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Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 28.07.2008
Aktenzeichen: III B 4/08
Rechtsgebiete: AO, EStG


Vorschriften:

AO § 173
AO § 173 Abs. 1 Nr. 1
AO § 173 Abs. 1 Nr. 2
EStG § 32 Abs. 4 Satz 2
EStG § 70 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) bezog für ihre im Jahr 1985 geborene, in Berufsausbildung befindliche Tochter (T) Kindergeld. Mit Bescheid vom 22. April 2005 hob die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2005 auf, weil die voraussichtlichen Einkünfte der T aus nichtselbständiger Arbeit den maßgeblichen Jahresgrenzbetrag im Jahr 2005 von 7 680 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der für das Jahr 2005 geltenden Fassung --EStG--) überschreiten würden. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Mit Schreiben vom 23. Mai 2005, bei der Familienkasse eingegangen am 31. Mai 2005, bat die Klägerin zu prüfen, ob ihr nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) Kindergeld zustehe. Nach Vorlage einer erneut ausgestellten Ausbildungsbescheinigung vom 8. Juli 2005, in der erstmals die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung ausgewiesen waren, ermittelte die Familienkasse unter Berücksichtigung dieser Arbeitnehmeranteile Einkünfte und Bezüge der T, die den Grenzbetrag unterschritten.

Die Familienkasse setzte daraufhin Kindergeld für T ab Mai 2005 fest. Wegen der Bestandskraft des Bescheids vom 22. April 2005 könne das Kindergeld nicht rückwirkend festgesetzt werden. Der Einspruch blieb erfolglos.

Während des Klageverfahrens wies das Finanzgericht (FG) auf die Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 28. Juni 2006 III R 13/06 (BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714), vom 28. November 2006 III R 6/06 (BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717) und vom 8. Februar 2007 III B 136/06 (BFH/NV 2007, 902) hin. Nachdem die Beteiligten auf mündliche Verhandlung verzichtet hatten, teilte das FG mit (Schreiben vom 23. August 2007), der Aufhebungsbescheid sei materiell-rechtlich falsch, da die am 11. Januar 2005 ergangene Entscheidung des BVerfG bei Erlass des Bescheids am 22. April 2005 noch nicht berücksichtigt worden sei. Es sei daher über eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) zu entscheiden. Das FG gab Gelegenheit, zu dieser Rechtsauffassung Stellung nehmen. Die Familienkasse antwortete daraufhin, die Entscheidung des BVerfG sei erst durch die Pressemitteilung vom 13. Mai 2005 bekannt geworden.

Das FG wies die Klage ab. Es führte aus, nach den Urteilen des BFH in BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714, in BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717, und vom 10. Mai 2007 III R 103/06 (BFHE 218, 147, BFH/NV 2007, 1581) könne der Bescheid vom 22. April 2005 nicht nach § 70 Abs. 4 EStG geändert werden. Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sei ebenfalls nicht möglich, weil die Tatsache, dass T Sozialversicherungsbeiträge abgeführt habe, der Familienkasse nicht nachträglich bekannt geworden sei. Denn es sei allgemein bekannt, dass auch Auszubildende grundsätzlich Beiträge zu Sozialversicherungen leisteten.

Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin geltend, das Urteil des FG beruhe auf einem Verfahrensfehler. Das FG habe durch den Erlass einer Überraschungsentscheidung ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Es habe seine Rechtsauffassung mitgeteilt, dass es sich bei dem Nachweis der Sozialversicherungsbeiträge um eine neue Tatsache handle. Von dieser Rechtsauffassung sei das FG ohne vorherigen richterlichen Hinweis abgewichen.

Das Urteil weiche außerdem von dem BFH-Beschluss in BFH/NV 2007, 902 ab (§ 115 Abs. 2 Nr. 2. Alternative 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Danach sei eine Änderung nach § 70 Abs. 4 EStG nur dann ausgeschlossen, wenn sich die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nach Erlass des Aufhebungsbescheids geändert habe. Im Streitfall sei die Entscheidung des BVerfG aber bereits vor Erlass des Aufhebungsbescheids ergangen. Der Rechtsstreit könne auch von grundsätzlicher Bedeutung sein.

II. Die Beschwerde ist unbegründet und wird durch Beschluss zurückgewiesen (§ 132 FGO).

1. Eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) kommt --unabhängig davon, ob die Klägerin den Zulassungsgrund ordnungsgemäß dargelegt hat (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO)-- nicht in Betracht, da die Frage, inwieweit ein bestandskräftiger Kindergeldbescheid bei nachträglich geltend gemachten Sozialversicherungsbeiträgen nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO änderbar ist, durch die Rechtsprechung geklärt ist.

Nach ständiger Rechtsprechung des BFH kann ein Bescheid trotz nachträglicher Kenntnis einer neuen Tatsache nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO korrigiert werden, wenn die Behörde auch bei Kenntnis der betreffenden Tatsache im Zeitpunkt der ursprünglichen Festsetzung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu keiner anderen als der tatsächlich getroffenen Entscheidung gekommen wäre (Senatsurteil in BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714).

Ebenfalls geklärt ist, dass es für die Beurteilung, ob die Behörde in Bezug auf die Sozialversicherungsbeiträge keine andere Entscheidung getroffen hätte, nicht auf das Datum der Entscheidung des BVerfG vom 11. Januar 2005 ankommt, sondern auf das Datum der Bekanntgabe durch das BVerfG mit der Pressemitteilung vom 13. Mai 2005 (Senatsurteil vom 19. Oktober 2006 III R 31/06, BFH/NV 2007, 392).

2. Ein die Zulassung der Revision rechtfertigender Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) liegt ebenfalls nicht vor. Das FG hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) nicht durch den Erlass einer Überraschungsentscheidung verletzt.

Eine Überraschungsentscheidung liegt nur dann vor, wenn das Gericht sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste. Das FG ist aber nicht verpflichtet, die maßgebenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte mit den Beteiligten vorher umfassend und im Einzelnen zu erörtern oder ihnen die einzelnen für die Entscheidung erheblichen Gesichtspunkte, Schlussfolgerungen oder das Ergebnis einer Gesamtwürdigung im Voraus anzudeuten oder mitzuteilen (z.B. BFH-Beschluss vom 18. Dezember 2007 XI B 178/06, BFH/NV 2008, 562, m.w.N.).

Das FG hat seine Entscheidung nicht auf einen vorher nicht erörterten Gesichtspunkt gestützt. Es hat die Klägerin auf die für den Streitfall einschlägigen Entscheidungen des BFH in BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717 (zur Änderbarkeit von Prognoseentscheidungen) und in BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714 (zu den Voraussetzungen einer Änderung nach § 173 AO) hingewiesen und im Schreiben vom 22. April 2005 Gelegenheit gegeben, dazu Stellung zu nehmen, dass eine Änderung nach § 173 AO in Betracht komme, weil der Kindergeldbescheid --abweichend von den Sachverhalten der bis dahin ergangenen BFH-Entscheidungen-- erst nach Erlass des BVerfG-Beschlusses aufgehoben worden sei.

Auch wenn im Streitfall die Entscheidung der Einzelrichterin übertragen worden war, die allein über die Klage entscheidet, handelt es sich bei einem solchen Schreiben nur um eine vorläufige, unverbindliche Meinung, die den Beteiligten bekanntgegeben wird, damit sie ihre Rechtsauffassung dazu äußern können. Die Klägerin konnte nicht darauf vertrauen, dass die Einzelrichterin nicht möglicherweise ihre Meinung --beispielsweise aufgrund der von der Familienkasse mitgeteilten Rechtsauffassung-- ändern würde. Kommt die Einzelrichterin bei der endgültigen Entscheidung zu einem anderen rechtlichen Ergebnis, muss sie dies nicht vorher mitteilen.

Ende der Entscheidung

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