken, Abgabenordnung, 7. Aufl., § 155 Rz. 41, m.w.N.). Zwar kann es dann nach § 162 Abs. 3 AO 1977 die Besteuerungsgrundlagen, die durch den Grundlagenbescheid festzustellen sind, in dem vorher ergehenden Folgebescheid abweichend von der Erklärung des Steuerpflichtigen schätzen. Entsteht daraufhin aber Streit über diese Schätzung und kommt es u.a. oder allein wegen dieses Streits zum Klageverfahren, hat das FG das Klageverfahren nach den oben dargelegten Grundsätzen bis zum Ergehen des Grundlagenbescheides und seiner Bestandskraft auszusetzen.
Entsprechend ist zu verfahren, wenn wie im Streitfall das FA aufgrund eines Grundlagenbescheids einen Folgebescheid erlassen hat, dieser Grundlagenbescheid aber mit Rechtsmitteln angegriffen wird und der Folgebescheid zudem von weiteren noch nicht ergangenen oder noch nicht bestandskräftigen Grundlagenbescheiden abhängig ist. Der Kläger gegen den Folgebescheid muss dann vom beklagten FA durch einen Änderungsbescheid bezüglich der noch nicht durch bestandskräftige Grundlagenbescheide festgestellten Besteuerungsgrundlagen in Höhe seines substantiierten Bestreitens (vorläufig) klaglos gestellt werden oder das gesamte Verfahren muss bis zum Ergehen und der Bestandskraft der Grundlagenbescheide ausgesetzt werden. Dieser Rechtslage entspricht der Beschluss des FG über die Aussetzung des Verfahrens im Jahre 1994.
Diese Grundsätze gelten dann aber auch im Hinblick auf noch ausstehende Grundlagenbescheide oder deren Bestandskraft, wenn das FG, wie im Streitfall, mit dem angefochtenen Beschluss ein zunächst ausgesetztes Verfahren wieder aufnimmt, weil ein Teil der Grundlagenbescheide über die festzustellenden Besteuerungsgrundlagen mittlerweile ergangen bzw. bestandskräftig geworden ist.
4. Für die Fortführung des Klageverfahrens im Streitfall bedeutet dies, dass das FG dabei klären muss, ob und wie weit im Klageverfahren nunmehr nach Ergehen eines großen Teils der Grundlagenbescheide noch Besteuerungsgrundlagen streitig sind, die in den anderen noch nicht ergangenen oder nicht bestandskräftigen Grundlagenbescheiden festzustellen sind, und ob die Entscheidung des Streitfalls von diesen Streitfragen abhängig ist. Gibt es solche Streitfragen nicht mehr, kann der Rechtsstreit entschieden werden.
Der Vortrag des Klägers, es seien alle Grundlagenbescheide und deren Bestandskraft abzuwarten, ehe über den Folgebescheid entschieden werden dürfe, reicht allein nicht aus, um Streitfragen über Besteuerungsgrundlagen offen zu halten, die in den noch nicht abgeschlossenen Verfahren über Grundlagenbescheide festzustellen sind. Der Kläger muss vielmehr substantiiert bestreiten, dass von der Feststellung in den noch ausstehenden bzw. noch nicht bestandskräftigen Grundlagenbescheiden abhängige Besteuerungsgrundlagen in dem angegriffenen Steuerbescheid in der richtigen Höhe angesetzt worden sind. Dazu muss er angeben, ob und um wie viel Gewinne aus Beteiligungen, für die bestandskräftige Grundlagenbescheide noch nicht vorliegen, zu Unrecht oder zu hoch veranschlagt worden sind und welche Verluste und in welcher Höhe aus solchen Beteiligungen noch nicht berücksichtigt worden sind. Ergibt sich ein derartiges substantiiertes Bestreiten aus dem bisherigen oder noch folgendem Vortrag des Klägers nicht, ist der Rechtsstreit ebenfalls entscheidungsreif.
Bleiben dagegen Besteuerungsgrundlagen (substantiiert) streitig, die in den noch ausstehenden oder nicht bestandskräftigen Grundlagenbescheiden festzustellen sind, muss der Kläger insoweit vom FA (vorläufig) klaglos gestellt oder das Verfahren muss erneut bis zur Bestandskraft der betreffenden Grundlagenbescheide ausgesetzt werden. Soweit der Kläger klaglos gestellt wird, ist es dann Sache des FA, den (geänderten) Steuerbescheid später nach § 175 Abs. 1 AO 1977 zu Ungunsten des Klägers erneut zu ändern, wenn ein weiterer bestandskräftiger Grundlagenbescheid ergeht und sich daraus höhere Besteuerungsgrundlagen ergeben.
Jedenfalls kann es --entgegen der Auffassung des FA-- nicht angehen, dass das FG Besteuerungsgrundlagen, die von der Feststellung in einem noch ausstehenden oder nicht bestandskräftigen Grundlagenbescheid abhängen, in der vom FA im Folgebescheid angenommenen Höhe trotz Streits darüber bestätigt. Ein solches Vorgehen rechtfertigt auch nicht § 175 Abs. 1 AO 1977, wonach der Steuerbescheid später bei Ergehen eines Grundlagenbescheides mit einer für den Steuerpflichtigen günstigeren Feststellung von Besteuerungsgrundlagen geändert werden müsste. Anderenfalls könnte der Steuerpflichtige auf Grund eines möglicherweise rechtskräftig werdenden Urteils zu hoch besteuert werden, und er müsste abwarten, ob und wann das für den Grundlagenbescheid zuständige FA für ihn günstigere Besteuerungsgrundlagen feststellen würde. Das Risiko, ob und wann später ein noch ausstehender Grundlagenbescheid ergeht und ob er sich zu Gunsten oder zu Ungunsten des Steuerpflichtigen auswirkt, kann nicht beim Steuerpflichtigen, sondern muss bei der Finanzverwaltung liegen, die den Grundlagenbescheid zu erlassen hat.
Ende der Entscheidung
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